Eine Handlung im klassischen Sinne gibt es in den drei Goldstein-Kapiteln des "Frankfurter Stiers" nicht. Der unfaßliche Held hatte, wie es heißt, "schon soviel erlebt, daß er wußte, letzten Endes erweist sich das Unnötige nötiger als das Nötige". Die Suada von Sinneseindrücken, die der unsichtbare Goldstein als verschrobenes Medium filtert, machen den Text, um einen Ausdruck des Verfassers zu übernehmen, zu einem "Iangen, selig-kollernden, sinnlos-klaren Gedicht". Jurjews Kaskaden von Adjektiven versuchen, Farben, Materialien und meteorologisch-astronomische Gegebenheiten zu bannen. Elke Erb hat dieses Russisch gemeinsam mit Sergej Gladkich in ein stupendes Deutsch übersetzt.
Oleg Jurjew wurde 1959 im damaligen Leningrad als Sohn assimilierter Juden geboren. Ein jüdisches Leben habe er in den siebziger Jahren nicht gekannt, sagte er kürzlich bei einer Lesung in Berlin. Da ist es nur konsequent, daß Goldstein seinen Erzählkosmos an atheis tischen, typisch sowjetischen Schauplätzen entfaltet. Dreieckige kommunale Rumpelkammern kommen vor oder ein sogenannter agnostischer Generalsgarten.
Von Juli bis Dezember 1992 war Jujew, der seit 1990 abwechselnd in Frankfurt am Main und in seiner Geburtsstadt lebt, Stipendiat der Stuttgarter Akademie Solitude. Die hauseigene Edition Solitude veröffentlichte im Jahr darauf seine "Leningrader Geschichten", ein Buch über, wie es im Untertitel heißt, "Bäume, Insekten, Frauen und natürlich den Mond". In ihm ist bereits von der Vitalität der Friedhöfe die Rede, gemäß dem hebräischen Ausdruck,nach dem Haus der Ewigkeit, Haus des Lebens bedeutet. Auch der Stier aus der Frankfurter Stadtchronik taucht schon in den "Leningrader Geschichten" auf.
Jurjew, der sich als "zufälliger Dramatiker" bezeichnet, erregte vor vier Jahren mit der Aufführung seines Theaterstücks "Kleiner Progrom am Bahnhofsbüffet" bei den Berliner Festwochen Aufsehen. Die Unterdrückung und nicht selten offene Feindseligkeit gegenüber Juden in der antizionistischen Sowjetunion ist ein ständiges, oft spielerisch aufgegriffenes Thema in seinen Arbeiten. In St. Petersburg, dessen Staatsbibliothek eine reiche Judaica-Sammlung unterhält, erschien zu Beginn des Jahrhunderts mit der Zeitung "Der Fraynd" die erste jiddische Tagespresse Rußlands. In den fünfziger Jahren lebten noch an die 300.000 Juden in der Stadt, viele wanderten nach und nach aus.
Mit der Materie in formlosem Zustand, wie die Bibel den Golem erklärt, korrespondiert bei diesem Goldstein im modernen St. Petersburg wahre Hingabe an die Geometrie. Quadratische Flüsse, ein Polizist mit "vieleckiger Dienstmütze" oder drei niedrige schwarzglasige Zylinder, auf die die Sonne schräg fließt: Oleg Jurjews Phänomenologie hat ihr eigenes Muster. Goldstein, der sich vorübergehend zu einer Existenz als freier Schriftsteller entschließt, paraphrasiert damit sicherlich auch die Erfahrungen seines realen Schöpfers.
Mit der symbolischen Tiergestalt des Frankfurter Stiers, die zur Titelgestalt wird, greift der Autor eine Chronik der etwa 2000 Seelen zählenden jüdischen Gemeinde Frankfurts auf. Sie stammt aus der frühen Neuzeit. Im Jahre 1640 begab es sich, so die zitierte Stadtgeschichte, daß ein mächtiger Stier beim Grasen auf dem Judenfriedhof von Bürgerskindern gereizt wurde und diese "übel beschädigte". Den Juden wurde ein Bußgeld von 50 Reichstalern auferlegt. Da sie sich weigerten, das Rind, das zum Wahrzeichen der Begräbnisstätte geworden war, abzuschaffen, wurde es von Soldaten mit vier Schüssen regelrecht exekutiert. Die Begebenheit aus der Frankfurter Chronik erwähnt auch Ludwig Achim von Arnim in der Erzählung "Die Majoratsherren" von 1819.
In Oleg Jurjews "Frankfurter Stier" erfährt das Geheimnis des kabbalistischen Sechsecks eine weitere Deutung. Der Autor läßt das Tier in einem inneren Monolog an die Juden der Stadt sagen: "Ich bin verknöchert an sechs Stellen der Berührung mit den beiden Oberflächen der Welt, ihr aber gleitet über sie hin fast ohne Berührung." Auch der Urmensch Adam Kadmon, dessen Gestalt sich durch ein Sechseck darstellen läßt, hat laut Kabbala mittels dieser Körperform Kontakt zu Himmel und HöIle. Durch das Fressen heiliger Bücher wird der Stier schriftkundig. Was sich so rührend kreatürlich anhört, bekräftigt die Bedeutung von Sprache und Schrift als Essentiale der jüdischen Religion.
