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Der Fanfare hinterher

Das rumänische Dorf Zece Prajini ist vor allem für eines bekannt: seine Klänge. 80 Prozent der männlichen Einwohner sind Musiker. Und die Musik der Roma reißt nicht nur die Einheimischen mit - auch Touristen werden schnell gepackt.

Von Franz Lerchenmüller | 06.06.2010
    Musik liegt in der Luft, auch an diesem Abend in Zece Prajini. Kein Wunder: Musik ist für die Menschen dieses Dorfes im Nordwesten Rumäniens ein Bestandteil ihres Lebens. Und Musik ist wesentliches Element dieser Reise. Neun Tage lang führt sie durch verschiedene Teile Rumäniens und stellt Musik unterschiedlicher Stilrichtungen vor: Immer aber ist es Musik der Zigeuner, wie sie sich selbst nennen. Musik der Roma, wie sie von anderen genannt werden wollen, weil das Wort Zigeuner von fremden Mündern zu oft mit zu viel Hass, Verachtung und Misstrauen ausgestoßen wurde und wird.

    Zece Prajini ist berühmt in Musikerkreisen. 80 Prozent der Männer sind Musiker, hauptberuflich oder nebenbei. Von hier stammen die elf Mitglieder der "Fanfare Ciocarlia", die ab 1997 die Konzertbühnen der Welt eroberte.

    Es waren Henry Ernst und Helmut Neumann aus Berlin, die die Musiker entdeckten.

    "Henry, mein Partner, ist '96 mehr oder weniger durch Zufall in das Dorf gekommen, hat am Dorfeingang den Fanfarenältesten getroffen, und hat auf seinem Hof das erste Mal die Blasmusik der Region präsentiert bekommen. Er war beeindruckt, weggeblasen, kann man fast sagen, von der schier ungezähmten Kraft der Blasmusik, die sich über den Bauch im Körper ausbreitet und der man sich einfach nicht entziehen kann."

    Die beiden organisierten eine Tournee durch Deutschland, und während des kommenden Jahrzehnts eroberte die Fanfare mit ihren zerbeulten Instrumenten die Bühnen aller Kontinente.

    Heute Abend aber haben einige der Weltstars sozusagen ein Heimspiel. Zusammen mit Freunden aus dem Dorf geben sie ein Konzert auf dem Hof eines unfertigen Neubaus. Zehn Musiker, in Jeans und Lederjacke meist, sind angetreten. Noten braucht keiner von ihnen.

    Vor ihnen stehen und staunen die Zuhörer, Roma und Deutsche bunt durcheinander: Finger schnipsen, Schultern zucken, Füße wippen: Welchen Sog so ein einfacher rumänischer Volkstanz zu entwickeln vermag! Und über welche Musikalität diese Naturtalente doch verfügen!

    "Richtige Amateure waren sie nie. Unter Ceaucescu hatten alle feste Arbeitsstellen, größtenteils in der Rohrfabrik in der benachbarten Stadt. Das heißt, man ist früh in die Stadt gefahren zur Schicht, an Wochenenden hat man schon immer, seit sie im spielfähigen Alter waren, Musik gemacht auf Hochzeiten. Mit der Revolution und dem Zugrundegehen von einem Großteil der Ökonomie in Rumänien sind sie natürlich alle arbeitslos geworden, und es wurde auch immer schwieriger, mit der Musik Geld zu verdienen, weil es weder ökonomisch noch leistbar war, sich eine 15-köpfige Fanfare zu engagieren, noch es en vogue war. Fanfaren waren irgendwie auch out."

    Im Westen aber traf die wilde Blasmusik genau den Nerv eines Publikums, das sich wieder nach hand- und mundgemachter Musik sehnte.

    1996 war Zece Prajini ein von der Welt vergessener Flecken gewesen.

    "Als wir ins Dorf kamen, gab es weder Festnetztelefon noch Mobiltelefonempfang. Als Transportmittel war der Zug da. Der Zug wurde auf Schrittgeschwindigkeit runtergedrosselt, um die Brücke zu passieren, weil sie baufällig war - dort wurde auf- und abgesprungen. Es war auf keiner Landkarte, es gab keinen Wegweiser, es war wirklich ein abgeschiedenes Dorf."

    Der Erfolg der Gruppe aber brachte Geld ins Dorf. Und veränderte dessen Gesicht grundlegend.

    "Das heißt: Eine Bar reichte bald nicht mehr, es gab dann zwei, drei, vier und heutzutage fünf Bars inklusive Krämerläden. An jeder Stelle sieht man, neue Häuser werden gebaut, es gibt fließend Wasser in einigen Häusern, jeweils aus Brunnen mit der elektrischen Pumpe, es gibt Festnetztelefon - in dem Dorf hat sich schon sehr, sehr viel geändert."

