Dienstag, 14. Mai 2024

Archiv


Der Fotograf als Chronist der Weimarer Republik

Obgleich sie ihre Stadt jeden Tag in vivo erleben können, charakterisiert die Bewohner Berlins ein starker Appetit auf deren Bilder. Gezeichnete, gemalte ebenso wie fotografische - so kann man der großen Ausstellung mit den Lichtbildern eines gewissen Willy Römer, die das Deutsche Historische Museum am 26. Oktober - Willy Römers 25. Todestag - eröffnete und bis zum 27. Februar des nächsten Jahres zeigen wird, einen großen Erfolg voraussagen.

Von Michael Rutschky | 27.10.2004
    Willy Römer, geboren 1887, trat 1903 als Lehrling einer wahrhaft avantgardistischen Agentur bei, die sich der Produktion von Pressefotos verschrieben hatte, und er betrieb bis 1933, gemeinsam mit Walter Bernstein, seine eigene Bildproduktion - die Nazis lösten die Agentur zwangsweise auf, weil Bernstein einen jüdischen Vater hatte. Willy Römer musste sich anderswo verdingen; und nach 1945 kam er nie wieder so richtig auf die Beine. Richtig produktiv beschäftigte er sich bis zu seinem Tod 1979 nur mit der Reorganisation seines Archivs.

    Das erzählte uns am Eröffnungsabend Diethard Kerbs, ein um solche Materien hochverdienter Professor und Berlinophiler. Er hat das Archiv von Willy Römer, als ihm die Auflösung und das Verschwinden drohte, erworben; und Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident, konnte am Eröffnungsabend feierlich fragen, wie die Kulturpolitik mit dieser Art von nationalem Erbe - wie Thierse mehrfach formulierte - zu verfahren gedenke? Es einfach der Initiative von vorbildlichen Sammlern wie Diethard Kerbs überlassen?

    Der Pressefotograf Willy Römer durfte sich in seinem Arbeitsleben der Tätigkeit hingeben, welcher die Bewohner Berlins ohnedies am liebsten den ganzen Tag nachgehen würden: Spazieren, sich durch die Stadt treiben lassen und schauen, genau in Augenschein nehmen, wovon der Blick je angezogen wird. Die Stadt ist eine große Bühne; wer agiert und wer zuschaut, das regelt sich von Augenblick zu Augenblick.

    Willy Römer arbeitete mit Glasnegativen und mit einer - für heutige Verhältnisse - großen Kamera (ein anmutiges Exemplar auf Stativ ist in der Ausstellung zu bewundern). Das verstärkt das Bühnenhafte; Willy Römer schoss nicht mit der Kleinbildkamera gleichsam aus der Hüfte und machte sich dann unerkannt davon (ein Verfahren, das der kürzlich uralt verstorbene Henri Cartier-Bresson zur absoluten Perfektion entwickelt hat). Die Stadt, die Willy Römer fotografiert, weiß, dass sie fotografiert wird und stellt sich entsprechend dar.

    Der Straßenhändler, wie er 1912 Hosenträger feilbietet. Der einbeinige Kriegsinvalide, der 1919 auf der Straße Schokolade zu verkaufen versucht. Die Aufständischen, die sich 1919 mit ihren Waffen hinter Barrikaden aus Zeitungspapier verschanzen. Die Zigeuner, die 1927 mit ihrem Tanzbären durch die Straßen ziehen, wobei dem Tier die Schnauze mit Lederbändern so verschnürt ist wie heutzutage zuweilen den so genannten Kampfhunden. Der Tiergarten, kurz nach Kriegsende, ohne jeden Baum, aber als Gemüsegarten bepflanzt.

    Berlin, insbesondere Mitte und Prenzlauer Berg, kommentierte Professor Kerbs den erheblichen Publikumsauftrieb schon bei der Eröffnung, bewohnen heute zu einem großen Teil frisch Zugezogene, und die wollen die Vergangenheit der Stadt in Bildern sehen. Ja. So steht man vor zahlreichen Veduten und vergleicht: Der Bahnhof Hallesches Tor ist 1927 schon derselbe wie heute, aber sonst ist die Bebauung nicht wiederzuerkennen; das Foto entführt den, der den Bahnhof als Benutzer kennt, flugs in einen anderen Zeitzustand.

    Und dann kann der Fotograf halt etwas, worauf der Schreiber viel Mühe verwenden müßte: en passant Einzelheiten fixieren, ohne zwischen wichtig/unwichtig zu unterscheiden. So tritt im Vordergrund von Willy Römers Stadtbühne 1923 eine Eisdiele in Erscheinung, wo Kinder sich mit Eistüten versorgt haben und schlecken; im Hintergrund aber wirbt ein Reklameschild für "Hoffnung. Schneiderei-Genossenschaft". 1918 streiken Kellner, und Willy Römer hält fest, dass sie auf ihren Transparenten fordern: "Nieder mit den Trinkgeldern" (das heißt: für fixe Entlohnung). Ein anderes Reklameschild wirbt 1926 für die "Schnellbügelanstalt Valeteria". Und so weiter.

    Nicht nur, dass der berühmte Publizist Maximilian Harden misstrauisch, beinahe paranoid in Willy Römers Kamera schaut. Als Berufsemblem umklammert er einen kolossalen Federhalter - keinen Füller, sondern einen richtig archaischen Federhalter zum Eintunken - , wie man ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gebraucht. Ihn zu beschreiben, wie gesagt, wäre man damals gar nicht auf die Idee gekommen. Das Foto verewigt ihn en passant.