Samstag, 20. April 2024

Archiv

"Der Erzählinstinkt"
Homo narrans statt Homo sapiens

In seinem Buch "Der Erzählinstinkt" zeigt Werner Siefer unterhaltsam und informativ, dass Erzählen ein tief verwurzelter Instinkt des Menschen ist, der unbedingt nach Erfüllung strebt.

Von Dagmar Röhrlich | 18.10.2015
    Zwei Männer und zwei Frauen in Geschäftskleidung kommunizieren miteinander, in der Mitte ist eine Sprechblase mit Bauklötzen abgebildet.
    Erzählen ist eine ganz zentrale Fähigkeit für das Leben in großen Gruppen. (imago / Westend61)
    Nicht der aufrechte Gang macht den Menschen zum Menschen: Den Trick beherrschte auch T-Rex. Nein, der große Unterschied liegt in der Fähigkeit des Erzählens. Auf diesen Nenner lässt sich das Buch "Der Erzählinstinkt" bringen. Anhand von Erkenntnissen der Gehirnforschung und Psychologie geht der Biologe und Autor Werner Siefer der Frage nach, warum wir unsere Erlebnisse und Erinnerungen als Erzählungen organisieren und zeigt, dass auch Weltgeschichte und Staaten auf gemeinsamen Erzählungen gründen.
    Das Interesse eines Schimpansen daran, einem Artgenossen zu helfen, ist äußerst gering. Auch wenn sein Genom fast identisch ist mit dem eines Menschen, Freundlichkeit anderen Schimpansen gegenüber liegt ihm nicht wirklich im Blut, ebenso wenig fortwährendes Interpretieren der Absichten und Wünsche seines Nachbarn oder das Hineinversetzen in ihn.
    Reden hilft, um die Verhältnisse zu klären
    Diese Fähigkeiten, die dem Menschen so selbstverständlich sind, haben sich also im Lauf der rund siebeneinhalb Millionen Jahre entwickelt, die Schimpansen und Menschen evolutionär getrennte Wege gehen. Und so führt Werner Siefer aus, dass der Mensch zum Menschen wurde, weil er sich in der Gesellschaft vieler Artgenossen zurechtfinden musste, denn diese Gesellschaft ist sehr viel unberechenbarer als jedes Tier, das ihm in der afrikanischen Steppe begegnete. Da sind die Verhältnisse klar, wurden von Fressen und Gefressen werden bestimmt. Aber wer kann in einer Gruppe von Menschen immer sagen, was der andere vorhat? Was er fühlt? Das lässt sich nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennen. Aber Reden hilft dabei, erzählen.
    Es ist eine ganz zentrale Fähigkeit für das Leben in großen Gruppen: Mit Erzählungen lassen sich Kenntnisse vermitteln, die Lehren aus Vergangenem, Wissen über technische Fertigkeiten oder drohende Gefahren, Hoffnungen, Ziele und Träume. Erzählen schafft Zusammenhalt, ist der Kitt, der die Gesellschaft formt, erklärt Siefer. Ganze Zivilisationen gründen auf Mythen, die Zusammenhang und Sinn stiften. Geschichte entsteht aus Erzählungen heraus. Was nicht tradiert wird, ist verloren. Erzählungen machen Nationen aus, sind das Mittel, mit dem Politik betrieben wird.
    Der Autor zeigt unterhaltsam und informativ, dass Erzählen ein tief verwurzelter Instinkt des Menschen ist, der unbedingt nach Erfüllung strebt. Vielleicht wäre es korrekter, wenn wir uns nicht als Homo sapiens bezeichneten, sondern als Homo narrans. Das Erzählen von Geschichten könnte eine sehr viel grundlegendere unserer Eigenschaften sein als Vernunft oder vorurteilsfreie Beurteilung.
    Werner Siefer: "Der Erzählinstinkt. Warum das Gehirn in Geschichten denkt." Carl Hanser Verlag, 250 Seiten, 19.90 Euro, ISBN-13: 978-344-644473-7.