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Der erste Stellungskrieg der Moderne

Im Krimkrieg kämpften von 1854-56 England und Frankreich als Verbündete gegen Russland, um die Expansionsbestrebungen von Zar Nikolaus I. einzudämmen. Mit dem Fall der Schwarzmeerfestung Sewastopol vor 150 Jahren schien der Krieg entschieden. Doch es folgte der "erste Stellungskrieg der Moderne" mit einer einjährigen Belagerung.

Von Rolf Wiggershaus | 08.09.2005
    ""Schon vor Tagesanbruch stand ich auf, um mich nach dem Cathcart-Hügel zu begeben, diesem beliebten Aussichtspunkt […]. Die Schläfer, die sich, voller Zweifel am Erfolg der Franzosen und überzeugt von unserem Misserfolg, zur Ruhe begeben hatten, dürften kaum davon geträumt haben, dass Sebastopol unser sei. […] Nachdem unseren Männern die Stille aufgefallen war, krochen einige Freiwillige eine Brustwehr des Redan hinauf und stellten fest, dass sich nur noch Tote und Verwundete in der Bastion befanden. Wenig später sah man Straßen und Vorstädte an immer neuen Stellen brennen, […] und vor Tagesanbruch stand Sebastopol, diese schöne und prachtvolle Herrscherin des Schwarzen Meeres, auf die wir so oft begehrliche Blicke geworfen hatten, von der Küste bis zur Karabelnaja in Flammen."

    Dies Bild bot sich William Howard Russell, dem von der Londoner TIMES entsandten Kriegskorrespondenten, am Tag nach dem 8. September 1855, an dem die Franzosen den berühmt-berüchtigten Malakow-Turm, den "Schlüssel der Festungsstadt", erobert hatten. Damit war der Fall Sewastopols besiegelt, der Krimkrieg entschieden.

    In früheren Kriegen gegen das Osmanische Reich hatte Russland bereits die Halbinsel Krim im Schwarzen Meer annektiert und dort den modernsten Kriegshafen der damaligen Zeit angelegt. Seit 1853 versuchte es die Schwäche des Osmanischen Reichs für einen weiteren Zuwachs seiner Macht zu nutzen und sich freien Zugang zu den Weltmeeren zu sichern.

    Dabei stieß Zar Nikolaus I. auf den entschlossenen Widerstand Englands und Frankreichs. Der russisch-türkische Krieg weitete sich 1854 zu einem Krieg der verbündeten Truppen der Franzosen, Engländer und Türken gegen Russland aus und konzentrierte sich schließlich auf den Kampf um Sewastopol.

    Nach einem verlustreichen ersten Erfolg der Alliierten schien die Eroberung der von der Landseite schwach befestigten Anlage in greifbare Nähe gerückt. Logistische Probleme und Unklarheit über das weitere Vorgehen sorgten jedoch wieder einmal für Verzögerungen, und schon ergab sich eine neue Situation, anschaulich geschildert von dem Journalisten und Historiker German Werth in seinem Buch über den Krimkrieg:

    "Admiral Hamelin, der mit der Flotte vorausgedampft war, überbrachte beim nächsten Halt […] die Hiobsbotschaft, dass sich die russische Schwarzmeerflotte im Hafen von Sewastopol selbst versenkt hatte und damit die Zufahrt blockierte […]. Damit brach der Plan zusammen, die Festung von der Nordseite anzugreifen und den Sturm über die große Bucht auf die Stadt mit dem gleichzeitigen Eindringen der alliierten Schiffe in die Hafenanlagen zu verbinden."

    Eine fast einjährige Belagerung begann. Der Krimkrieg wurde zum "ersten Stellungskrieg der Moderne" - zu einer Materialschlacht neuer Dimension mit Explosionsgranaten und Schnellfeuerwaffen, Trommelfeuer und Dauerkanonaden.

    Auf russischer Seite nahm Leo Tolstoi am Kampf um Sewastopol teil und gab in Erzählungen wieder, was er sah.

    " Ihr seht dort die Ärzte mit bis zum Ellbogen blutbespritzten Armen und bleichen, düsteren Gesichtern, die sich um eine Pritsche zu schaffen machen, auf der ein Verwundeter liegt […]. (Sie) nehmen eben eine Amputation vor – dieses abstoßende und doch heilsame Verfahren. Ihr seht, […] wie der Verwundete mit einem grauenvoll erschütternden Aufschrei und Flüchen plötzlich zum Bewusstsein erwacht; seht, wie der Feldscher die abgeschnittene Hand in eine Ecke wirft […] ihr seht hier den Krieg nicht in Gestalt einer […] hübschen und blendenden Marschordnung, […] mit flatternden Fahnen und hoch zu Ross einher stolzierenden Generalen, sondern den Krieg in seiner wahren Gestalt – mit Blut, Leiden und Tod."

    Die hohe Zahl von 165.000 Toten im Krimkrieg kam nicht allein durch Kampfhandlungen zustande. Mehr als 100.000 starben an Krankheiten, Seuchen, schlechter Versorgung. Die ungeschönten Berichte Russells in der TIMES sorgten dafür, dass der Krimkrieg auch zum Beginn der professionellen Pflege verwundeter Soldaten wurde – auf englischer Seite verbunden mit dem Namen Florence Nightingale, auf russischer mit dem der Großfürstin Elena Pawlowna. Das war der einzige Lichtblick in einem Krieg, der als einer der am schlechtesten organisierten und geführten der Geschichte gilt.

    Als 1856 in Paris der Frieden besiegelt wurde, herrschte in Russland ein anderer Zar, Alexander II., der stärker an Reformen als an Krieg interessiert war.