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Der Fall Canfora

Luciano Cánforas Buch über die europäischen Demokratien ist nach den Worten von Hans-Ulrich Wehler ein kommunistisches Pamphlet, wie ihm seit Jahren keines unterkam. Deshalb wird der Text des Geschichtsprofessors aus Bari vom Münchner Verlag C.H.Beck nicht auf deutsch veröffentlicht.

Von Thomas Migge |
    " Ich fiel aus allen Wolken, denn aus welchem Grund haben die sich entschieden, mich nun zu zensieren, denn um Zensur handelt es sich ja. Stellen Sie sich vor: das Datum des Erscheinens im kommenden Frühjahr stand schon fest. "

    Luciano Canfora spielt den Verwunderten. Er tut so, als ob er das Verhalten des Verlages Beck nicht verstehen würde. Dabei weiß der bekannte italienische Ideengeschichtler, Altphilologe und Antikenexperte, dass er ein umstrittenes Buch verfasst hat. Er scheint die Polemik um dieses Buch zu genießen. Deshalb geht er auch nicht zum Gegenangriff über. Er wehrt sich nicht entschieden gegen die Vorwürfe aus Deutschland. Auf seinen Bielefelder Kollegen Hans-Ulrich Wehler, der ihm historische Verdrehungen, Fehler, und sogar Dummheit vorwirft, kommt Canfora nicht zu sprechen. Er scheint über den Dingen zu stehen und verweist auf Frankreich, wo er nach eigenen Angaben sehr geschätzt werde:

    " Mein französischer Verleger sagte mir, vollkommen erstaunt über das Verhalten des deutschen Verlages, dass man vielleicht einmal in der Vergangenheit von Beck forschen müsse; wer weiß wie sich dieser Verlag während des 3. Reichs und unter Göbbels verhielt."

    Der Fall Canfora und seines Buches sorgt inzwischen nicht nur in Deutschland für Aufsehen. Auch in Italien wird der Historiker wegen seiner zum Teil einseitigen Aussagen, die das stalinistische Regime und seine Tötungsmaschinerie verharmlosen, kritisiert, aber weniger scharf als in Deutschland. Das habe, so der römische Historiker Giovanni Negri, seinen Grund in einer Diskussionskultur, die in Italien anders sei:

    " Am Beispiel Canforas werden die Unterschiede zwischen Deutschland und Italien besonders deutlich. Historische Analysen müssen in Deutschland Handbuchcharakter haben, das heißt, sie müssen absolut ausgewogen und objektiv sein. Bei uns in Italien zählt natürlich auch die wissenschaftliche Objektivität, aber sie kommt oft rhetorisch, provokativ und polemisch daher und regt damit den Diskurs an. Nur rein objektiv zu schreiben wird bei uns als banal kritisiert. "

    Canfora ist ein Meister der nicht-banalen Geschichtsschreibung. In allen seinen Werken - wie zum Beispiel in der hochgelobten Biographie von Julius Caesar, die übrigens bei Beck erschienen ist - bezieht er immer wieder einseitige Positionen. Linke Positionen. Er ist ein hegelianischer Vereinfacher und das führt dazu, dass er das Böse der Kommunisten herunter- und das Böse der Anti-Kommunisten heraufspielt. Wie im Fall der christdemokratischen Nachkriegsdemokratie, in der gestandene Nazis hohe demokratische Entscheidungspositionen innehatten. Ein Punkt, den Canfora ausführlich thematisiert, während er auf die Repressionen gegen Regimegegner in Osteuropa nur am Rande zu sprechen kommt.
    Giovanni Negri:

    " Einerseits haben wir es bei Canfora mit Übertreibungen und Verharmlosungen zu tun. Andererseits sind genau sie es, die sein Buch so interessant machen. Der italienische Leser liebt provozierende Thesen. Das kommt unserer Lust zur Streitkultur entgegen. Canfora sieht auf einem Auge sicherlich schlecht, auf dem anderen aber sieht er ausgezeichnet und nimmt so Zusammenhänge wahr, die andere unbeachtet lassen. "

    Canforas in Deutschland umstrittene aber nicht uninteressante Sichtweise der Demokratie hat in der italienischen Geschichts- und Ideenwissenschaft eine lange Tradition. Der Historiker leitet seinen Demokratiebegriff aus der athenischen Antike ab. In der Gesellschaft der griechischen Sklavenhalter, so Canfora, war die Herrschaft des Volkes kein liberales Regierungssystem, sondern eine Art Diktatur. Mit dem Hinweis auf diesen mit historischen Quellen belegbaren Demokratiebegriff der Griechen dekonstruiert Canfora die in Europa vielbeschworene Achse Griechenland gleich Europa gleich Freiheit aller Bürger. Um das deutlich zu machen verfasste Canfora ein Pamphlet, eine Literaturgattung, die in Italien sehr beliebt ist - mit der sich aber deutsche Leser, vor allem Historiker, schwer tun. Sicherlich würde eine Debatte zwischen dem Autor und seinen Kritikern zu einem spannenden Historikerstreit führen - doch dafür müsste Canfora auf die ihm vorgeworfenen Kritikpunkte eingehen. Genau das aber scheint er nicht zu wollen.