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Der Flügel des Engels

Amerikanische Beat-Literatur

Hannelore Schlaffer |
    Neal Cassady: Der Flügel des Engels. Übersetzt von Liesl Nürnberger-Körbler, Gerald Jung. Hannibal Verlag, 255 Seiten Preis: 35 Mark

    Joyce Johnson: Warten auf Kerouac Übersetzt von Thomas Lindquist. Antje Kunstmann Verlag, 279 Seiten Preis: 29,80 Mark

    Ed Sanders: Der Sommer der Liebe. Tales of Beatnik Glory Übersetzt von Erwin Einzinger Hannibal Verlag, 251 Seiten Preis: 35 Mark

    1969 hat Rolf Dieter Brinkmann "Acid", eine Anthologie amerikanischer Beatliteratur, gesammelt und damit den Versuch eröffnet, auch in der deutschen Dichtung die bürgerliche Moral zu brüskieren, lyrische Formen zu banalisieren, den Alltag zum Thema zu machen und Sex, Brutalität, Perversion als Sujets zu akzeptieren. Die Studentenbewegung ist dennoch in Deutschland eine kulturelle Revolution ohne literarische Folgen geblieben. Sie hat ein eigenes politisches Konzept entwickelt, wenngleich sich auch dessen aktuelle Forderungen an die Antivietnam-Bewegung in Berkeley anlehnten. Ebenso übernahm die studentische Linke den neuen Lebensstil, der jenseits der Meeresbucht von Berkeley in San Francisco proklamiert und probiert wurde. Dürftig blieb, von Brinkmann abgesehen, allein die Rezeption der amerikanischen Revolte in der Literatur.

    Wer heute noch einmal in der überfüllten literarischen Szene den Luftzug der Revolution spüren will, muß sich daher der amerikanischen Autoren erinnern. Die Vorläufer der Beat-Literatur, die schon am Anfang des Jahrhunderts geboren wurden, Bukowski und Burroughs, zählen auch hierzulande zu den Klassikern des 20. Jahrhunderts. Die Werke ihre Schüler, Ginsbergs, Frank O'Haras und Kerouacs, die in den späten fünziger Jahren in ihren Lesungen die neue Freiheit mit pastoraler Feierlichkeit verkündeten, ebenso wie die ihrer Nachfolger in den späten sechzigern, Michael McLures, Neal Cassadys und Ed Sanders', sind Kultbücher der Jugend, die gelesen, aber nicht nachggeahmt werden. Auch im gegenwärtigen literarischen Leben haben sie keine nennenswerten Folgen. Die Exotik von "On the Road" etwa liegt in der zeitlichen, nicht in der räumlichen Ferne seiner Kulisse, denn diese ist mittlerweile hinlänglich bekannt. Das Buch wird gelesen wie ein Märchen aus uralten Zeiten, von dem man nicht genug haben kann, eben weil es keine Wiederkehr und auch keine literarische Wiederbelebung gibt.

    Die Linken, die im Verlagswesen wie auch sonst im kulturellen Leben grau geworden sind, graben mit den Autoren der Beat-Generation noch einmal ihre Jugend aus und stellen sie auf CDs oder in Erinnerungsbüchern der nächsten Generation vor, die, wie einstmals die der Siebziger, auch heute wieder auf dem hohen Koturn der Plateausohlen der Zukunft entgegengeht. Im Gedächtnis der Dabeigewesenen stellt sich die Vergangenheit als traumwandlerischer Tanz dar. Die kulturelle Revolution der sechziger Jahre erstrahlt in den autobiographischen Schriften in einem Glanz, den sie selbst in Amerika nie gehabt hat. Die kulturellen und literarischen Neuerungen jener Jahre waren ohne Kampf, Aggression, Provokation nicht zu denken gewesen. Auch Brinkmann wählte damals nur die sexuellen und fäkalischen Texte der dirty speech-Poesie aus; sie hat seinerzeit vorübergehend in Deutschland, etwa durch Bernward Vesper und Michael Buselmeier, zur Entwicklung einer Sprache der Verachtung geführt, wie sie die Literatur vorher nicht gekannt hat.

