Marina und Ants Kumer müssen nicht lange diskutieren, dann winkt der Pförtner sie durch - man kennt sich. Immerhin hat das Ehepaar fünfzehn Jahre in der Papierfabrik Atlanta gearbeitet, am Ortsrand von Kohila, einem Städtchen 30 Kilometer südlich der Hauptstadt Tallinn. Am 1. April war dann endgültig Schluss mit der Produktion. Marina und Ants gehörten zu den Letzten, die noch an den Maschinen standen und Schreibwaren für den europäischen und amerikanischen Markt produzierten. Jetzt stehen die beiden in einer der verwaisten Hallen und haben die neue Situation noch gar nicht richtig realisiert:
"Früher haben hier 500 Leute gearbeitet, in guten Zeiten. Dann wurde immer weiter abgebaut bis auf 200 Leute. Das ging hier alles ziemlich schnell, die richtigen Probleme fingen so im Februar, März 2008 an. Die Nachfrage war einfach nicht mehr da, und die Produktion wurde gedrosselt. Anfang dieses Jahres dann die ersten Gespräche über eine Schließung, im Februar hat uns dann die holländische Konzernzentrale von Atlanta mitgeteilt, dass tatsächlich dicht gemacht wird."
Rund 5000 Menschen leben in Kohila, einer kleinen Stadt mit bunten Holzhäusern und Gärten. Sogar ein Gymnasium gibt es, 2008 ist ein neues Sportzentrum eröffnet worden, und in der Ortsmitte entsteht ein kleiner Bürokomplex.
Doch der Schein trügt, die holländische Papierfabrik Atlanta ist nicht die Einzige, die hier die Produktion eingestellt hat. Auch 500 Meter weiter, in der Sperrholzfabrik Baltic Panel, stehen die Maschinen schon seit Mitte 2008 still. Die ehemals 130 Arbeiter aus der Region sitzen zu Hause und wissen nicht, wie es weiter gehen soll, erzählt der ehemalige Fabrikdirektor Tiit Tammsaar, der auch schon estnischer Landwirtschaftsminister war:
"Wir haben hier früher 50.000 Kubikmeter Sperrholz pro Jahr produziert. Die Probleme fingen dann an, als es im April 2007 zu Zusammenstößen zwischen hier lebenden Russen und der estnischen Polizei in Tallinn kam, weil ein sowjetisches Kriegsdenkmal aus der Tallinner Innenstadt entfernt worden ist. Daraufhin bekamen wir keine Aufträge mehr aus Russland. Die globale Krise hat uns noch den Rest gegeben. Am Ende muss man wohl sagen, dass der baltische Tiger doch wohl eher ein Kätzchen war."
Das sieht die estnische Regierung unter Premierminister Andrus Ansip ganz anders. Sie ist zuversichtlich, dass sich das Land schnell wieder von der Krise erholt. Ein Hauptproblem sei doch, dass die Situation in den baltischen Staaten viel kritischer betrachtet werde als in anderen Ländern, beklagt der estnische Wirtschaftsminister Juhan Parts:
"Niemand sagt doch zum Beispiel: 'Der deutsche Tiger springt nicht mehr' - obwohl doch die Situation in Deutschland und Japan etwa genauso ist wie bei uns oder schlimmer. Der estnische Tiger jedenfalls schläft keineswegs. Die Leute müssen aber einfach verstehen, dass man nicht in zwei Jahren aus Estland so etwas wie Baden-Württemberg machen kann, so eine Entwicklung braucht Zeit. Zu den neoliberalen Reformen der letzten Jahre jedenfalls gibt es keine Alternative, Protektionismus in einem so kleinen Land wie Estland funktioniert nicht. Ich bin mir sicher: Wir sind am Ende die Gewinner dieser Krise."
Auch weil die Situation in Estland laut Juhan Parts nicht zu vergleichen ist mit den Problemen etwa in Lettland. Dort, das hatte die Regierung in Riga Anfang 2009 unumwunden zugegeben, hätte tatsächlich ohne einen Sieben-Milliarden-Euro-Kredit des IWF der Staatsbankrott gedroht, auch das größte lettische Geldinstitut, die Parex Bank, wurde nur durch Verstaatlichung vor dem sicheren Aus bewahrt.
Ganz so dramatisch ist die Situation in Estland nicht, weil man in guten Zeiten Rücklagen geschaffen hat: Zehn Prozent des Bruttoinlandprodukts. Solche Zahlenspiele und ob der estnische Tiger nun schläft oder weiter springt - all das spielt für Marina und Ants aus Kohila im Moment keine Rolle. Zwar erhalten auch sie vom Staat in den ersten Monaten nach dem Jobverlust noch Arbeitslosengeld, doch ihre Zukunft sehen die beiden erst einmal düster:
"Für uns wird das ganz schwierig. Wir haben ja beide gleichzeitig die Arbeit verloren, ich bin 46, Ants 62, da findet er sowieso keinen neuen Job. Jeden Tag landen ja mehr Leute auf der Straße, und 2010 soll es ja so weiter gehen. Wir haben noch Glück, weil unsere Wohnung abbezahlt ist. Aber die beiden Kinder studieren in Tallinn, das kostet ja alles. Wie es weitergeht, wissen wir einfach nicht."
