Dienstag, 23. April 2024

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Der Ex-Mormone Eric T. Hansen
"Das schwarze Loch wartet auf mich"

Kein Alkohol, kein Kaffee, keine Cola - für diesen Weg zum Seelenheil warb der Journalist Eric T. Hansen, als er noch Mormone war. Er kam als Missionar nach Deutschland. Mittlerweile glaubt er nicht mehr an Gott. Über seinen Abschied vom Glauben hat er ein Buch geschrieben.

Eric T. Hansen im Gespräch mit Christiane Florin | 24.11.2017
    Der US-amerikanische Kolumnist und Autor Eric T. Hansen.
    Der US-amerikanische Kolumnist und Autor Eric T. Hansen. (picture alliance / dpa / Horst Galuschka)
    Christiane Florin: "Eine Mission ist wie Wehrdienst – man beginnt sie als Kind und kehrt als Mann zurück." Diesen markigen Satz schreibt der Journalist Eric T. Hansen. Er verließ als junger Mann Anfang der 1980er Jahre die USA, um in Deutschland für die Mormonen zu missionieren. Und das heißt: In den Fußgängerzonen warb er für eine Religionsgemeinschaft, die strenge Regeln auferlegt, kein Alkohol, kein Kaffee, keine Cola. Ein wirklich harter Job, der den ganzen Mann fordert. Eric Hansen blieb in Deutschland, aber er blieb kein Mitglied der "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage". In seinem neuen Buch "Losing my Religion" verarbeitet er diese Zeit. Es ist kein Blick zurück im Zorn, eher ein Bedauern darüber, den Glauben verloren zu haben.
    Ich habe mit Eric T. Hansen vor der Sendung gesprochen. Herr Hansen, "Ich war ein guter Mormone", schreiben Sie. Was macht einen guten Mormonen aus?
    Eric T. Hansen: Ein guter Mormone setzt sich ein für die Kirche. Die Kirche hat eine Menge Gebote, die er befolgen muss. Es wird sehr viel verlangt an Zeit, also ein Mormone setzt sich drei Stunden sonntags in die Kirche, an mehreren Tagen der Woche geht er in die Kirche, er ist Laienpriester und stellt seine Zeit zur Verfügung. Ich war auf Mission zwei Jahre, auf eigene Kosten, meine eigene Zeit. Also ein guter Mormone glaubt wirklich und ist bereit, sehr viel für seinen Glauben zu tun.
    Florin: Und macht er das für sich oder für die Gesellschaft?
    Hansen: Er macht es vor allem für sich. Aber er macht es auch für die Mormonengesellschaft, das heißt, die Gemeinde. Man unterstützt in der Gemeinde einander sehr viel, aber natürlich ist das Allerwichtigste das eigene Heil.
    Florin: Sie wurden mit acht getauft und haben mit 30 das letzte Gebet gesprochen. Wie sah Ihr Gott in dieser Zeit aus?
    "Wir können so werden wie Gott"
    Hansen: Er ist ein fast traditioneller, christlicher Gott.
    Florin: Es ist ein Er?
    Hansen: Es ist ein Er. Er ist männlich, er hat einen weißen Bart. Er ist aber nicht Christus. Er ist Gott der Vater, und Christus ist nicht Gott, er ist der Sohn, das ist der Grund auch, warum viele Menschen, viele protestantische Kirchen die Mormonen nicht für christlich halten, weil wir unterscheiden zwischen Gott und dem Sohn. Er hat die Welt erschaffen, er hat uns als Kinder gezeugt mit seiner Ehefrau, er ist Vater, es gibt auch eine Mutter, und wir sind buchstäblich Kinder. Und als Kinder haben wir alle im Grunde, potentiell alle Rechte, die er hat. Wir können so werden wie er, wir haben seine DNA.
    Florin: Und was haben Sie tatsächlich geglaubt? Also, Himmel, Hölle, Leben nach dem Tod, Gnade, Erlösung. Was haben Begriffe wie diese für Sie bedeutet?
    Hansen: Es bedeutet für einen Mormonen sehr viel. Für eine normale, christliche Kirche haben sie eine sehr vage Vorstellung von dem Leben nach dem Leben. Man fliegt als Engel rum, man sitzt zu den Füßen Gottes und singt Lobeslieder oder was auch immer, oder man ist Teil einer allgemeinen 'Gottwolke'. Die Mormonen haben sehr klare, spezifische Vorstellungen. Ich bin immer noch ich. Wenn ich in diesem Leben gerne Pizza esse, tue ich das Gleiche auch in dem Leben nach dem Leben, und ich habe meine Freunde da. Und es gibt eine weitere Entwicklung. Wir sind nicht nur Menschen mit sterblichen Körpern, sondern wir sind mit unsterblichen Körpern und wir haben quasi göttliche Fähigkeiten, wir leben in der Ewigkeit. Und das Leben wird anders sein, aber wir sind wir. Und das ist eine Vision, die ich sehr liebe.
