Freitag, 29. März 2024


Der Fall Lüth

Der Hamburger Journalist Erich Lüth löste 1950 mit einem Boykottaufruf gegen einen Film des einstigen NS-Propagandisten Veit Harlan eines der folgenreichsten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht aus. In ihrem "Lüth"-Urteil revolutionierten die Karlsruher Richter das bis dahin herrschende Verfassungs- und Grundrechtsverständnis.

Von Michael Reissenberger | 11.05.1999
    Wer wissen will, warum in Deutschland das Wort sei frei geführt werden kann, warum Tierschützer wegen kanadischer Robbenschlächter den Kürschnern die Kunden vergraulen dürfen, warum Greenpeace deutsche Autofahrer aufrufen kann, die Shell-Tankstellen zu meiden, um den Konzern für umweltgefährliche Bohrinselentsorgung zu bestrafen, warum also in Deutschland im Streit mit mächtigen Wirtschaftsunternehmen auch der Boykott ausgerufen werden kann, ohne daß man für den Geschäftsverlust haften muß, der muß den Fall des Erich Lüth studieren, eines Hamburger Querkopfes, so hat er sich einmal selbst charakterisiert.

    Im September 1950, Lüth war damals Leiter der staatlichen Pressestelle der Stadt Hamburg, sollte der die Woche des Deutschen Films eröffnen und war entsetzt. Auf der Liste der Regisseure, die das Nachkriegspublikum mit heiteren Filmen aufmuntern wollten, las er den Namen Veit Harlan, den Namen des Film-Regisseurs von Jud Süß, dem dämonischen Film zur Untermenschenpropaganda der Nazis.

    O-Ton Film Jud Süß: "Er wird ihnen geben, er wird viel wird er ihnen geben.... er soll ihnen geben, daß man kann nehmen, nehmen, nehmen ..."

    Der Jude raffiniert, getrieben von Geldgier, Blutschande als todeswürdiges Verbrechen.

    O-Ton Film Jud Süß: "Fragt man das alte Reichskriminalgesetz, da steht es für alle Ewigkeit, wo sich aber ein Jude mit einer Christin fleischlich vermenget, soll er mit dem Strang vom Leben zum Tode gebracht werden, ihm zur wohlverdienten Strafe, jedermann aber zum abschreckendem Exempel."


    Der SS wurde dieser Film vor ihren mörderischen Einsätzen gezeigt, Ausschwitz-Wachmannschaften setzten den Häftlingen unter dem Eindruck des Films besonders zu. Und nun also dieser NS-Regisseur Veit Harlan mit dem Titel "Unsterbliche Geliebte" auf den Hamburger Filmwochen des Jahres 1950. Erich Lüth fällt kalkuliert aus der Rolle und erklärt folgendes in einem offenen Brief, den er kurz vor seinem Tod noch einmal ins Mikrofon sprach.


    O-Ton Erich Lüth: "Das moralische Ansehen Deutschlands in der Welt darf aber nicht von robusten Geldverdienern erneut ruiniert werden. Denn Harlans Wiederauftreten muß kaum vernarbte Wunden wieder aufreißen und abklingendes Mißtrauen zum Schaden des deutschen Wiederaufbaues furchtbar erneuern. Es ist aus allen diesen Gründen nicht nur das Recht anständiger Deutscher, sondern sogar ihre Pflicht, sich im Kampf gegen diesen unwürdigen Repräsentanten des deutschen Films über diesen Protest hinaus auch zum Boykott bereitzuhalten."

    Durfte der Querkopf in hamburgischen Staatsdiensten sich das erlauben? Die hamburgische Justiz sah auf Antrag der Filmproduzenten in den Äußerungen eine sittenwidrige Aufforderung zum Boykott, die Filmproduzenten müßten den drohenden Vermögensschaden nicht hinnehmen. Die Höhe der vorläufigen Sicherheitsleistung von 110.000 DM - in diesen Jahren war das eine geradezu utopische Summe für einen Gehaltsbezieher wie Erich Lüth - sie zeigt, auf welchen geradezu existenzbedrohenden Meinungskampf sich Lüth hier eingelassen hatte. Doch Lüth gab nicht auf, legte Berufung ein und Lüth fand viele Freunde und Unterstützer. An den Universitäten, in der Kulturszene bilden sich regelrechte Anti- und Pro-Harlan-Bewegungen, die in den nächsten Jahren heftig aufeinanderstoßen werden, Stuttgart, Köln, München, Frankfurt: Vor und in den Kinos kommt es zu Protest, oft auch zu rüden Prügelszenen. Etwa Januar 1952 vor zwei Freiburger Kinos. Vor den Eingängen verteilen einige Studenten Flugblätter, wiederholen dabei monoton die Worte Veit Harlan Jud Süss, Veit Harlan Jud Süss...

    Tags drauf kommentiert die Stuttgarter Zeitung: "wenn man dann sah, wie zu dem Geschrei "Judenknechte" mit dem Gummiknüppel der Takt geschlagen wurde, glaubte man sich in ‘Dritte Reich’ zurückversetzt. Man könnte die Liste dieser Kämpfe beliebig verlängern, Lüth fand schließlich Fürsprecher im Bundestag, Adolf Arndt, der Kronjurist der SPD übernahm es, seine Verfassungsbeschwerde zu verfassen, doch es dauerte noch 7 lange Jahre, in denen Lüth nur durch Solidaritätsspenden zu den drohenden Schadensersatz- und Prozesskosten über Wasser gehalten werden konnte. Bis im Jahre 1958 die Erlösung kam. Das Verfassungsgericht gab Lüth recht. Bei dem für die Demokratie so wesentlichen Meinungskampf müssen wirtschaftliche Interessen Einzelner zurücktreten. Seitdem gilt der Boykottaufruf auch in der Bundesrepublik als zulässiges Mittel des geistigen Meinungskampfs.

    Und als ich diese gute Nachricht gerade gehört hatte, so erzählte Erich Lüth später, "da traf ich im Ehrenhof des Hamburger Rathauses den damaligen Präsidenten des Hamburgischen Obersten Landgerichts Herbert Ruschwey, einen seiner Gegenspieler, in der Hansestadt.

    O-Ton Erich Lüth: "Und der ging nun mit offenen Armen auf mich zu und packte mich an den Schultern und sagte, nun wissen wir wenigstens, wie wir in Zukunft uns verhalten sollen, in solchen Prozessen und dann habe ich zu ihm gesagt, also - "tut mir leid, aber das hab ich von Anfang an gewußt."