Archiv


Der erschöpfte Versorgungsstaat

Woher kommt und wohin geht der deutsche Sozialstaat? Um diese Frage zu beantworten, hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung nach Erfurt eingeladen, und sich zugleich auf ein schwieriges Unterfangen eingelassen, denn: Den einen Sozialstaat gab es nicht.

Von Christian Forberg |
    Es ist eine Frage und ihre Folge, die zum Symbol des Schreckens für die europäischen Fürsten wurde: Warum essen sie keinen Kuchen? Die naive Frage wird Königin Marie Antoinette nachgesagt, als die Franzosen Hunger litten. Die Folge war die Revolution. Ein halbes Jahrhundert später wurde ein neues Gespenst beschworen: der Kommunismus. Das setzte konservative Denker, Kirchenmänner und Beamte in Bewegung, sagt Klaus Schönhoven, einst Professor für Zeitgeschichte in Mannheim:

    "Bevor die Revolution sich durchsetzt, so, wie sie prognostiziert wird, müssen wir gegensteuern. Wir müssen einen Sozialstaat von Staatswegen gründen und nicht auf die Revolution warten."

    Auch wenn es noch Jahre dauern sollte und es selbst unter Kanzler Bismarck Widerstände gab - das Deutsche Kaiserreich hat eine Pionierrolle bei der allmählichen Konstruktion eines Sozialstaates inne. Vor allem dank einer innovativen Ordnungsidee:

    "In den bismarckschen Versicherungssystemen haben sie in der Regel das Prinzip, dass beide Seiten - Arbeitgeber und Arbeitnehmer - Versicherungsleistungen erbringen müssen, um die Arbeitnehmer zu schützen. Das ist eine absolut innovative Idee - die gibt's in dieser Form nirgendwo sonst."

    Zu Arbeitgebern und Arbeitnehmern trat als dritte Kraft der Staat hinzu, der sich bis dahin nur um seine Beamten und Angestellten gesorgt hatte. Nun bekamen auch Arbeiter eine Rente - eine bescheidene und diese erst mit 70 Jahren. Zunächst lehnten Gewerkschaften und Sozialdemokraten die Versicherungen als nicht-erkämpftes Narrenparadies ab; erst nach 1900 wuchs die Akzeptanz, wenngleich die politischen Spannungen zwischen Kaiserreich und Arbeiterbewegung fortbestanden. Das änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg. Die Gewerkschaftsführungen schlossen einen Burgfrieden mit dem Staat und durften dafür im Betrieb mitbestimmen. Ein Zwiespalt: Auf der einen Seite brachte das zwar die Sozialpolitik voran, auf der anderen Millionen Arbeiter auf die Straße: Sie streikten gegen den Krieg. Das blieb nicht ohne Folgen, sagt der Hamburger Historiker Professor Karl Christian Führer:

    "Diese Unzufriedenheit der einfachen Arbeiter macht deutlich: Das ist ein eigenständiger Machtfaktor, der nicht nur am Gängelband der Gewerkschaftsführungen läuft. Das stärkt indirekt die Position der Gewerkschaften, weil die Arbeitgeber merken: Wir müssen hier sehr viel vorsichtiger sein, und gleichzeitig werden die Gewerkschaften organisatorisch stärker, weil sie nach dem Tief 1916 eine politische, eine organisatorische Macht mit fast drei Millionen Mitgliedern im Herbst 1918 darstellen."

    Was auch die Weimarer Verfassung beeinflusste und die Weimarer Republik mitgestalten sollte: Zwar blieben Privateigentum und individuelle wirtschaftliche Rechte erhalten, doch sollten sie dem Sozialwillen unterworfen sein, sollte Gemeinnutz vor Eigennutz gehen. Damit wollte man einen eigenen Weg zwischen dem sowjetischen Rätesystem und dem amerikanischen Kapitalismus gehen. Doch die Zeit war zu wirr und zu kurz - der Weimarer Sozialstaat ging nicht auf.

    Als "Grundlage von allem und für alles" sei die Arbeit erachtet worden, sagt Gunther Mai, Professor für Zeitgeschichte in Erfurt. Umso schlimmer wurde die Massenarbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise empfunden, und umso leichter gewannen die Nationalsozialisten Zuspruch:

    "Die ersten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Nazis waren keineswegs in der finanziellen Dimension größer als das, was am Ende der Weimarer Republik geplant worden ist. Aber die verschiedenen rasch wechselnden Kabinette haben das immer kleingeredet; dann ist das zwischen den Parteien und der Öffentlichkeit zerredet worden, sodass dieser psychologische Faktor des Umsteuerns zur Arbeitsbeschaffung - nicht immer nur sparen, sparen, sparen - einfach untergegangen ist."