    Mit dem Geld kam freilich auch der Neid, gibt Gisneaca Ursus zu, der Percussionist der Fanfare.

    "Klar haben wir gutes Geld verdient und konnten uns etwas aufbauen. Andere Familien sind einfach stehengeblieben und haben es zu nichts gebracht. Die haben sich wohl inzwischen mit den Unterschieden abgefunden. Aber wir kümmern uns auch um sie. Wir stecken ihnen schon mal ein paar Scheine zu, dass sie sich ein paar Liter Öl holen können, oder einen Laib Brot. Ansonsten grüßt man sich auf der Straße - aber das war's dann auch."

    Anderntags steht ein Spaziergang durchs Dorf an. Zece Prajini ist eine reine Roma-Siedlung mit 400 Einwohnern. Entlang der Hauptstraße überwiegen neue Ziegelbauten mit Dächern und Zierblenden aus Zinkblech, ein paar alterskrumme Lehmhäuschen mischen sich dazwischen. Das nagelneue orthodoxe Kirchlein mit seiner bunten Ausmalung haben die Musiker dem Dorf spendiert. Erstaunlicherweise sind nur wenige Männer zu sehen. Mario Sorin, der gerade Maiskolben abstreift, klärt die Besucher auf:

    "Das große Problem in diesem Dorf ist: Alle müssen ins Ausland, um Arbeit zu finden: Sie fahren nach Spanien, Italien, Deutschland, England oder Portugal - bei uns gibt es einfach keine Arbeit."

    Auch die zehnjährige Maria weiß schon genau, was es heißt, dass ihr Vater in Italien "in den Tomaten" arbeitet:

    "Es gibt bei uns viele Leute, die das Dorf verlassen und im Ausland arbeiten. Die schuften dort wirklich hart, für 50 bis 60 Euro im Monat - oder in der Woche, so genau weiß ich das nicht. In Italien bekommen sie ihr Geld am Monatsende. Dann kommen sie wieder zu uns zurück und bringen das Geld mit."

    Und außerdem würden die Kinder jetzt gerne mal zeigen, dass sie nicht weniger musikalisch sind als die Erwachsenen.

    Doch jetzt wird es Zeit, das Dorf der berühmten Blasmusiker zu verlassen und nach Westen weiterzureisen.

    Während der langen Busfahrt zieht Rumänien vorbei wie ein Dokumentarfilm aus der Reihe "Bauernidylle - damals". Rot prunken die Äpfel in den Bäumen, verwilderte Weinberge wechseln mit Hopfenplantagen, Heustöcke wachsen wie Pilze aus dem Boden. In den Dörfern mit den sonnenrissigen braunen Holzhäusern, den gedrungenen Kirchen und den schnatternden Gänseherden lassen gebeugte Frauen ihren Lebensabend ausklingen. Zwischendurch aber, als Erinnerung an eine andere Gegenwart, stehen immer wieder vor exakt ausgerichteten Maisfeldern Plastikschilder in Reih und Glied: Westliche Saatgutkonzerne nutzen Rumänien als Experimentierfeld.

    Medias heißt das nächste Ziel. Eine neue Stadt - und neue Klänge:

    "Medias liegt in Transsilvanien, Transsilvanien ist deutsch und ungarisch beeinflusst. Die Roma-Musik in Transsilvanien ist ungarisch beeinflusst. Wir haben Instrumentierung ähnlich wie im Süden Rumäniens, also eher Streicher, Akkordeon..., aber das perkussive Element ist wesentlich mehr ausgeprägt."

    "Erinnert so ein bisschen an die Csardas-Musik, die man aus Ungarn kennt."

    Medias ist eine Kleinstadt im Herzen Rumäniens, mit 50.000 Einwohnern und mittelalterlichem Kern. Das Konzert findet etwas außerhalb in der Pizzeria Transilvania statt. Fünf Herrn in schwarzen Hosen und akkurat gebügelten weißen Hemden haben sich mit ihrer Anlage hinter einer kleinen Tanzfläche aufgebaut. Der Violinist, mit schwarzer Samthose, silberner Gürtelschnalle und goldenem Kreuz im offenen Kragen, gibt ein Zeichen - und ab geht der Musikexpress!

    Sechs halbwüchsige Jungs und Mädchen sind vom Tisch aufgestanden und legen jetzt eine Schuhplattlereinlage hin, die jeden Älpler vor Neid erblassen ließe.

