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Der "Erfinder des Features"

Als Romancier und Erzähler eine der gediegensten und respektierten Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur, schrieb Alfred Andersch seinen umstrittensten und bekanntesten Text als Gelegenheitslyriker. Vor dem Hintergrund des Radikalenerlasses überblendete er in dem Gedicht "Artikel 3" die Bundesrepublik mit dem Dritten Reich und hatte, mitten in den 70er Jahren, den Gasgeruch der Nazizeit noch einmal in der Nase.

Von Christian Linder |
    Ein Sturm der Entrüstung ging durch Deutschland. Dass da aber jemand tief aus seiner inneren Empfindung gesprochen hatte, konnte selbst der kritischste Andersch-Leser wissen. Beglaubigt war diese Empfindung durch eine Biographie, die Andersch in seinem 1952 erschienenen Bericht "Die Kirschen der Freiheit" skizziert hatte. Ein junger Mann, geboren 1914 in München, sah sich durch die Nazizeit in seinen Lebensmöglichkeiten behindert.

    Frühe Opposition, Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes, Verhaftung, Einweisung in das Konzentrationslager Dachau, nach der Entlassung Flucht in eine Buchhändlerlehre, Arbeit als Verlagsangestellter und Werbeleiter, seit 1940 Soldat in Hitlers Armee – und erneute Flucht, im Juni 1944, in Italien. Kurz nach dieser Desertion und Rückkehr aus dem amerikanischen Gefangenenlager begann für Alfred Andersch, Mitbegründer der Nachkriegszeitschrift "Der Ruf" und führender Kopf der Gruppe 47, die Suche nach den "Kirschen der Freiheit" in der Wildnis.

    Ich ziehe mich gerne in Wildnisse zurück. Ich meine damit die
    Uferlinie des Wattenmeeres bei Kampen, sich zu den Dünen aufschwingend, hinter denen der Donner der Oktoberbrandung sich ankündigt, ich meine die Felsen von Cap Finistère, das Tal der oberen Tet in den Ostpyrenäen, die Reiher der Camargue, die Ahornbäume am Fuße der Laliderer Wände, die Schafherden der Montagne de Lure, die zerschossenen Wälder auf dem Kamm der Schnee-Eifel.


    Die Schnee-Eifel kannte Andersch von Besuchen bei seiner späteren Ehefrau Gisela, die in den 40er Jahren in der Nähe vom Prüm lebte. In der Eifel, auf Burg Kerpen, wohnten die Anderschs auch in den frühen Nachkriegsjahren. Alfred Andersch pendelte damals zwischen der Burg und Frankfurt, wo er – später auch in Hamburg und Stuttgart - als Rundfunkredakteur arbeitete, bald berühmt als Erfinder des "Features", offen für alle intellektuellen Experimente und technischen Möglichkeiten. Ein Mann, der die Widersprüche liebte.

    Da konnte der politisch links stehende Andersch sich als einer der größten Bewunderer des rechten Ernst Jünger bekennen, des "Waldgängers". Ja, die Freiheit lebt in der Wildnis. Von seinen Expeditionen in diese Wildnis hat Andersch auch in zahlreichen Reisebüchern wie etwa "Wanderungen im Norden" Zeugnis abgelegt. Dieser alte Traum von Aufbruch und Wegsein. Der Junge in dem 1957 erschienenem Roman "Sansibar oder der letzte Grund "möchte ihm auch folgen.

    Der Mississippi wäre das Richtige, dachte der Junge, wenn es stimmte, was im Huckleberry Finn stand. Er sah vom Buch auf, unter der Brücke floss das Wasser still und langsam durch; die Weide, unter der er saß, hing ins Wasser rein, und gegenüber, in der alten Gerberei, regte sich, wie immer, nichts. Der Mississippi wäre besser als die Speicher in der alten, verlassenen Gerberei und die Weide am langsamen Fluß. Auf dem Mississippi wäre man weg, während man sich auf den Speichern der Gerberei und unter der Weide nur verstecken konnte.

    Das Buch, eine an der Ostsee spielende Fluchtgeschichte aus dem Dritten Reich, wurde bald Schullektüre und gelesen als Entfaltung des Leitmotivs, das Andersch in "Die Kirschen der Freiheit" zum ersten Mal genannt hatte: dass Freiheit verwirklicht werden kann nur in Augenblicken, in denen jemand sich aus dem Schicksal herausfallen läßt, und dass diese Freiheit nicht länger als ein paar Atemzüge dauert.


    Am umfassendsten hat er ein solches alternatives Lebenskonzept durchgespielt in dem 1974 erschienenen Roman "Winterspelt", der ihn in die Schnee-Eifel zurückführte. Oktober 1944 in dem kleinen Ort Winterspelt, kurz vor der Ardennen-Offensive. Ein deutscher Offizier, Major Dincklage, plant, nicht nur in Gedanken, eine kollektive Desertion seiner Einheit. Dahinter steht der Wunsch, Grenzen nicht zu überschreiten, um fremdes Terrain zu erobern, sondern Grenzsituationen aufzusuchen, weil in ihnen Wege unsicher werden und die Unterscheidung zwischen Nähe und Ferne aufgehoben ist und die Ferne sich in der Nähe zeigen kann.

    Verschwinden des poetischen Gefühls der Ferne aus der Kunst ... Die Ferne ist nicht identisch mit dem Exotischen ... Man kann die Ferne in der nächsten Nähe aufsuchen ... Poesie ist Gefühl der Ferne, oder sie ist keine.

    Gestorben ist Alfred Andersch am 21. Februar 1980. Begraben liegt er in Berzona, einem Bergdorf im Tessin, wohin er in den 50er Jahren gezogen war.