"Früher haben hier 500 Leute gearbeitet, in guten Zeiten. Dann wurde immer weiter abgebaut bis auf 200 Leute. Das ging hier alles ziemlich schnell, die richtigen Probleme fingen so im Februar, März 2008 an. Die Nachfrage war einfach nicht mehr da, und die Produktion wurde gedrosselt. Anfang dieses Jahres dann die ersten Gespräche über eine Schließung, im Februar hat uns dann die holländische Konzernzentrale von Atlanta mitgeteilt, dass tatsächlich dicht gemacht wird."
Rund 5000 Menschen leben in Kohila, einer kleinen Stadt mit bunten Holzhäusern und Gärten. Sogar ein Gymnasium gibt es, 2008 ist ein neues Sportzentrum eröffnet worden, und in der Ortsmitte entsteht ein kleiner Bürokomplex.
Doch der Schein trügt, die holländische Papierfabrik Atlanta ist nicht die Einzige, die hier die Produktion eingestellt hat. Auch 500 Meter weiter, in der Sperrholzfabrik Baltic Panel, stehen die Maschinen schon seit Mitte 2008 still. Die ehemals 130 Arbeiter aus der Region sitzen zu Hause und wissen nicht, wie es weiter gehen soll, erzählt der ehemalige Fabrikdirektor Tiit Tammsaar, der auch schon estnischer Landwirtschaftsminister war:
"Wir haben hier früher 50.000 Kubikmeter Sperrholz pro Jahr produziert. Die Probleme fingen dann an, als es im April 2007 zu Zusammenstößen zwischen hier lebenden Russen und der estnischen Polizei in Tallinn kam, weil ein sowjetisches Kriegsdenkmal aus der Tallinner Innenstadt entfernt worden ist. Daraufhin bekamen wir keine Aufträge mehr aus Russland. Die globale Krise hat uns noch den Rest gegeben. Am Ende muss man wohl sagen, dass der baltische Tiger doch wohl eher ein Kätzchen war."
Das sieht die estnische Regierung unter Premierminister Andrus Ansip ganz anders. Sie ist zuversichtlich, dass sich das Land schnell wieder von der Krise erholt. Ein Hauptproblem sei doch, dass die Situation in den baltischen Staaten viel kritischer betrachtet werde als in anderen Ländern, beklagt der estnische Wirtschaftsminister Juhan Parts:
"Niemand sagt doch zum Beispiel: 'Der deutsche Tiger springt nicht mehr' - obwohl doch die Situation in Deutschland und Japan etwa genauso ist wie bei uns oder schlimmer. Der estnische Tiger jedenfalls schläft keineswegs. Die Leute müssen aber einfach verstehen, dass man nicht in zwei Jahren aus Estland so etwas wie Baden-Württemberg machen kann, so eine Entwicklung braucht Zeit. Zu den neoliberalen Reformen der letzten Jahre jedenfalls gibt es keine Alternative, Protektionismus in einem so kleinen Land wie Estland funktioniert nicht. Ich bin mir sicher: Wir sind am Ende die Gewinner dieser Krise."
Auch weil die Situation in Estland laut Juhan Parts nicht zu vergleichen ist mit den Problemen etwa in Lettland. Dort, das hatte die Regierung in Riga Anfang 2009 unumwunden zugegeben, hätte tatsächlich ohne einen Sieben-Milliarden-Euro-Kredit des IWF der Staatsbankrott gedroht, auch das größte lettische Geldinstitut, die Parex Bank, wurde nur durch Verstaatlichung vor dem sicheren Aus bewahrt.
Ganz so dramatisch ist die Situation in Estland nicht, weil man in guten Zeiten Rücklagen geschaffen hat: Zehn Prozent des Bruttoinlandprodukts. Solche Zahlenspiele und ob der estnische Tiger nun schläft oder weiter springt - all das spielt für Marina und Ants aus Kohila im Moment keine Rolle. Zwar erhalten auch sie vom Staat in den ersten Monaten nach dem Jobverlust noch Arbeitslosengeld, doch ihre Zukunft sehen die beiden erst einmal düster:
"Für uns wird das ganz schwierig. Wir haben ja beide gleichzeitig die Arbeit verloren, ich bin 46, Ants 62, da findet er sowieso keinen neuen Job. Jeden Tag landen ja mehr Leute auf der Straße, und 2010 soll es ja so weiter gehen. Wir haben noch Glück, weil unsere Wohnung abbezahlt ist. Aber die beiden Kinder studieren in Tallinn, das kostet ja alles. Wie es weitergeht, wissen wir einfach nicht."