    "Wir brauchen die ganze europäische Theologie nicht"
    Florin: Für evangelische und katholische Christen steht die Offenbarung Gottes in der Bibel. Mormonen glauben, dass Joseph Smith göttliche Offenbarungen im 19. Jahrhundert erhielt. Haben Sie eigentlich das Buch "Mormon" ganz gelesen? Das 'gedruckte Chloroform', wie Mark Twain mal gespottet hat?
    Hansen: Ja, ich habe es ganz gelesen. Es hat mich sehr inspiriert und sehr beeinflusst. Große Teile sind sehr ähnlich wie die Bibel, man sagt, die sind teilweise Wort für Wort abgeschrieben von der Bibel, Teile sind auch langweilig – allerdings sind Teile von der Bibel auch langweilig –, aber das Buch ist schon ein sehr kluges Buch. Es ersetzt aber die Bibel nicht, es ergänzt sie und er hat ein paar Sachen, die anders sind. Vor allem ist es fast ein Symbol, dass die Mormonenkirche als einer amerikanische Kirche sich von der europäischen Tradition absetzen will. Das Buch "Mormon" wurde in Amerika geschrieben in der Früh- und in der Vorgeschichte und wurde in Amerika erfunden, das heißt, wir brauchen den Papst nicht, wir brauchen Luther nicht, wir brauchen die ganze europäische Theologie nicht, weil wir unsere eigene haben. Das ist eine Emanzipationserklärung.
    Florin: Kann ja auch aus einem Minderwertigkeitskomplex entstanden sein gegenüber dem europäischen Christentum mit den Zentren Rom und Wittenberg. Jetzt gibt es eben eine amerikanische Antwort.
    Hansen: Das kann man übrigens von – wenn man gemein ist, und ich bin ein bisschen gemein …
    "Die Mormonen verbieten viel mehr als die Katholiken"
    Florin: Ja, ich hab's gemerkt.
    Hansen: Das kann man zu der gesamten amerikanischen Kultur sagen. Also, die Kultur hat heute noch einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der europäischen Kultur. Das ist auch mit ein Grund, warum ich nach Europa gekommen bin, weil ich dachte, hier haben wir Mickey Mouse und "Starsky & Hutch", und wir sind alle doof, und wir haben keine Kultur. Aber in Deutschland oder in Europa damals gibt es richtige Kultur und da sind intelligente Menschen, die die Dinge hinterfragen. Und hier in Deutschland schaut jeder amerikanisches Fernsehen und liest amerikanische Literatur.
    Florin: Sie sind als Missionar nach Europa, nach Deutschland gekommen, als Missionar der Mormonen, waren unter anderem in Krefeld. Wie hat denn so der durchschnittliche Krefelder reagiert, wenn Sie von Polygamie gesprochen haben, wenn Sie aber auch gesagt haben, Mormonen trinken keinen Alkohol, trinken nicht mal Kaffee …
    Hansen: Die Wenigsten, die Allerwenigsten sind so weit gekommen, dass sie überhaupt wissen wollten, was wir da zu sagen hatten. Der durchschnittliche Missionar in Deutschland braucht im Grunde einen Satz auf Deutsch, und das ist: "Guten Tag, wir kommen von der ‚Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage ‘ und möchten …", und schon da geht die Tür zu.
    Florin: Ihre Mission war nicht sonderlich erfolgreich, an den Zahlen gemessen.
    Hansen: Nein, ich hatte eine Frau getroffen und getauft, und das ist wahrscheinlich für Deutschland gar kein schlechter Schnitt.
    Florin: Vorehelicher Sex ist bei den Mormonen verboten – wie im Katholizismus auch: eigentlich eine gute Grundlage für eine Art Ökumene, oder?
    Hansen: Ja, aber die Mormonen verbieten viel mehr und haben viel zu viele radikale Ansichten, als dass es mit den Katholiken eine Ökumene jemals geben könnte. Also, da hab ich keine Hoffnung.
    "Sex ist gefährlich"
    Florin: Woher kommt dies Unterleibsfixiertheit, die Sie ja auch sehr beschäftigt hat? Also, die Hormone, die haben Sie ja schon umgetrieben.
    Hansen: Das ist ein großes Thema und ich halte es für ein wichtiges Thema. Die Sexualgebote sind die gleichen wie im ganzen Protestantismus. Die kommen aus dem Puritanismus in Amerika, und die kommen aus dem europäischen Calvinismus. Das ist eine sehr körperfeindliche Haltung. Sex ist gefährlich, Sex ist eine Versuchung und muss überwunden werden, und ein richtig Gläubiger ist stark genug, den Sextrieb zu überwinden. Ich aber bin der Meinung, dass es im Mormonentum – wie auch in anderen Kirchen – benutzt wird, um den Gläubigen mit Schulgefühlen so sehr zu beladen, dass sie eine Art fast drogenartige, also suchtartige Bindung zu der Kirche entwickeln, weil nur die Kirche kann diese Schuldgefühle dann wieder lösen. Und das ist Manipulation natürlich.
    Florin: Also, es geht schon auch um Macht über das Gewissen? Da sind die Mormonen keinen Deut besser als andere.