    Ed Sanders "Sommer der Liebe" aber, eine Sammlung von autobiographischen Essays, in denen sich der Autor der Epoche der Beatles und Hippies erinnert, verbreitet eitel Sonnenschein. Nicht nur in dem Kapitel "Die große Verwandlung der Beatniks in Hippies im Tompkins Park" geht im wörtlichen Sinne die Sonne auf, wenn die Beat-Generation in einem rituellen Akt die schwarzen Sonnenbrillen auf einen Scheiterhaufen wirft, um ungeschützten Auges das Licht einer neuen Welt zu erblicken: "The Wild Women of East Tenth, zu dritt, brachten ein gewaltiges Sortiment von Beatnik-Designersonnenbrillen, um sie alle wegzuwerfen. Indian Annie brach die dunklen Gläser heraus, ersetzte sie durch glänzend rosafarbene und reichte sie den danach ausgestreckten Händen der glitzernden Menge." Das feierliche Ritual, das, wie bei den Christen das Weihnachtsfest, Licht und Freude in die Welt brachte, hatte sich schon vorbereitet im "Spontaneaous Ballet of Avenue A", einem ekstatischen Tanz, ausgelöst von einem Postboten, der auf dem Gehsteig einen Steptanz vollführte, während er die Post austrug: "Im Anschluß daran breitete sich das Spontaneous Ballet unverzüglich aus. Die Leute fingen an, auf die Straßen herauszutänzeln und herumzuzucken, sie drehten sich und wirbelten im Kreis, wenn sie bei Grün die Fahrbahn überquerten, rissen die Arme hoch, hüpften im Stand, während die Hörner, Tubas und Baßtrommeln des Celestial Freakbeam Orchestra ihrem Tanz den Segen erteilten."

    Auch der Leser wird in den Wirbel des Glücks hineingezogen, der doch wenigstens für Stunden Wirklichkeit gewesen sein muß. Sanders schildert die Besuche im "Psychodelikatessen-Laden" als ebenso berauschende Erlebnisse wie die literarischen Abende im Peace Eye Bookstore oder auf der "Jahreshauptversammlung der verrückten Songschreiber und jodelnden Sozialisten". Der Hippie-Hill wird zu einem Corso, auf dem ein Karneval stattfindet, aber weder ein römischer noch ein christlicher, denn das Böse, das Dämonische, der Schrecken müssen nicht einmal mehr gebannt werden - es gibt sie einfach nicht. Alles ist Tanz, Rausch, fröhliche Narrheit, Gedicht. Auch "Der Mann, der Brecht liebte", ist kein politischer Fanatiker, sondern ein taumelnder Tor, der an dem deutschen Dichter einen Narren gefressen hat. Was sich hier ereignet, ist ein Ritual ohne Zukunft. Denn auch dieses Glück währte, wie jedes, kurze Zeit und lebt nur noch auf dem Papier.

    Die amerikanische Verfassung, wie sie auf dem Lincoln-Square mitten in New York in Stein gemeißelt steht, verpflichtet die Nation auf "happiness maximation" - und damals scheint sich dieses Glück überschlagen zu haben. Als Grundgesetz des amerikanischen Lebens wurde es, glaubt man dem Revival, immer ernst genommen. Zwar waren die Vorläufer der Beatniks und Hippies nicht ganz so geübt darin, zu strahlen vor Vergnügen, doch - sprechen auch sie nur in heiterer Anmut von ihrem Leben - Jack Kerouac wird bei Joyce Johnsons, seiner zeitweiligen Freundin, in ihrer Erinnerung "Warten auf Kerouac" zum sunny boy, der nichts Eiligeres zu tun hat, als den zufällige Ausruf "beat", den ein erschöpfter Tänzer ausstieß. "geschlagen", zu verklären durch seine lateinische Übersetzung: "beatificato", glücklich, selig gemacht. In diesem Sinne hat Kerouac dann allen Journalisten den Stil der Beatniks erklärt. Immerhin war damals das Glück noch nicht gar so grell; die schützenden, erst von den Hippies abgelegten Sonnenbrillen waren das Symbol der Beat-Generation: "Das Klischee der Beat-Generation verkaufte Bücher, es verkaufte schwarze Rollkragenpullis und Bongos, Baskenmützen und Sonnenbrillen, es verkaufte einen Lebensstil, der ein gefährlicher Spaß zu sein schien."

