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"Der Fall Theodor Oberländer" und "Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?"

Ein biographischer Versuch über Theodor Oberländer, Geoffrey Hartmans Essays über Kultur und Barbarei, eine Studie über die Hermann Göring Werke, sowie Ryszard Kapuscinskis "Die Welt im Notizbuch": Das sind die Themen unserer heutigen Revue politischer Literatur. Am Mikrophon ist Hermann Theißen. Guten Abend.

Otto Köhler | 21.08.2000
    Ein biographischer Versuch über Theodor Oberländer, Geoffrey Hartmans Essays über Kultur und Barbarei, eine Studie über die Hermann Göring Werke, sowie Ryszard Kapuscinskis "Die Welt im Notizbuch": Das sind die Themen unserer heutigen Revue politischer Literatur. Am Mikrophon ist Hermann Theißen. Guten Abend.

    "Theodor Oberländer, Jahrgang 1905, gehörte zur akademischen Elite des Nationalsozialismus."

    So beginnt völlig zutreffend der Klappentext zu Philipp-Christian Wachs biographischer Studie "Der Fall Theodor Oberländer (1905 - 1998) - Ein Lehrstück deutscher Geschichte", die soeben im Frankfurter Campus Verlag erschienen ist.

    "Er leitete seit 1933 das Institut für Osteuropäische Wirtschaft in Königsberg und wechselte 1937 in das Amt "Ausland/Abwehr" der Wehrmacht. Bei der Besetzung Osteuropas war er federführend."

    Hinter dieser institutionellen Sprache verbirgt sich ein Sachverhalt, den der Berliner Historiker Götz Aly schon 1993 auf den Punkt gebracht hat: Für Aly war Oberländer ein "Vordenker der Vernichtung". Ob Konrad Adenauer 1953 Oberländer trotz oder wegen dessen Verdienste um die nationalsozialistische Vernichtungspolitik als Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte berufen hat, verrät weder der Klappentext des Campus Verlag noch Philipp Christian Wachs in seinem 533 Seiten dicken Buch. Otto Köhler.

    Theodor Oberländer, 1960 als "Mörder von Lemberg" von einem DDR-Gericht "stigmatisiert", d.h. mit den Wundmalen Jesu Christi gezeichnet, gehöre zwar nicht zu den Gründervätern der Bundesrepublik, sei aber

    "ein hochpolitischer Kopf, der die ersten Jahre der Bonner Nachkriegsdemokratie in jeder Hinsicht entscheidend mitgeprägt hat."

    So steht es in dem Buch "Der Fall Theodor Oberländer (1905 - 1998). Ein Lehrstück deutscher Geschichte", das der angesehene Frankfurter Campus-Verlag soeben mit dem Hinweis veröffentlicht:

    "An Theodor Oberländer scheiden sich bis heute die Geister. War er ein Vordenker der Vernichtung oder ein verdienstvoller Patriot?"

    Der Autor des Lehrstücks kommt am Ende seines dicken Buches zu dem Ergebnis:

    "Das 'zweite deutsche Wirtschaftswunder', die Integration der Vertriebenen im Schatten des Wirtschaftswunders und, mit diesem verbunden, ihre wachsende materielle Orientierung und die damit verbundene Entpolitisierung ist die Frucht seiner Arbeit. Sie gehört zu den Grundsteinen des Fundaments, auf dem die Bundesrepublik bis heute sicher ruht."

    Bei diesem Buch handelt es sich ursprünglich um eine Dissertation, die bei dem aus Funk und Fernsehen bekannten Professor Michael Wolffsohn von der Münchner Universität der Bundeswehr angefertigt wurde. Wolffsohns wohlwollende Hilfreichigkeit wird spätestens dort sichtbar, wo Schüler Wachs zur Einleitung seines Kapitels über die DDR-Kampagne gegen Oberländer auf die 1959/60 von der Schändung der Kölner Synagoge ausgehende Welle antisemitischen Schmierereien in der ganzen Bundesrepublik zu sprechen kommt:

    "Zahlreiche Indizien und die Aussagen diverser Überläufer deuten auf eine wenigstens teilweise von außen, sprich Ost-Berlin, gelenkte Aktion hin."