    Hansen: Nein, nein, überhaupt nicht, und die sind auch intensiver. Der Durchschnittskatholik geht ja einfach nicht in die Kirche, er ist trotzdem Katholik. Aber der durchschnittliche Mormone, wenn er Mormone sein will, dann geht er drei Stunden jeden Tag in die Kirche. Dann hat er mit den anderen Mitgliedern sehr viel zu tun. Und dann ist ein Thema wie Sexualität oder auch Homosexualität, die ja auch im Mormonentum –genau wie im Katholizismus – verboten ist, ein intensiveres Thema, weil man immer wieder damit konfrontiert ist.
    Florin: War das der Grund dafür, dass Sie sich verabschiedet haben, dass Sie erkannt haben: Es gibt eine Institution hinter dem Glauben, und dieser Institution geht es letztendlich um Macht?
    Hansen: Jeder Mormone ist Teil der Institution. Die Frage dann war irgendwann: Wie viel von dieser Institution ist reine Machtausübung, Leute, die gern Macht über andere Menschen haben, und wie viel ist wirklich eine Solidargemeinschaft, die einander hilft, zu Gott zurückzukehren. Und irgendwann hab ich gedacht, da stimmt irgendwas nicht hier.
    Florin: Homophobie, dieses ganz Hierarchische, das Patriarchalische, das gehört zum Mormonentum auch dazu. Hat Sie das nicht gestört?
    Der erschöpfte Mann, die starke Frau
    Hansen: Zum Thema Homosexualität: Damals hat es mich nicht gestört in den Siebzigern, Achtzigern, weil man nicht darüber sprach. Man wusste, es gab ein, zwei Leute, die vielleicht mit einer sexuellen Versuchung Probleme hatten, aber man wünschte ihnen Kraft, dass sie dieser Versuchung widerstehen. Dass Homosexuelle aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden aufgrund ihrer Sexualität, wurde nicht offen ausgesprochen. Jetzt wird es offen ausgesprochen, es ist ein Riesenthema in der Kirche, und es ist sehr wichtig, dass es diskutiert wird. Ich glaube, die Kirche wird diese Gesetze in ein oder zwei Generationen ändern. Aber bis dahin ist es sehr schwer für einen Homosexuellen, Mormone zu sein.
    Und was das Patriarchat angeht: Die Kirche ist strukturell ein Patriarchat, das stimmt. Also, man sagt, "der Mann ist der Kopf des Hauses, die Frau sollte den Mann vielleicht nicht immer gehorchen, aber doch unterstützen" und so weiter. Und der Mann hat auch im Priestertum bestimmte Aufgaben, die er machen muss. Die Frau hat das Priestertum nicht – genau wie in der katholischen Kirche. Mein Problem damit ist, dass die Frauen im Mormonentum, die ich kenne, unglaublich starke Frauen sind. Die kommen aus dem Wilden Westen, diese Pionierfrauen, die wirklich keine Widerrede dulden, die ihr Ding durchsetzen. Die wollen eine Familie haben, und die wollen einen starken Mann haben, und die sagen dem Mann, was er falsch tut, wenn er nicht stark genug ist und wenn er nicht männlich genug ist und wenn er seine Aufgaben nicht erfüllt. Und die Männer im Mormonentum: Ein mormonischer Patriarch ist ein überarbeiteter Mann, der neben seinem Job, neben seinen Aufgaben in der Familie auch noch Aufgaben umsonst in der Kirche übernimmt. Der ist ständig unterwegs, er arbeitet ständig, Vergnügen hat er nicht. Er geht ja nicht in die Kneipe, er darf ja nicht trinken. Er treibt sich nicht mit Freunden rum, weil er die Zeit mit seiner Familie verbringen muss.
    Florin: Der erschöpfte Mann als Chance für die starke Frau. Was vermissen Sie, seit Sie – ich sag mal "offiziell" – kein Mormone mehr sind?
    Hansen: Ich bin nicht … einige Leute sagen, ich spreche so positiv von der Kirche, und ich bin immer noch so beeindruckt von der Kirche, dass manche sagen, ich bin eigentlich so ein Schläfer, so eigentlich in Wahrheit im Kern und im Herzen noch ein Mormone. Das stimmt aber nicht! Ich bin sehr beeindruckt, zum Beispiel von der Theologie, und Sie haben gefragt, was ich am meisten vermisse. Das ist diese Vision von dem Leben nach dem Leben. Es war die Sicherheit, egal, was hier auf Erden passiert, ich lebe weiter nach diesem Leben. Es ist nie vorbei. Und das war diese erste Erkenntnis, die erste harte Erkenntnis, die mir ein Loch in die Seele gerissen hat: Wenn die Kirche nicht wahr ist, dann ist keine Kirche war, und dann gibt es keinen Gott, und dann gibt es nach dem Leben kein Leben mehr, nur nix, ein schwarzes Loch. Das ist immer noch das Schwerste für mich zu schlucken, wenn ich hier meine nahe Zukunft – also ich bin jetzt über Fünfzig – anblicke. Da wartet das schwarze Loch auf mich, und das macht mir Angst, und als Mormone hat es mir keine Angst gemacht.
    Eric T. Hansen: Losing my religion. Die Mormonen und ich. Hula Ink 2017. 172 Seiten, 11,90 Euro.