    Es klingt alles so mühelos, so gar nicht nach Arbeit und angestrengtem Üben. Haben sie tatsächlich die Musik im Blut, die Spielleute der Roma? Anton Tudor ist der Saxophonist, Nelutu Lunca der Geiger der Gruppe, die keinen Namen hat.

    "Wenn wir einen Auftritt haben, müssen wir uns natürlich vorher abstimmen: Wann kommt welcher Einsatz, wer hat welche Soli? Aber das kriegen wir in einer halben Stunde gut hin. Wir spielen alle ja auch in anderen Besetzungen auf Hochzeiten und so. Da hört man dann schon öfter mal ein neues Stück. Wenn einer von uns etwas Interessantes findet, sagt er zu den anderen: 'Hier, ich hab was Neues', und verteilt die CD. Die hört sich dann jeder zu Hause an, und wenn wir uns treffen, improvisieren wir und versuchen das hinzubekommen. Das klappt meistens ganz gut. Wir können natürlich Noten lesen - aber wir brauchen keine, um zu spielen."

    Lohnt sich das Musikmachen eigentlich - wenn man nicht zu den großen Stars gehört, sondern sein Geld bei Auftritten auf dem Land verdienen muss? Steht man sich zum Beispiel besser als ein, sagen wir mal, Kesselschmied?

    "Nein, nein. Einer dieser Kessel, die die Kesselschmiede herstellen, kostet zwischen 700 und 800 Euro. Daran arbeiten sie etwa drei Tage. Wir brauchen eine Woche, um über Hochzeiten und Feste soviel Geld hereinzubekommen. Und die Engagements - die müssen wir erstmal haben."

    Worum geht es eigentlich in den Liedern, die sie spielen? Um Liebe, Schmerz, das Leben auf der Landstraße? Nelutu Lunca will nicht so viel erklären. Der Geiger und Sänger gibt lieber ein Beispiel.

    "Ich habe zu Hause zwei Kinder, die sind so schön wie zwei Blumen. Da stirbt das ganze Zigeunerviertel, weil meine Kinder so schön sind."

    Da wollen denn auch die deutschen Gäste mal nicht zurückstehen und bedanken sich mit einem spontanen Beitrag aus der Romantik:

    Den meisten Rumänen dagegen soll niemand mit Zigeuner-Romantik kommen. Zwar ist nach einer aktuellen Umfrage die Toleranz der Bürger gestiegen: Nur noch 20,8 Prozent sind strikt dagegen, dass Roma überhaupt in Rumänien leben, statt der 28,3 Prozent vor sieben Jahren. Je näher die Fragen freilich an den persönlichen Lebensbereich rücken, desto schwieriger wird es mit der Gelassenheit: Einen Rom oder eine Romni in die Familie einheiraten lassen? Davon halten zwei Drittel aller Rumänen nach wie vor überhaupt nichts. Und auch für die Spielleute gilt häufig: "Sie kommen als Musiker und gehen als Zigeuner."

    Der nächste Abend katapultiert die Besucher abrupt in die städtische Gegenwart. Im Lokal "Ursitoáre" in Bukarest steht Manele-Musik auf dem Programm, der moderne, allgegenwärtige Klangteppich des Balkan.

    "Wir haben in den letzten 20, 30 Jahren, was die Roma-Pop-Musik ist, die Ende der Ceaucescu-Zeit verboten war, großen Erfolg in der Subkultur hatte. Mittlerweile wird es von vielen als Fluch über dem Lande gesehen, weil es wirklich flächendeckend die Städte zuschüttet mit billig produzierten "Manele", wie man das dann im Plural sagt, und es eine Industrie geworden ist, die mit der Tradition des Landes nicht mehr viel zu tun hat."

    Erst gegen zehn halten die Vorstadtköniginnen Einzug im Lokal, die muskelbepackten Kleinganoven und die ganz normalen Büroangestellten. Je weiter die Nacht fortschreitet, desto roher wird die Musik. Der Sänger schiebt sich von Tisch zu Tisch und huldigt den Spendern größerer und kleinerer Lei-Scheine. Hauptsache laut, Hauptsache schnell, Hauptsache keine Pause.

    Wie anders ist dann doch Clejani. Clejani liegt mitten in der Walachei, südlich von Bukarest, ein überwiegend rumänisches 5000-Einwohner-Dorf mit einer Straße von besonderer Bedeutung. Aus der "Strada Lautarilor" kommt die zweite Roma-Gruppe mit Weltgeltung, die "Taraf de Haidouks". Die Musik von hier klingt ganz anders als im Norden.