    Das Glück der Hippie-Jugend hatte immerhin einen verschwiegenen ökonomischen Grund. Sie waren Kinder der reichen Bourgeoisie, denen glücklich zu sein nicht schwer fiel. Lediglich bei Neal Cassady ist daher die Heiterkeit eine Energie, die ihn aus der Gosse in die Buchhandlung und vom Durchstöbern der Mülleimer zum Durchstöbern der Bibliotheken gebracht hat. Cassady verbrachte seine Kindheit an der Seite eines heruntergekommenen Vaters in den Armenvierteln von Denver, bis er in den Kreis um Jack Kerouac kam. Seine Biographie ähnelt der Jean Genets. Je ungerührter Cassady seine klägliche Existenz beschreibt desto eindrucksvoller werden die Bilder seines Lebens. Schmutz, Lärm und Gestank der Notunterkünfte kann der Leser sehen, hören, riechen, und doch bleiben sie so weit Literatur, daß er das interesselose Wohlgefallen bewahrt, das zum literarischen Genuß gehört, denn Cassady bemüht keinerlei Moral. Der Text des erwachsenen Autors weiß so wenig von Mitleid wie der Knabe, von dem er erzählt und der sich mit animalischer Sicherheit in dem Chaos seiner ärmlichen Existenz zurechtfindet. Er durchstreift so fröhlich und neugierig, wie ein Kind es eben tut, die verdreckten Straßen und findet vergnügt in seinen schäbigen Notbehelf zurück: "Ich erinnere mich nur an einen Bruchteil der vielen Komponenten dieses großen Gestanks und kann mir nicht ganz vorstellen, woher er stammte; ein eigenartiger Moschusgeruch erhob sich wie aus Jauchegruben, die unter dem im Fußboden eingegrabenen Schmutz verborgen waren. Von der einen Wand bis zur ungreifbaren anderen prallte er hin und her und kam in ungehinderten Wellen über das Geländer des verkürzten Balkons. Der Geruch jedes einzelnen Besuchers trug zur eigenen Mischung des Gebäudes bei, um eine komplizierte Vielfalt von Verwesung zu bilden, die in die Nasenlöcher mit einer solchen Kraft eindrang, daß ich, während ich damit kämpfte, mich daran zu gewöhnen, so wenig wie möglich durch den offenen Mund atmete."

    Cassadys Berichte stammen nicht, wie die des Hippies Sanders, aus dem underground, sondern wirklich aus der Unterwelt, nicht aus der Subkultur, sondern aus den Suburbs und Slums. Der Weg Cassadys zur Schule über Bauzäune, durch zerbröckelte Arkaden, an Brunnen vorbei, über die Essenausgabe einer Armenküche schildern auch ihn "On the road", doch ist für ihn der Streifzug, anders als für Kerouac, kein Freizeitzeremoniell, sondern der verzweifelte Versuch, die Chance des Lernens als Weg aus der Armut zu nutzen. Der amarican way of life ist immer ein Weg aus der Misere ins Glück gewesen, und ihn geht Cassady ganz allein, während die Beatniks und Hippies auf die Erfolge ihrer Väter bauen konnten. Eine Familiensaga am Anfang und ein Brief an Kerouac am Ende von Cassadys Buch geben ein Bild von der Himmelfahrt des Autors in eine typisch amerikanische Seligkeit, die aber, als verheißungsvolle Anstrengung, ein Leben lang dauerte, während die Hippies von ihr nur Augenblicke geerntet haben.