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Der erste NSU-Mord aus Opfersicht

Enver Simsek war das erste Opfer des NSU, des Nationalsozialistischen Untergrunds. Seine Angehörigen wurden mit dem Verdacht konfrontiert, mit dem Mord etwas zu tun zu haben. Simyseks Tochter Semyia hat die Geschichte ihrer Familie mit dem Journalisten Peter Schwarz aufgeschrieben.

Von Claudia van Laak | 11.03.2013
    Opferbücher sind schwierig. Da versilbert jemand sein persönliches Schicksal. Die Verlage setzen auf den Voyeurismus der Leser. Diese lassen sich bei der Lektüre einen Schauer über den Rücken laufen ob des schrecklichen Schicksals und freuen sich, dass es ihnen gut geht. Opferbücher sind schwierig. Dieses ist es nicht. Es ist die Geschichte einer türkischen Migrantenfamilie, wie es sie zu Zehntausenden in Deutschland gibt. Ein aus einfachen Verhältnissen stammender Vater, der sich hocharbeitet – vom Malocher in der Fabrik zum Blumengroßhändler, vom Angestellten zum Arbeitgeber. Doch am 9. September 2000 endet diese Erfolgsgeschichte jäh. An einer Ausfallstraße in Nürnberg feuert jemand acht Schüsse aus nächster Nähe auf Enver Simsek, der gerade einen seiner Angestellten am Blumenstand vertritt. Der Unternehmer stirbt wenig später im Krankenhaus, hinterlässt eine Frau und zwei Kinder. Semiya Simsek ist zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt.

    "War mein Vater jetzt nur Zufallsopfer? Weil er einfach ausländisch aussieht, oder war es geplant?"

    Es wäre einfach gewesen, Enver Simsek als Helden darzustellen. Semiya Simsek verzichtet darauf, sie bleibt ehrlich. Die Autorin verschweigt nicht, dass Enver Simsek seinem Arbeitgeber Krankheit vorgaukelte, während er seine Selbstständigkeit vorbereitete. Und dass er Steuerschulden hatte. Diese Steuerschulden und der Tod des Ernährers bedeuten für die Simseks einen wirtschaftlichen Abstieg, Ehefrau Adile Simsek muss Sozialhilfe beantragen. Doch das ist nicht das Schlimmste. Neben der Trauer über den Verlust des geliebten Ehemannes und Vaters sind es die immer wiederkehrenden Verhöre, die das Leben der Familie belasten. Und es ist der Verdacht, der sich wie Gift in der Verwandtschaft, der Nachbarschaft, selbst im türkischen Heimatort Enver Simeks ausbreitet: Der Ermordete - ein Krimineller, Teil der türkischen Mafia, Drogenschmuggler?

    "In den folgenden Monaten trafen die Verdächtigungen uns mit immer größerer Wucht. Auch meinen Vater, über seinen Tod hinaus. Die Ermittlungen infizierten sein Leben nachträglich. Es war paradox: Brutal ermordet zu sein, verwandelte meinen Vater posthum in einen Verdächtigen."

    Von allen NSU-Opfern dürfte die Familie Simsek diejenige sein, die am stärksten drangsaliert wurde - war Enver Simsek doch das mutmaßlich erste Opfer der Zwickauer Terrorzelle. Bei jedem neuen Mord, begangen mit der Ceska 83, stehen die Ermittler wieder vor der Tür. Sie arbeiten mit Unterstellungen, zeigen Adile Simsek das Foto einer angeblichen Geliebten ihres Mannes.

    "Irgendwann fragt man sich: Woher kommt das, dass diese Polizisten das glauben? Jeder Mensch hat eine dunkle Seite. Irgendeinen Anhaltspunkt müssen die Ermittler doch haben, wenn sie das so sagen, es ist doch schließlich die Polizei. Eine Autorität."

    Die heute 26-jährige Sozialpädagogin Semiya Simsek hat das Buch gemeinsam mit dem Journalisten Peter Schwarz geschrieben. Von ihr stammen die persönlichen Schilderungen, Schwarz hat die Ermittlungsakten gelesen und ergänzt das Buch um diese Seite. Durch diese Kombination der beiden Schilderungen – typografisch voneinander abgesetzt – gewinnt das Buch.

    Wenn die Tochter des Ermordeten zum Beispiel schreibt, dass ihre Mutter - ganz der türkischen Gastfreundschaft verpflichtet - immer vorher kochte und backte, wenn die Beamten sich ankündigten. Und gleichzeitig aus den Ermittlungsakten klar wird, dass das Auto verwanzt, die Familie abgehört wurde. Die Ermittler aßen die türkischen Süßigkeiten, während sie gleichzeitig den Ermordeten und seine Familie für Verdächtige hielten. Bis heute hat sich niemand bei uns entschuldigt, klagt Semiya Simsek an.

    "Das macht mich eigentlich auch wütend, anstatt zu sagen: Entschuldigung, wir haben wirklich Scheiße gebaut und möchten das für die Zukunft ändern, wir möchten mehr professionell arbeiten. Und ich bin nicht so ein Mensch, der dann sagen würde, ich nehme Ihre Entschuldigung nicht an oder so. Ich würde sagen: Aha, das freut mich, schön, dass sie jetzt was für die Zukunft ändern wollen."

    Das Buch "Schmerzliche Heimat" lässt sich auch als Geschichte immerwährender Missverständnisse zwischen deutscher Mehrheits- und türkischstämmiger Minderheitsgesellschaft lesen. Es erzählt von Integrationsanstrengungen und von dem Gefühl, Deutsche und Ausländerin zugleich zu sein. Von der plötzlichen Erkenntnis im November 2011, dass neun Migranten von Rassisten ermordet wurden und niemand vorher Verdacht geschöpft hatte.

    "Fühl ich mich hier noch wohl? Bin ich hier wirklich zu Hause? Seh‘ ich das nur so oder empfinde ich das nur so oder bin ich es vielleicht doch gar nicht? Oder: Sind wir Türken oder Ausländer in Deutschland sicher?"

    Im April beginnt der NSU-Prozess, Semiya Simsek wird dort als Nebenklägerin auftreten. Sie hofft, dass sie das verlorene Vertrauen in ihr Heimatland Deutschland zurückgewinnen kann.

    "Ich möchte im Prozess, dass alle Helfershelfer bestraft werden. Dass alle, die Teilhabe an diesem Mord haben, dass die alle bestraft werden. Dass alles einfach aufgedeckt wird. Und dass von uns, von den Familien, alle Fragen beantwortet werden. Mit 100 Prozent Transparenz."

    Seit dem Auffliegen des NSU sind bereits eine Handvoll Bücher über die Terrorzelle erschienen. Sie handeln von der "Nazibraut Zschäpe", den beiden Mördern Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, sie decken die massiven Fehler der Sicherheitsbehörden auf. Was bislang fehlte, war ein Buch, das die Geschichte konsequent aus der Sicht der betroffenen türkischen Migranten erzählt. Gut, dass Semiya Simsek es geschrieben hat.

    Semiya Simsek und Peter Schwarz: "Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater", Rowohlt Verlag, 272 Seiten, 18,95 Euro, ISBN: 978-3-87134-480-0