    "Instrumentierung im Süden Rumäniens, in der Walachei: Geigen, Akkordeon, Kontrabass, Cymbal. Also vorwiegend Saiteninstrumente und das Akkordeon natürlich, plus Gesang, das nennt man Taraf, Taraf heißt so viel wie loser Haufen. Repertoire? Es sind Tänze, und es ist Tischmusik, die Musica askultare, eher ruhigere Stücke, Musik, die sich nicht zum Tanzen eignet, die gespielt wird, wenn gegessen wird."

    Fünf nicht mehr ganz junge Herrn sind an diesem Abend auf der Strada Lautarilor angetreten. Sie sind alte Hasen - aber immer noch begeistert von dem, was sie machen:

    "Seit 50 Jahren gehen wir unserm Handwerk nach. Ich bin 75, er ist 73. Wir spielen, seit wir Kinder waren. Und wir sind richtige Volksmusiker. Wir verändern keine Lieder, wie die das bei der Manele machen. Wir spielen die traditionelle Musik unserer Gegend."

    Und noch einmal die Frage: "Wovon handeln diese mal so flotten, dann wieder todtraurigen Lieder?

    "Es geht um die Frauen und um die Liebe und die Jungs, die den Mädchen hinterherlaufen. Und dann gibt es auch Lieder, die handeln von Feindschaft. Wenn der Feind versucht zu fliehen."

    Eigentlich kam mit dem Erfolg der Taraf de Haidouks viel Geld in die Strada Lautarilor. Trotzdem macht sie keinen besonders gepflegten Eindruck.

    "Es gibt da das eine oder andere gut funktionierende Haus, wo aber die Lebensbedingungen auch moderat sind: klein, viele Menschen auf engem Raum, hinten angebaut, immer weiter verlängert, die Häuser, und es gibt aber auch die Lehmhütten, wo es sich um ein Zimmer, zwei Zimmer handelt, wo dann eine Großfamilie lebt, mit offenem Feuer vorm Haus, keine Grundstücksabgrenzung, Kinder unbekleidet oder fast unbekleidet umherlaufen, im Winter schon auch barfuß rumlaufen, wo wirklich große Armut sichtbar ist."

    Wo aber ist das ganze Geld geblieben, aus all den CDs, den Konzerten und Tourneen?

    "Das hab ich einmal erlebt, dass ein Musiker mit viel Geld nach Hause kam, durchs Dorf gegangen ist und das Geld aus der Plastiktüte verteilt hat. Da ist auch eine Art der Satisfaction: Geld, das man hat, unter die Leute zu bringen, sich damit natürlich auch zu produzieren, aber auch Guts zu tun - das ist ein klasse Bild für dieses Dorf. Großzügigkeit, Nachbarschaftshilfe, Einladungen, gemeinsam zechen, Feindseligkeiten, Abgrenzung, Neid und Eifersucht gehen Hand in Hand: Heute so, morgen so."

    Es ist eine andere Welt - sehr fremd für Mitteleuropäer, die sich doch so viel auf Planung, kühlen Kopf und Sparsamkeit zugute halten. Die Klänge dieser anderen Welt aber – die reißen die Gäste aus Deutschland vom Hocker. Und das im wahrsten Sinn des Wortes:

    "Mich faszinieren die Zigeuner mit ihrer Fähigkeit, Gefühle auszudrücken, und das machen sie ja sehr viel auch in der Musik. Sie können so ihr Innerstes nach außen kehren, und da hält's auch mich nicht auf dem Stuhl und ich muss dann tanzen."

    "Hier ist ein Schmelztiegel aus ganz vielen Richtungen, ganz stark ist das Janitscharische, das ist einfach unüberhörbar. Wer dies kennt aus der Türkei, der wird immer wieder heftig daran erinnert, dieses rhythmische Stakkato oder wie man das nennen soll - davon geht für mich eine Faszination aus."

    "Was ich faszinierend finde, ist diese Vitalität und diese Musikalität, natürlich auch ein bisschen die Exotik - den Rest muss ich erst mal verarbeiten."

    Und auch Helmut Neumann, der seit Jahren beruflich mit der Musik der Roma verbunden ist, wird immer noch und immer wieder davon gepackt.

    "Es ist eine Musik, die sehr, sehr emotional geladen ist. Ich kann mich ihr nicht entziehen. Es ist eine Musik, die eine Lebendigkeit mit sich bringt, eine Seele, die Emotionen weckt, wo Freudenausbrüche provoziert werden, aber auch Tränen provoziert werden - das alles vorgetragen von Musikern, die es mit Leib und Seele tun. Das transportiert sich in der Musik und dem kann ich mich nicht entziehen."