    Das ist ein altes Steckenpferd Michael Wolffsohns, auf dem er auch seine Schüler in die Schlacht schickt: In der großen antisemitischen Welle hätten Stasi und auch KGB überall in der Bundesrepublik jüdische Friedhöfe geschändet. Doch Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau hatte schon 1978 festgestellt, dass es für eine kommunistische Täterschaft nicht den geringsten Hinweis gibt.

    Im Fall Oberländer allerdings, das ist richtig, haben die Sowjetunion und die DDR kräftig mitgemischt, und sie haben dem Alt-Nazi teilweise Unrecht getan. Mit der Ermordung polnischer Professoren in Lemberg hatte er mit einiger Sicherheit nichts zu tun - das war das Werk eines SD-Einsatzkommandos. Doch an den Pogromen in Lemberg waren nach glaubwürdigen Zeugenaussagen auch Mitglieder seines Bataillons Nachtigall beteiligt, und selbst Wachs scheint Oberländers Aussage, er hätte von den Pogromen überhaupt nichts bemerkt, für wenig glaubwürdig zu halten.

    Der Osten hatte allerdings einigen Anlass, eine Kampagne gegen den Bonner Vertriebenenminister zu führen, den Adenauer selbst für tiefbraun hielt und der es als sein Lebensziel betrachtete, den Kommunismus zu vernichten. Gewiss, der Prozess, der 1960 in Ostberlin gegen Oberländer in Abwesenheit geführt wurde, war ein Schauprozess, der - egal, was die Beweislage ergab - mit einer Verurteilung Oberländers als "Mörder von Lemberg" enden musste. Ähnliches hatte aber zuvor schon der Bundesminister Oberländer mit der VVN beabsichtigt, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, in der naturgemäß auch viele Kommunisten nicht nur Mitglied, sondern auch leitend tätig waren. Der greise Oberländer, der 38 Jahre lang eine Ministerpension bezog, sein längst fälliger Rücktritt war 1960 zu diesem Zweck zum Schaden des Ansehens der Bundesrepublik um einige Wochen verzögert worden, Oberländer also erklärte dem Autor Wachs noch im Dezember 1997, ein Verbot der VVN sei damals fällig gewesen, und er habe sich schon lange vergebens um Mitstreiter bemüht. Erst in seinem Kabinettskollegen, dem CDU-Politiker und Innenminister Gerhard Schröder, habe er einen Bundesgenossen gefunden, nachdem die VVN auf dessen SA-Vergangenheit hingewiesen hatte. Doch die bundesdeutsche Justiz war erpressbar. Als das Verbotsersuchen beim Bundesverwaltungsgericht angelangt war, musste die VVN nur auf die Vergangenheit der Richter hinweisen, damit sie von einer Verurteilung Abstand nahmen. Wachs, der zwecks Recherche Oberländer bis zu seinem Tod 1998 häufig aufsuchte, ließ sich von ihm viel erzählen und gibt es gern weiter. Am 9. November 1923 beispielsweise, bei Hitlers Putsch, habe sich Oberländer eher zufällig

    "in den hinteren Reihe des Marsches auf die Feldherrnhalle wiedergefunden."

    Er war eben gerade in München auf Zimmersuche, war dabei in eine nächtliche Marschübung geraten und hatte in einer nahegelegenen Kaserne ein Gewehr in die Hand gedrückt bekommen. Und das Freikorps Oberland, eine terroristische Vereinigung, in deren Reihen er mit Hitler zur Feldherrnhalle marschierte, sei

    "alles andere als hitlerfreundlich gewesen. Es habe überhaupt keine innenpolitischen Ziele - bis auf den Schutz der Ostgrenze - gehabt."

    Wachs schildert Oberländers raschen Aufstieg nach 1933 als Volkstumsprofessor in Königsberg, Greifswald und Prag sowie als Spionageoffizier der Abwehr Politruk des Bataillons Nachtigall und Gründer der multiethnischen Einheit Bergmann in der Sabotagedivision Brandenburg nicht ohne Bewunderung und unterstreicht die gewiss manchmal nicht ungefährlichen Auseinandersetzungen, die er mit anderen Nazis hatte, in einem Maße, dass zuweilen der Eindruck entstehen kann, Oberländer sei ein heimlicher Widerstandskämpfer gewesen. Doch das ist in der polykratischen Struktur des Dritten Reiches eine normale Erscheinung. Wer etwa die Memoiren des ehemaligen Bundeskanzlers Kiesinger liest, der vor 1945 in Rundfunkfragen als Vermittler zwischen Außenminister Ribbentrop und Propagandaminister Goebbels tätig war, gewinnt schnell den Eindruck, dass die beiden Top-Nazis unmittelbar vor gegenseitigen bewaffneten Auseinandersetzungen standen.