    Nach dem Krieg ging das geteilte Deutschland auch in der Sozialpolitik geteilte Wege: Der westliche Teil habe zwei "wohlfahrtsstaatliche Expansionswellen" durchgemacht, wie es Michael Ruck, Geschichtsprofessor in Flensburg beschreibt. Die Leistungen wurden immer dann gesteigert, wenn es der Wirtschaft besonders gut ging, und das war bis Ende der 1960er-Jahre fast durchgehend der Fall. Darin unterschied sich das Prozedere nicht von dem früherer Zeit - die erste Arbeitslosenversicherung wurde 1927 in der kurzen Boom-Phase aufgelegt -, aber auch nicht von jüngeren Entwicklungen. Dieser Aufschwung sei quasi für immer, dachte man. Brach dann eine Wirtschaftskrise aus, wurde schnell die Unbezahlbarkeit der sozialen Wohltaten beklagt. - Hinzu kam, dass man auf Aktionen des "anderen Deutschlands" reagieren musste. Michael Ruck mit einem Beispiel aus dem Jahre 1961:

    "Das Bundessozialhilfegesetz und seine Vorläufermaßnahmen sind ganz ausdrücklich bezogen auf vorlaufende Maßnahmen in der DDR: 1955, als dort die Fürsorge zum Teil restrukturiert wurde."

    Dort, unter Herrschaft Ulbrichts, wurde der Begriff Sozialpolitik weitgehend vermieden. Wo ein Plan war, "brauchte man keine Sozialpolitik für die Wechselfälle des Lebens", interpretierte der Potsdamer Historiker Peter Hübner diese Haltung. Es sei ausreichend, das Arbeitskräfte-potenzial zu pflegen. Wie notwendig das war, belegte der 17. Juni 1953 mit seinen Massenstreiks. Er schwebte fortan als Mahnung über der SED, rechtzeitig auf die Belange der Werk-tätigen zu reagieren. Doch anscheinend nicht genug: Die DDR-Gewerkschaft erhob Einspruch gegen Ulbrichts Konzept, er selbst wurde im Frühjahr 1971 entmachtet. Dr. Hübner meint:

    "Ich glaube, es hätte ihn eine Weile getragen, das Konzept. Aber es ist innerhalb der SED instrumentalisiert worden gegen Ulbricht unter Hinweis auf die polnischen Vorgänge vor allem."

    1970 war es in Polen zu Unruhen gekommen, die zum Sturz der Regierung führten.

    "Und er hatte dann auf der Negativseite, dass auch die Investitionen nicht so schnell griffen, wie er sich das gewünscht hatte. Das kam dann der Honecker-Führung zugute."

    Dieser rief als Erstes die "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" aus. Doch die Ziele waren zu hoch gesteckt, die Bundesrepublik zu erfolgreich und die SED-Führung zu verlogen - die DDR wurde Geschichte. War sie überhaupt ein Sozialstaat? Beatrix Bouvier, bis vor Kurzem Leiterin des Karl-Marx-Hauses Trier, sagt Nein, auch wenn es soziale Elemente gab. Widerspruch kam von Christoph Boyer, Professor für europäische Zeitgeschichte in Salzburg.

    "In beiden Fällen sehen Sie einen Mechanismus am Werke, Defizite des - ich nenn es mal "primären Systemmechanismus" - Marktwirtschaft auf der einen Seite, Planwirtschaft auf der anderen Seite - zu reparieren. In diesen Hinsichten kann man in beiden Fällen von Sozialstaat sprechen. Es gibt sicherlich in beiden deutschen Staaten eine Mischung von Fürsorge und autoritärer Bevormundung."

    Was besonders im Osten weit mehr ausgeprägt gewesen sei. Doch Christoph Boyer will es nicht bei dieser Rückschau allein belassen:

    "Wenn man sich in der jüngsten Zeit ansieht, wie der deutsche Sozialstaat mit den Hartz-IV-Empfängern umgeht, dann, würde ich sagen, ist dieses Element der autoritären Bevormundung, das an die Armenfürsorge alten Stils erinnert, ziemlich stark."