Dienstag, 21. Mai 2024

Archiv


Der filmische Blick auf die Gewinner und Verlierer

Neben dem Wettbewerbsprogramm ist bei den Filmfestspielen in Cannes auch die Sektion "Un certain regard" zu sehen. In den Filmen werden die Verlustrechnungen aufgemacht, das Verzeichnis der Flurschäden der Globalisierung, der digitalen Parallelwelten mit ihrem Starkult.

Von Christoph Schmitz | 20.05.2013
    Der Eröffnungsfilm des diesjährigen Festivals hatte den Ton vorgegeben, "The Great Gatsby" von Baz Luhrmann: die Welt der Superreichen einerseits, die Welt der Superarmen andererseits, der große Partyrausch voller Glitzer, Glamour und Gier hier und der tägliche Überlebenskampf voller Tristesse, Angst und Elend dort. Dieser Auftaktakkord klingt programmatisch hinein bis in die Sektion "Un Certain Regard", das offizielle Programm jenseits des Wettbewerbs. Die Verlustrechnungen werden hier aufgemacht, das Verzeichnis der Flurschäden der Globalisierung, der digitalen Parallelwelten mit ihrem Starkult und allem dazugehörigem Marken-Fetischismus. Die amerikanische Regisseurin Sofia Coppola, die in ihren Filmen bekanntlich die Schönen und Reichen in Geschichte und Gegenwart unter die Lupe nimmt, beobachtet in ihrer neuen Arbeit, "The Bling Ring", eine Gruppe Jugendlicher aus wohlhabenden Familien in Los Angeles. Die jungen Leute zieht es magisch und manisch in die Häuser ihrer Hollywood-Stars.

    Die Jugendlichen berauschen und bereichern sich in den Luxusvillen der Kino- und Boulevard-Ikonen.

    Die französische Regisseurin Rebecca Zlotowski aber hat die Verlierer im Blick. Ihr Film "Grand Central" spielt im sonnigen Süden Frankreichs, im und um das Atomkraftwerk in der Nähe Avignons. Bei den schmutzigen und gefährlichen Arbeiten kommen die sozialen Loser zum Einsatz, die, die sonst keinen Job finden, weil sie Einwanderer sind oder noch nie etwas auf die Reihe bekommen haben. Kurz geschult reinigen ihre Trupps die riskanten Kraftwerkbereiche, damit das System funktioniert und das Land seinen billigen Strom bekommt.

    Zlotowski macht aber kein Problemkino. Ihr Film ist frei von der Attitüde – schaut mal her, wie’s hier zugeht! Das liegt zum einen an ihren überragenden Darstellern, an Lea Seydoux, die von Zlotowski fürs französische und internationale Kino entdeckt wurde. Und es liegt an dem französischen Schauspieler Tahar Rahim. In der Mimik des jungen Talents spielen Sehnsucht, Verletzlichkeit und Gewaltbereitschaft einer in Bedrängnis geratenen Gesellschaft. Dass Rebecca Zlotowkis "Grand Central" kein Heulsusen-Film ist, liegt auch an ihren Bildern. Der Realismus ist ungeschönt und hart, zugleich schwingt eine Poesie des Lichts mit. Das Licht-und-Schatten-Spiel an den bewaldeten Ufern des Rhone-Tals verleiht den Menschen an diesem radioaktiven Ort Schönheit und Würde, als wollte Zlotowski sie von der Soziologie befreien.

    In einem anderen Film kommen die Oberschichtswelt einer Coppola und die Unterschichtswelt einer Zlotowski zusammen, in "Bends" von der Chinesin Flora Lau. Die Frauen: Sie sind in der Reihe "Un certain regard" auch im Regiefach stark vertreten, anders als im Wettbewerb, wo nur eine Frau, eine Italienerin, mit von der Partie ist. Flora Lau zeigt in "Bends" einige Tage im Leben einer einflussreichen Dame in Hongkong und ihres Chauffeurs. Beide stecken sie in persönlichen Krisen. Sie lebt in einer Villa hoch im Grün der Berge mit Blick auf die Stadt. Die Kinder studieren im Ausland. Eine Dienerin nimmt ihr jeden Handgriff ab. Doch plötzlich ist ihr Konto gesperrt, ihr Mann kommt nicht wieder, hat sich davongemacht, mühsam nur kann die Frau die Luxusfassade gegenüber ihren Freundinnen aufrechterhalten.

    Der Chauffeur hat andere Sorgen. Seine Frau, mit der er jenseits der Hongkong-Grenze lebt, ist schwanger mit dem zweiten Kind, verboten in der chinesischen Einkindpolitik. Damit es eine gesellschaftliche Chance hat, muss das Kind in Hongkong zur Welt kommen. Zu teuer für den bescheiden lebenden Chauffeur, was immer er auch unternimmt.
    Es dauert lange, bis der Chauffeur und seine Chefin miteinander reden können. Irgendwann klappt es. Von Dauer wird das Gespräch kaum sein. Eine unaufdringlich inszenierte Geschichte, wie so viele in diesen Cannes-Tagen. Ohne großen avantgardistischen Eifer, aber genau, subtil, kühl und mit lyrischem Unterton.