So hebt sie an - die Geschichte des Eunuchen von Konstantinopel. Von ihm selbst erzählt. Die Geschichte, wie er als kleiner schwarzer Junge aus Afrika in die Sklaverei geriet, wie ihm noch auf der Überfahrt das Geschlechtsteil abgeschnitten wurde, um schließlich im Palast des Sultans in Konstantionpel zu landen. Im Laufe seiner Sklavenexistenz schafft er es, zum obersten Eunuchen im Harem seines Herren zu werden. Beiläufig plaudert er von den vielen tausend Toten die seinen Lebensweg säumen. Sie wurden geköpft, ertränkt, gehenkt oder erdrosselt. Nur Prinzen wurden mit einer feinen Seidenschnur erdrosselt. So will es die Folklore
"Dem neuen Padischah gefiel es sehr, Herrscher über das Osmanische Reich zu sein, denn er konnte von früh bis spät mit den Stummen und den Zwergen spielen. Die Zwerge sollten den Sultan unterhalten, und Aufgabe der Stummen war es, Leute zu erdrosseln, was auch als eine Art kaiserlicher Unterhaltung angesehen wurde. Die Stummen, die ihre Arbeit in tödlicher Stille zu erledigen pflegten, erfreuten den Sultan außérordentlich. Er liebte es, mit ihnen zu spielen ..."
Doch in gewisser Weise besteht das Glück dieses altgewordenen und früh seiner Männlichkeit beraubten Sklaven nur darin: Er hat überlebt. Er hat es sogar zu etwas gebracht, daß sich mit Geld nicht audrücken läßt: Er gehört dazu, er lebt am Lichthof der Macht, wenigstens an ihrem Saum. Nichts garantiert ihm sein Leben. Sein Stolz besteht darin, daß gelernt hat, sich den Wirren der Umstände lautlos anzupassen. Selbst die unvorstellbarste Ergebenheit kommt nicht ohne einen eigenen Gedanken aus. Man muß verstehen, der richtigen Macht zum richtigen Zeitpunkt zu dienen. Niemals darf man den Blick des Herrschers auf sich lenken, zugleich muß man sich als seine ergebenste Stütze zu erkennen geben.
Lehrbücher des Macchiavelismus gibt es reichlich. Hier kommt endlich einmal das Handbuch zum Untertan. Und auf Anhieb verstehen wir, daß ohne die Intrigen der Demut, ohne die Schachzüge des Gehorsams alle Macht nur alberner Budenzauber bliebe.
Der türkische Schriftsteller Zülfü Livaneli hat diesen Eunuchen von Konstantinopel erfunden. Doch die Ereignisse im Topkapi Sarayi Palast von Istanbul, von denen er berichtet, sind nicht ohne historisches Vorbild. 1615 wird Ibrahim als jüngster Sohn des Sultans Ahmed I. geboren. Seine Kindheit verbringt er in Gefangenschaft. Damit sie keinen Anspruch auf den Thron erheben können, werden seine vier Brüder getötet. Als Ibrahim endlich Herrscher des Osmanischen Reiches wird, bleibt er von den Ereignissen seiner Kindheit traumatisiert und impotent. Seine Mutter und der Hofstaat verführen ihn zu aufregenden Liebesspielen. Bald ergibt er sich ihnen so exzessiv, daß seine Konkubinen die Herrschaft seines Reiches bedrohen, und sein Bedarf an Luxus wird so groß, daß sich Unmut im Volk regt. Es kommt zu einer Verschwörung und 1648 wird Ibrahim ermordet.
Von den blutigen Wirren jener Zeit läßt Livaneli seinen Eunuchen berichten, aber nicht um ein opulentes historisches Menu zu servieren, sondern um das gleichsam zeitlose, doch stets blutige Märchen der Macht zu erzählen. Der Eunuch schwelgt in den epischen Düften Arabiens. Seine Rede ist eine lange süßliche Zeremonie, eine Abfolge von Huldigungen, eine Orgie unlauterer Beflissenheit. Im erhabenen und gepriesenen Namen des Allmächtigen killt man, speist man, dient man. Die Sprache des Sklaven ist eine endlose Sure der Macht. Der Eunuch erzählt von den unvorstellbaren Grausamkeiten im selben Ton wie von den überwältigenden Schönheiten des Palasts und seiner Dienerinnen. Die Macht rechtfertigt alles. Doch was rechtfertigt die Macht?
