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Der Erste Weltkrieg

Krieg ist eine Kulturleistung, deren Leistung darin besteht, Kultur zu zerstören. Daß man seit dem Dreißigjährigen Krieg ein ansteigendes Maß an Ritualisierung und Zivilisiertheit militärischer Konfrontationen hervorheben kann, klingt in den Ohren friedensgesättigter Nationen provokativ - und John Keegan, britischer Militärhistoriker, bot schon vor einigen Jahren mit seiner "Kultur des Krieges" eine veritable Zielscheibe für überzeugte Pazifisten. Nicht anarchisch, sondern regelhaft seien die Kriege des 18. und 19. Jahrhunderts verlaufen, nicht wahllos metzelnd, sondern die Zivilbevölkerung schonend - bis zum großen Sündenfall des Zweiten Weltkriegs, dessen politischen und völkerpsychologischen Auslösefaktoren auf die Schützengräben des Ersten Weltkriegs zurückgehen. Eben jenem widmet Keegan eine voluminöse Studie, die nun im Taschenbuch vorliegt und aus guten Gründen Aufmerksamkeit verdient.

Florian Felix Weyh |
    Warum sollen wir uns mit diesem fernen Krieg der europäischen Adelshäuser beschäftigen, mit einer Auseinandersetzung zwischen Gesellschaftssystemen die längst nicht mehr existieren? Den Hauptgrund liefert Keegan schon im ersten Satz: "Der Erste Weltkrieg", schreibt er, "war ein tragischer und unnötiger Konflikt. Er war unnötig, weil die Kette der Ereignisse, die zu seinem Ausbruch führte, während der fünfwöchigen Krise, die dem ersten bewaffneten Zusammenstoß vorausging, noch jederzeit hätte unterbrochen werden können." Und beinahe 600 Seiten später, nach Millionen von Kriegstoten und einem verwüsteten Kontinent, muß der Historiker eine Konstellation feststellen, die der des Ausgangspunkts frappierend gleicht: "Eine fremde Macht, die UNO, fordert heute vom serbischen Staat das Recht, dessen politische Verbrecher zu bestrafen - wie es die Habsburger 1914 forderten. In den Tälern der Save und der Drina operieren fremde Truppen - wie 1915. Das alles ist sehr rätselhaft." Der Zweite Weltkrieg hat die Ost-West-Spaltung bewirkt, doch die gibt es nicht mehr; die Spuren des Ersten Weltkriegs sind auf den Äckern in Flandern vernarbt, doch geopolitisch scheinen seine Folgen weitaus virulenter als gemeinhin angenommen. Es ist kein historischer Ballast, den Keegan ausbreitet, sondern ein notwendiger politischer Orientierungsstoff. Selbst über die Afghanen findet man in diesem 1998 geschriebenen Buch wenig Tröstliches: Schon im Ersten Weltkrieg hatten die Briten erhebliche Probleme mit dem islamischen Bergvolk, das als einziges dem türkischen Aufruf zum heiligen Krieg folgte und gegen die britische Militärführung putschte.

    Doch das sind Petitessen gegen den tieferen Nutzen der Lektüre. John Keegan, selbst Zivilist wider Willen, ist ein Bewunderer des militärischen Denkens. Wie ein Pathologe oder Anatom seziert er Schlacht- und Aufmarschpläne, beschreibt Fähigkeiten und Versagen der Generalstäbe, diagnostiziert die politische und militärische Überforderung an der Front, die den Beteiligten Handlungsweisen aufzwang, die sie nie zuvor geübt hatten. Die Pläne des auf allen Seiten überalterten Generalstabs stammten aus dem 19. Jahrhundert, die Waffen aus dem zwanzigsten - das konnte nicht gutgehen. Es ging nicht gut, und hier setzt der aktuelle Bezug ein. Denn militärisches Denken ist ein Abfolge-Denken, viel weniger flexibel, als es der Laie ahnt, und prozessual extrem träge. Ein einmal in Betrieb genommenes militärisches Räderwerk läßt sich nicht mehr stoppen - am allerwenigsten von der Politik, die sich selbst entmündigt, sobald sie den Generälen freie Hand gibt. Der Erste Weltkrieg liefert das Paradebeispiel dafür: Statt in den Wochen nach dem Sarajewo-Attentat aufs Primat der Diplomatie zu setzen, verstrickte man sich in die Sachzwänge eines unausgegorenen theoretischen Konzepts, das als "Schlieffenplan" in die Geschichte einging. Dessen Logik war simpel und mörderisch: Wer frühzeitig die Mobilmachung erklärte, erhielt einen zeitlichen Vorsprung - und genau den glaubte Deutschland für einen Blitzsieg in Frankreich zu benötigen. Das Kaiserreich mußte immer schneller als die anderen sein und die Eskalationsschwelle für den eigenen Kriegseintritt niedrig legen. Der Rest ist bekannt, der Schlieffenplan schlug fehl - obwohl der zeitliche Ablauf eingehalten wurde -, weil die Grundannahmen nicht stimmten. Ein schneller Vormarsch bedeutete, schneller vom eigenen Nachschub abgeschnitten zu sein, und das brachte die deutschen Truppen 80 Kilometer vor Paris zum Stehen. Realität paßt eben doch nicht ganz in die Sandkästen der Militärakademien.

    Daß irgendwo in den Schubladen der westlichen Welt vor dem 11. September ein Handlungs-Szenario für effektive Terrorismusbekämpfung gelegen hätte, ist ziemlich unwahrscheinlich - aber Schlieffenpläne gab es mit Sicherheit. Das ist die Achillesferse. Keegan predigt es unentwegt: Militärs sind konservativ. Sie neigen dazu, Situationen ihre Strategien überzustülpen, statt ihre Strategien den Situationen anzupassen. Wenn jemand nicht nach ihren Regeln spielt, hat er fast schon gewonnen. Denn Krieg - Krieg ist Kultur. Vom kalten Hauch des Todes durchweht, aber immer noch auf Regeln gebaut, deren letale Logik Grenzen kennt: Es muß Überlebende geben, die den Sieg zu feiern vermögen. Genau daran ist letztlich der Ermüdungskrieg von 1914 zerbrochen - zu spät und ohne Sieger. Wer mit Zivilflugzeugen in Wohnhäuser fliegt, kann nicht besiegt werden. Er widersetzt sich den Mindestvereinbarungen kriegerischer Auseinandersetzungen.