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Der Ernst Jandl Tschechiens

DLF: Hirsal war, so sagte der Prager Autor Radim Kopac, "eine der letzten Brücken" zwischen der tschechischen Avantgarde vor dem ersten Weltkrieg, den sechziger Jahren und der Gegenwartsliteratur. Tomas Kafka, Sie kannten Hirsal gut. War er derjenige, der das 20. Jahrhundert in Tschechien literarisch zusammengehalten hat?

Tomas Kafka im Gespräch |
    Kafka: Auf jeden Fall war Hirsal derjenige, der dem Literarischen nicht nur eine Art Seele eingehaucht hat, sondern auch einen Sinn, denn es gab nicht nur eine bestimmte Verstümmelung des literarischen Lebens infolge von unterschiedlichen politischen Interventionen, sondern auch die Literatur, vor allem aber die Dichtung suchte immer wieder auch nach einer bestimmten Begründung, Selbstbehauptung, und Hirsal hat so gedichtet und gelebt, dass in ihm der Anspruch auf Ernsthaftigkeit der Lyrik quasi verkörpert werden konnte.

    DLF: Ist er im positiven Sinne so etwas wie ein nationales Monument in Tschechien gewesen?

    Kafka: Nationales Monument ist vielleicht gut gemeint, aber diese Würdigung ist für Hirsal schwierig zu akzeptieren, weil Hirsal einen enormen Wert darauf legte, die fremdsprachige Literatur in die tschechische hineinzuführen. Er war ein Übersetzer par excellence und in dieser Hinsicht auch ein Weltbürger. Deswegen glaube ich, dass er mächtig protestieren würde, wenn wir vom nationalen Monument sprechen.

    DLF: Er hat sehr gute Kontakte in den Westen gehabt, selbst zu Zeiten, in denen es das gab, was immer der Eiserne Vorhang geheißen hat. Wie konnte es ihm gelingen, Literatur aus dem Westen, aus Deutschland nach Tschechien zu bringen?

    Kafka: Das war vor allem der Hunger der 50er Jahre, wo die Leute die Herrschaft ein für allemal eingesehen hatten, also dass hier die Ideologien der Massen brutal um sich herumschlagen, so dass er in der ausländischen Literatur einen quasi intimen Verbündeten gefunden hat. Das war der Anfang seiner Strategie und auch seiner Hartnäckigkeit, diesen Verbündeten hier in der Tschechischen Republik gebührend einzuführen, zu etablieren, und in den 60er Jahren war es nicht nur der Traum, sondern auch die Möglichkeit, diese damals vielleicht noch mehr gleichzeitige literarische Koexistenz zum Beispiel zwischen der deutschen und der tschechischen Avantgarde oder Moderne nicht nur zu predigen, sondern sogar zu leben. Ich bin sehr stolz darauf, dass auch mein Vater dabei war, gemeinsam mit Hirsal. Sie waren, sofern ich weiß, die ersten, die die Übersetzung der Gedichte von Hans-Magnus Enzensberger in eine Fremdsprache organisiert haben. Ich glaube, solche Leistungen müssen Hirsal einfach hoch angerechnet werden, dass er in dieser Hinsicht wirklich in der literarischen Kontextualität keine Grenzen kannte und auch akzeptierte.

    DLF: Was aber zum Beispiel - Sie haben das Beispiel Hans-Magnus Enzensberger erwähnt - nie eine kritiklose Übersetzung oder Übertragung bedeutet hat. Hirsal muss wohl über Enzensberger und seine sozialistischen Utopien in frühen Gedichtbänden gesagt haben, er merkt vielleicht gar nicht, dass das, was er da propagiert, eigentlich sehr genau dem entspricht, unter dem wir hier leiden, das heißt, auf die Unterschiede in den Produktionsbedingungen und in den Auswirkungen hat er immer hingewiesen.

    Kafka: Auf jeden Fall. Hirsal war ein begnadeter Erzähler, und ich kann immer wieder seine Stimme im Ohr hören, wie er gesagt hat, na ja, bei Enzensberger war es immer so, er wusste immer alles am besten und war sehr fortschrittlich bis zu dem Moment, wo er bei uns vielleicht dem ersten Ostdeutschen begegnet ist, und auf einmal war alles anders. Also jedenfalls war Hirsal nicht derjenige, der sich mit Enzensberger vielleicht ideologisch anlegen würde. Er hatte mehr Sinn und Gefühl für die Skurrilitäten, die manchmal in den Einstellungen der westdeutschen Linke quasi vorprogrammiert waren, sie beim Namen zu nennen wie ein Erzähler und Dichter und Mensch, also mit dem Sinn für das Fabulieren. Er war eher ganz schlagfertig, so dass er manche Torheiten der vielleicht damals zu ideologisch denkenden Linken durchgehen ließ.

    DLF: Er hat einmal gesagt, er habe sich in die konkrete Poesie als Dichter zurückgezogen, weil er etwas machen wollte, das absolut nicht missbraucht werden könnte. Ist ihm das gelungen? Hat er sich nie missbrauchen lassen?

    Kafka: Ich glaube, ja. Er wurde eher verschwiegen als missbraucht, aber bei all den technizistischen Ansatz wie Konkretismus usw. wie es die westeuropäischen Prediger von Konkretismus gemeint haben, Hirsal blieb bei alldem ein essentieller Dichter. Er konnte zwar Kopflyrik produzieren, aber irgendwie wurde es immer ein bisschen "verschmutzt" durch seine lyrische Ader oder Denkweise. Deswegen blieb Hirsal quasi ein Konkretist oder Avantgardist bis zum Ende seines Schaffens, aber zugleich war er ein ganz autonomer Dichter, absolut unabhängig auch von den Ismen, die er vielleicht bisweilen selbst mittragen und predigen wollte.

    DLF: Er hat viele junge Dichter positiv beeinflusst. Hinterlässt er trotzdem eine Lücke oder sind viele da, die seinen Platz einnehmen können?

    Kafka: Also er hat auf jeden Fall hier eine Riesenlücke hinterlassen, in erster Linie menschlich, und was seine Qualitäten als Dichter, Übersetzer etc. angeht, ja, das ist eigentlich mehr eine Art Erbschaft oder Herausforderung für uns.

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