"In der Abenddämmerung kam ein Mann ins Dorf und sagte, er sei ein Prophet. Die Bauern aber glaubten ihm nicht. ‘Beweise es!’, forderten sie. Der Mann zeigte auf die gegenüberliegende Festungsmauer und fragte: ‘Wenn diese Mauer spricht und bestätigt, dass ich ein Prophet bin, glaubt ihr mir dann?’ ‘Bei Gott, dann glauben wir dir’, riefen sie. Der Mann wandte sich der Mauer zu, streckte die Hand aus und befahl: ‘Sprich, o Mauer!’ Da begann die Mauer zu sprechen: ‘Dieser Mann ist kein Prophet. Er täuscht euch. Er ist kein Prophet.’"
Diese Geschichte stellt Zülfü Livaneli seinem Buch voran, und sie spielt im Laufe der Ereignisse eine Rolle. Denn davon handelt dieser hintergründige und atembraubende Roman: Von der Unableitbarkeit der Macht - also von ihrer Ohnmacht, die die Macht stets in den Terror treibt - Terror der Selbstbehauptung, Terror der Autorisierung. Und dann lebt die Macht von denen, die sie versklavt hat und die demütig an die Macht glauben, als den höheren Grund ihrer Knechtschaft und den einzigen Lichtblick ihrer Erhöhung.
Auf der Schwelle zum bürgerlichen Zeitalter, gegen Ende des 18. Jahrhunderts schrieb der französische Aufklärer Denis Diderot den Roman "Jacques der Fatalist und sein Herr" . Anfang des 19. Jahrhunderts analysierte der deutsche Philosoph Hegel in seiner "Phänomenologie des Geistes" jene fundamentale Dialektik von Herr und Knecht. Man darf vermuten, daß Zülfü Livaneli seine Version des Verhältnisses von Herrscher und Sklave mit Bedacht als vormoderne orientalische Saga darbietet. Damit spielt er nicht nur auf die Legitimationsstrategien der Macht in der heutigen Türkei an, auf den Kampf zwischen Religion, Militär und Demokratie um das Grundgesetz der Gesetze. Aber auch die fortgeschrittene Moderne in unseren Breiten kommt schwer umhin, sich in der parfümierten Suada des Eunuchen wiederzuerkennen, in der grausamen Oper mit morgenländischen Requisiten eine sehr moderne Parabel zu entdecken.
"Dem neuen Padischah gefiel es sehr, Herrscher über das Osmanische Reich zu sein, denn er konnte von früh bis spät mit den Stummen und den Zwergen spielen. Die Zwerge sollten den Sultan unterhalten, und Aufgabe der Stummen war es, Leute zu erdrosseln, was auch als eine Art kaiserlicher Unterhaltung angesehen wurde. Die Stummen, die ihre Arbeit in tödlicher Stille zu erledigen pflegten, erfreuten den Sultan außérordentlich. Er liebte es, mit ihnen zu spielen ..."
Doch in gewisser Weise besteht das Glück dieses altgewordenen und früh seiner Männlichkeit beraubten Sklaven nur darin: Er hat überlebt. Er hat es sogar zu etwas gebracht, daß sich mit Geld nicht audrücken läßt: Er gehört dazu, er lebt am Lichthof der Macht, wenigstens an ihrem Saum. Nichts garantiert ihm sein Leben. Sein Stolz besteht darin, daß gelernt hat, sich den Wirren der Umstände lautlos anzupassen. Selbst die unvorstellbarste Ergebenheit kommt nicht ohne einen eigenen Gedanken aus. Man muß verstehen, der richtigen Macht zum richtigen Zeitpunkt zu dienen. Niemals darf man den Blick des Herrschers auf sich lenken, zugleich muß man sich als seine ergebenste Stütze zu erkennen geben.
Lehrbücher des Macchiavelismus gibt es reichlich. Hier kommt endlich einmal das Handbuch zum Untertan. Und auf Anhieb verstehen wir, daß ohne die Intrigen der Demut, ohne die Schachzüge des Gehorsams alle Macht nur alberner Budenzauber bliebe.