    Oberländer verstand seine Volkstumspolitik stets als Sprengsatz gegen die Staaten, die im Gefolge des Ersten Weltkriegs entstanden waren. Dem dient sein Bataillon Nachtigall, dem vorwiegend antikommunistische und antisemitische Ukrainer angehörten ebenso wie die Sondereinheit Bergmann, mit der er die Russen mit Hilfe von in den Gefangenenlagern mehr oder weniger freiwillig angeworbenen Kaukasiern zu bekämpfen suchte. Begonnen hatte das schon früh im Kampf gegen die Tschechoslowakei. Hochrangiger Abwehragent "sammelte er", wie das Wachs nennt, "Führungserfahrung", als er im März 1939 mit dem sudetendeutschen Freikorps Sturmsoldat 9 in die tschechischen Grenzgebiete eindrang. Energisch lässt der Autor Oberländer einen Friedensmann sein, auch wenn der Beleg, den er dazu zitiert, genau das Gegenteil besagt. Wachs:

    "Außerdem glaubte Oberländer, Hitler werde nun von einer weiteren Aggressionspolitik absehen, denn in seiner berühmten Sportpalastrede Ende September 1938 hatte er die Angliederung der sudetendeutschen Gebiete als seine letzte territoriale Forderung bezeichnet. Zuversichtlich schrieb Oberländer am 22. September 1938 an seine Frau: 'Sei sicher: Ein Weltkrieg kommt nicht mehr, und die Tschechei allein besetzen ist nicht so schlimm!'"

    Eine merkwürdige Zuversicht des Spionageoffiziers Oberländer. Hitler verspricht im September 38, er habe nach Besetzung des Sudetenlandes keine weitere territoriale Forderung mehr zu stellen, und Oberländer schwärmt seiner Frau schon zum selben Zeitpunkt vor, die "Tschechei" zu besetzen - was erst ein halbes Jahr später geschah und in der Tat der erste Schritt zum Zweiten Weltkrieg war - die Tschechei zu besetzen, sei nicht so schlimm. Dass eine solche Verkehrung eines ungebrochenen Aggressionswillens zur Friedenszuversicht beim Professor einer Bundeswehr-Universität als Dissertation durchzugehen vermag, ist erschreckend.

    Philipp Christian Wachs ist sich sicher, viele neue und wichtige Dokumente zum Fall Oberländer erschlossen zu haben, doch eine andere Sache ist, wie er, beispielsweise mit den Briefen an die Ehefrau, mit ihnen umgeht. Dann gibt es auch Akten aus den USA - Oberländer stellte sich 1945 sofort in den Dienst des US-Geheimdienstes CIC gegen den alten roten Feind. Wachs muss feststellen:

    "Große Teile des Oberländer-Dossiers sind bis heute aus Gründen der Nationalen Sicherheit der USA gesperrt."

    Doch Wachs meint, dies mindere den Erkenntniswert der offenen Teile nicht; obwohl es doch nicht das erste Mal wäre, dass die USA durch Unterdrückung von Akten nützliche deutsche Kriegsverbrecher schützten - in Christopher Simpsons amerikanischem "Bumerang" konnte man da schon vor Jahren haarsträubende Fälle nachlesen. Wachs aber verlässt sich auf die ihm zugänglich gemachten, im Zweifelsfall harmlosen Akten, wie er sich darauf verlässt, dass ihm Oberländer seine privaten Unterlagen "ohne Einschränkungen" zugänglich gemacht hätte.

