Dienstag, 30. April 2024

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Der Fernsehgast oder wie ich lernte die Welt zu sehen

Jedes Mal spürte ich am Anfang von neuem, dass beim Fernsehen und nur beim Fernsehen meine Augen ihre maximale Öffnungsfähigkeit erreichten. Und hatte man den Blick erst einmal auf den flimmernden Schirm gerichtet, schaffte man es nicht mehr, ihn abzuwenden. Er haftete daran wie eine Fliege am Fliegenfänger und saugte süßen Honig.

Gisa Funck | 21.08.2002
    Hier spricht ein kleiner Junge. Acht, vielleicht neun Jahre alt. Allerdings schon süchtig. Denn am liebsten stiehlt sich dieser kleine Junge von zuhause fort, um bei fremden Leuten zu klingeln. Seine immergleiche Bitte: Er möchte fernsehen. Als ständiger Fernsehgast ist der Junge bereits bei den Nachbarn berüchtigt. Man schreibt das Jahr 1960. Vico Torreani singt schmachtend von der Ferne. Selbst dann noch, wenn er auf dem Bildschirm nur Karamellpudding anpreist. Dank des Wirtschaftswunders herrscht Aufbruchsstimmung in Deutschland. Man ist wieder wer. Und man verreist gern. Auch im Fernsehen.

    Der kindliche Ich-Erzähler in Kurt Oesterles Roman ist ein "Parteigänger dieser neuen Zeit". Und als solcher schwärmt der Junge besonders für eine Serie über einen tollkühnen Testpiloten. Ein Leben voller Abenteuer und Rasanz, das wünscht er sich. Das Fernsehen wird bei Oesterle zum Sinnbild eines einschneidenden Wandels. Der Junge wohnt nämlich in einem Dorf, wo es im Gegensatz zum Fernsehprogramm höchst behäbig zugeht. Geradezu archaisch. Sein Vater ist Schreiner und Sargmacher mit Werkstatt im Haus. Zusammen mit der Mutter und den Großeltern wohnt man unter einem Dach. Stille, fromme Leute sind das, die ihre Tage nach dem Gebimmel der Kirchenglocken ausrichten. Die stets ein Abendgebet sprechen. Und die natürlich keinen Fernsehgerät besitzen. Auch kein Telefon. Noch nicht einmal ein Badezimmer. Das Zimmer des Jungen heißt hier noch "Bubenkammer". Über seinem Bett hängt ein Jesus mit Dornenkrone. Und mit dem Fernsehen bricht nun die große in die kleine Welt ein. Entsprechend bestimmen Antagonismen den Plot. Tradition versus Fortschritt, Bilderflut gegen Bilderarmut. Wenn man nicht wüsste, dass es sich tatsächlich um eine autobiographische Geschichte handelt, könnte man schon den Eindruck gewinnen, Oesterle habe sie klar auf Kontraste hin konstruiert.

    So bilderbuchartig abgezirkelt wirkt seine Romanwelt streckenweise. Der Vater des Jungen singt wie alle guten Menschen Volkslieder. Zu Weihnachten wird selbst geschlachtet. Und unter den Dörflern kursieren ungefähr dieselben Gerüchte über das Fernsehen wie man sie schon als Topos über die Eisenbahn kennt, als diese eingeführt wurde. Man könne blind vom Fernsehen werden, heißt es. Es drohe gar Seelenverdammnis. Damit sein Provinzkosmos allerdings nicht gänzlich auf Postkartenformat zusammenschrumpft, hat Oesterle dann immerhin doch noch einige Untiefen eingebaut: Der Großvater hat eine heimliche Geliebte.

    Der Vater trägt ein "Loch im Bauch" dank einer Kriegsverletzung. Nachts schreit er im Schlaf, weil ihn die schlimmen Erinnerungen verfolgen. Und auch der Junge muss erfahren, dass es durchaus auch Bilder gibt, die einen quälen können. Die Fotos von nackten Jüdinnen kurz vor ihrer Erschießung, die ihm Klassenkameraden zuschustern, kann er nicht mehr vergessen. In seinem geliebten Fernsehprogramm kommen solche Bilder nicht vor. Der Kniff von Oesterles Medienkritik besteht also gewissermaßen in ihrer Verpackung. Indem er ausgerechnet einen glühenden Anhänger des neuen Mediums zum Sprachrohr macht, klingen dessen Nachteile stets nur im Hintergrund an. Dafür aber um so nachdrücklicher. Gleich zweimal ist in seinem Buch vom "Bauchhöhlengefühl des Fortschritts" die Rede. Bald, das ist absehbar, werden nicht mehr die Kirchenglocken, sondern die Sendeanfänge den Rhythmus im Dorf bestimmen. Schließlich schwankt die hergebrachte Ordnung bereits. Ausgestattet mit seinem neuem Fernsehwissen entlarvt der Junge die Sprüche der Älteren zunehmend als Mythen. Noch hält er sich zwar zurück, seine Eltern und Großeltern bloß zu stellen. Doch längst glaubt er ihnen nicht mehr alles. Und immer öfter erzählt er ihnen Lügen, die sie als Fernseh-Unkundige nicht enttarnen können.

    Oesterle verknüpft den individuellen Prozess einer Abnabelung demnach geschickt mit dem sozialen Umbruch durch eine technische Innovation. Das ist zweifellos klug komponiert und stilistisch durchgefeilt. Leider jedoch passt sein Tonfall nicht immer zum Erzähler. Mal spricht der Junge aus Kinderperspektive, mal aus der Perspektive eines zurückblickenden Erwachsenen. Einerseits versteht er da - noch ganz Kind - etwa nicht, warum sein Großvater einer fremden Frau die Haare mit Eigelb massiert. Weil er sich noch keine Vorstellung und keinen Begriff von Liebe außerhalb einer Ehe machen kann. Andererseits aber reflektiert der Junge ständig über seine Fernsehleidenschaft und die Veränderungen im Dorf. Und zumindest an diesen Stellen klingen dann arg durchdacht und bemüht. Etwa, wenn er so Sätze sagt wie: "Das Schmackhafteste, was der Fernsehgast zu bieten hatte, war sein Bittstellersatz". Das sind keine Sätze für einen Neunjährigen. Das sind Erwägungen des studierten Germanisten und Essayisten Oesterle, der vor lauter Reflexion mitunter das Erzählen vergisst.