Der türkische Schriftsteller Zülfü Livaneli hat diesen Eunuchen von Konstantinopel erfunden. Doch die Ereignisse im Topkapi Sarayi Palast von Istanbul, von denen er berichtet, sind nicht ohne historisches Vorbild. 1615 wird Ibrahim als jüngster Sohn des Sultans Ahmed I. geboren. Seine Kindheit verbringt er in Gefangenschaft. Damit sie keinen Anspruch auf den Thron erheben können, werden seine vier Brüder getötet. Als Ibrahim endlich Herrscher des Osmanischen Reiches wird, bleibt er von den Ereignissen seiner Kindheit traumatisiert und impotent. Seine Mutter und der Hofstaat verführen ihn zu aufregenden Liebesspielen. Bald ergibt er sich ihnen so exzessiv, daß seine Konkubinen die Herrschaft seines Reiches bedrohen, und sein Bedarf an Luxus wird so groß, daß sich Unmut im Volk regt. Es kommt zu einer Verschwörung und 1648 wird Ibrahim ermordet.
Von den blutigen Wirren jener Zeit läßt Livaneli seinen Eunuchen berichten, aber nicht um ein opulentes historisches Menu zu servieren, sondern um das gleichsam zeitlose, doch stets blutige Märchen der Macht zu erzählen. Der Eunuch schwelgt in den epischen Düften Arabiens. Seine Rede ist eine lange süßliche Zeremonie, eine Abfolge von Huldigungen, eine Orgie unlauterer Beflissenheit. Im erhabenen und gepriesenen Namen des Allmächtigen killt man, speist man, dient man. Die Sprache des Sklaven ist eine endlose Sure der Macht. Der Eunuch erzählt von den unvorstellbaren Grausamkeiten im selben Ton wie von den überwältigenden Schönheiten des Palasts und seiner Dienerinnen. Die Macht rechtfertigt alles. Doch was rechtfertigt die Macht?
"In der Abenddämmerung kam ein Mann ins Dorf und sagte, er sei ein Prophet. Die Bauern aber glaubten ihm nicht. ‘Beweise es!’, forderten sie. Der Mann zeigte auf die gegenüberliegende Festungsmauer und fragte: ‘Wenn diese Mauer spricht und bestätigt, dass ich ein Prophet bin, glaubt ihr mir dann?’ ‘Bei Gott, dann glauben wir dir’, riefen sie. Der Mann wandte sich der Mauer zu, streckte die Hand aus und befahl: ‘Sprich, o Mauer!’ Da begann die Mauer zu sprechen: ‘Dieser Mann ist kein Prophet. Er täuscht euch. Er ist kein Prophet.’"
Diese Geschichte stellt Zülfü Livaneli seinem Buch voran, und sie spielt im Laufe der Ereignisse eine Rolle. Denn davon handelt dieser hintergründige und atembraubende Roman: Von der Unableitbarkeit der Macht - also von ihrer Ohnmacht, die die Macht stets in den Terror treibt - Terror der Selbstbehauptung, Terror der Autorisierung. Und dann lebt die Macht von denen, die sie versklavt hat und die demütig an die Macht glauben, als den höheren Grund ihrer Knechtschaft und den einzigen Lichtblick ihrer Erhöhung.
Auf der Schwelle zum bürgerlichen Zeitalter, gegen Ende des 18. Jahrhunderts schrieb der französische Aufklärer Denis Diderot den Roman "Jacques der Fatalist und sein Herr" . Anfang des 19. Jahrhunderts analysierte der deutsche Philosoph Hegel in seiner "Phänomenologie des Geistes" jene fundamentale Dialektik von Herr und Knecht. Man darf vermuten, daß Zülfü Livaneli seine Version des Verhältnisses von Herrscher und Sklave mit Bedacht als vormoderne orientalische Saga darbietet. Damit spielt er nicht nur auf die Legitimationsstrategien der Macht in der heutigen Türkei an, auf den Kampf zwischen Religion, Militär und Demokratie um das Grundgesetz der Gesetze. Aber auch die fortgeschrittene Moderne in unseren Breiten kommt schwer umhin, sich in der parfümierten Suada des Eunuchen wiederzuerkennen, in der grausamen Oper mit morgenländischen Requisiten eine sehr moderne Parabel zu entdecken.