    Wissenschaftlichen Standards entspricht solche Vertrauensseligkeit nicht. Aber als Dissertation mag das bei der Münchner Bundeswehr-Universität durchgehen, an der ja auch bis zu seiner altersbedingten Pensionierung der rechte Extremist Franz W. Seidler jahrzehntelang als Professor die Offizierslehrgängen indoktrinieren konnte. Als Buch des Campus-Verlages entzieht sich dieses Werk schon einfachsten Kontrollen durch das Fehlen eines bei solchen zeitgeschichtlichen Publikationen unentbehrlichen Namensregisters. Oberländer, vor zwei Jahren verstorben, konnte das Erscheinen dieses Druckerzeugnisses nicht mehr erleben. Nach seinen anspruchsvollen Kriterien war die Arbeit sicherlich veröffentlichungswürdig. Er schrieb einmal, die Universität sei gleichsam

    "die Munitionsfabrik; die verschiedenen Institute und Propagandastellen bilden die Artillerie. Nicht jede wissenschaftliche Arbeit muss veröffentlicht werden; wenn sie politisch ungünstige Ergebnisse hat, unterbleibt die Veröffentlichung."

    Dieses Oberländer-Zitat aus dem Jahr 1936, das die Wissenschaft in den Volkstumskampf gegen den Osten stellt, findet sich nicht bei Wachs, sondern in einem anderen Buch, dessen Gegenstand nicht Oberländer ist, zu dem er allerdings den Anlas gab.

    "Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die 'Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften' von 1931 - 1945."

    Der Autor Michael Fahlbusch, der als Regional- und Verkehrsplaner in Athen und Basel Distanz zum Universitätsbetrieb hält, schreibt zu Beginn:

    "Die vorliegende Studie ist der Versuch einer umfassenden Bestandsaufnahme der Volkstumsforschung. Ausschlaggebend für die Erforschung der Volkstumsforschung im Dritten Reich wurde das Heidelberger Manifest von 1981, das von keinem geringeren als Theodor Oberländer mitunterzeichnet wurde."

    Im Heidelberger Manifest hatten am 17. Juni 1981 vorwiegend rassistische und NS-belastete Professoren "mit großer Sorge" das gebrandmarkt, was sie eine

    "Unterwanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von vielen Millionen von Ausländern"

    nannten. Fahlbusch:

    "Darin wird exemplarisch deutlich, wie sich personelle und ideologische Kontinuitäten über längere Zeiträume hin bewähren."

    Beide Autoren gehen völlig unterschiedlich an den Fall Oberländer heran. Wachs kapriziert sich etwa auf die Auseinandersetzungen zwischen Erich Koch und Oberländer. Fahlbusch dagegen empfindet es eher als erstaunlich, dass der NS-Gauleiter Ostpreußens Oberländer zu "ostdeutscher Grenzarbeit" für unfähig hielt, da der doch immerhin 1940 in der Zeitschrift "Neues Bauerntum" die politische Auffassung vertrat:

    "Es ist unmöglich, dass in einem Gebiet, das ja die Wachstumsrichtung und Wachstumsspitze unseres Volkes darstellt, auf Dauer fremdes Blut überhaupt die Ehre haben darf, deutschen Boden zu bebauen."

    Gewiss lagen Oberländer, was Wachs stets betont, gemäßigt humanitäre Erwägungen gegenüber Ostvölkern nicht völlig fern. Er wollte beispielsweise die polnischen Bauern entschulden. Allerdings, darauf verweist Fahlbusch, durch Enteignung der jüdischen Bevölkerung. Und bei Enteignung blieb es nicht. Ganze Bevölkerungen wurden - auch bei Oberländer - in Überbevölkerungen umdefiniert, damit die deutschen Einsatzgruppen mit ihnen Tabula rasa machen konnten. Oberländer wurde so, was Wachs entschieden bestreitet und der Historiker Götz Aly längst belegt hat, zum "Vordenker der Vernichtung". Fahlbusch aber sieht in den bisher wenig beachteten "Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften", die schon in den Zwanziger Jahren die Universitäten durchdrangen und viele Historiker erfassten, auch Oberländer, schließlich den "Bestandteil einer Völkermordpraxis".

    Otto Köhler über Philipp-Christian Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905 - 1998), Ein Lehrstück deutscher Geschichte, Campus Verlag, Frankfurt, 533 Seiten, DM 78 und über Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?; Die "Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" von 1931 - 1945, Nomos Verlagsgesellschaft, 887 Seiten, DM 138.