Der durch Beseelung des Lesens kundig gewordene Stier erscheint als Prophet und wissende Opferfigur zugleich. Aus dem bannenden Sechseck des Davidsterns, welches das Inhaltsverzeichnis nachbildet, werden im Augenblick des Todes zwölf Ecken. Der Stier sieht seine eigene Hinrichtung voraus, wenn Jurjew schreibt: "Ich werde innehalten und auf einen abgemähten blaugrauen Kopf mit abgefallenem schwarzen Kinn und zwei geweiteten Pupillen blicken, und in jeder von ihnen - auf mein Zwölftheil verkleinertes, dickhorniges, rotäugiges Stiergesicht. Es wird still."
Die poetische Qualität von Oleg Jujews Sprache, samt ihrer Bilder, Wendungen und Windungen, läßt sich nur unzulänglich beschreiben. In dem Kapitel "Hütchenspiel" treibt er mit dem Entsetzen Scherz, als er eine Vision vom Fortbestehen des Judenmuseums entwickelt, das Heinrich Himmler für das besetzte Prag vorgeschwebt hatte. Zwei von der Ausrottung übriggebliebene Exponate, "Jude (männlich)" und "Jude (weiblich)", geben zusammen mit einem Engel einen dreistimmigen Chor ab. Und immer wieder kommt Oleg Jurjew auf die Figur Goldstein zurück. Sie geleitet beim Lesen um die sechs Ecken dieses Buches, das eine Geometrie der Wunder entfaltet.
Oleg Jurjew wurde 1959 im damaligen Leningrad als Sohn assimilierter Juden geboren. Ein jüdisches Leben habe er in den siebziger Jahren nicht gekannt, sagte er kürzlich bei einer Lesung in Berlin. Da ist es nur konsequent, daß Goldstein seinen Erzählkosmos an atheis tischen, typisch sowjetischen Schauplätzen entfaltet. Dreieckige kommunale Rumpelkammern kommen vor oder ein sogenannter agnostischer Generalsgarten.
Von Juli bis Dezember 1992 war Jujew, der seit 1990 abwechselnd in Frankfurt am Main und in seiner Geburtsstadt lebt, Stipendiat der Stuttgarter Akademie Solitude. Die hauseigene Edition Solitude veröffentlichte im Jahr darauf seine "Leningrader Geschichten", ein Buch über, wie es im Untertitel heißt, "Bäume, Insekten, Frauen und natürlich den Mond". In ihm ist bereits von der Vitalität der Friedhöfe die Rede, gemäß dem hebräischen Ausdruck,nach dem Haus der Ewigkeit, Haus des Lebens bedeutet. Auch der Stier aus der Frankfurter Stadtchronik taucht schon in den "Leningrader Geschichten" auf.
Jurjew, der sich als "zufälliger Dramatiker" bezeichnet, erregte vor vier Jahren mit der Aufführung seines Theaterstücks "Kleiner Progrom am Bahnhofsbüffet" bei den Berliner Festwochen Aufsehen. Die Unterdrückung und nicht selten offene Feindseligkeit gegenüber Juden in der antizionistischen Sowjetunion ist ein ständiges, oft spielerisch aufgegriffenes Thema in seinen Arbeiten. In St. Petersburg, dessen Staatsbibliothek eine reiche Judaica-Sammlung unterhält, erschien zu Beginn des Jahrhunderts mit der Zeitung "Der Fraynd" die erste jiddische Tagespresse Rußlands. In den fünfziger Jahren lebten noch an die 300.000 Juden in der Stadt, viele wanderten nach und nach aus.
Mit der Materie in formlosem Zustand, wie die Bibel den Golem erklärt, korrespondiert bei diesem Goldstein im modernen St. Petersburg wahre Hingabe an die Geometrie. Quadratische Flüsse, ein Polizist mit "vieleckiger Dienstmütze" oder drei niedrige schwarzglasige Zylinder, auf die die Sonne schräg fließt: Oleg Jurjews Phänomenologie hat ihr eigenes Muster. Goldstein, der sich vorübergehend zu einer Existenz als freier Schriftsteller entschließt, paraphrasiert damit sicherlich auch die Erfahrungen seines realen Schöpfers.
Mit der symbolischen Tiergestalt des Frankfurter Stiers, die zur Titelgestalt wird, greift der Autor eine Chronik der etwa 2000 Seelen zählenden jüdischen Gemeinde Frankfurts auf. Sie stammt aus der frühen Neuzeit. Im Jahre 1640 begab es sich, so die zitierte Stadtgeschichte, daß ein mächtiger Stier beim Grasen auf dem Judenfriedhof von Bürgerskindern gereizt wurde und diese "übel beschädigte". Den Juden wurde ein Bußgeld von 50 Reichstalern auferlegt. Da sie sich weigerten, das Rind, das zum Wahrzeichen der Begräbnisstätte geworden war, abzuschaffen, wurde es von Soldaten mit vier Schüssen regelrecht exekutiert. Die Begebenheit aus der Frankfurter Chronik erwähnt auch Ludwig Achim von Arnim in der Erzählung "Die Majoratsherren" von 1819.
In Oleg Jurjews "Frankfurter Stier" erfährt das Geheimnis des kabbalistischen Sechsecks eine weitere Deutung. Der Autor läßt das Tier in einem inneren Monolog an die Juden der Stadt sagen: "Ich bin verknöchert an sechs Stellen der Berührung mit den beiden Oberflächen der Welt, ihr aber gleitet über sie hin fast ohne Berührung." Auch der Urmensch Adam Kadmon, dessen Gestalt sich durch ein Sechseck darstellen läßt, hat laut Kabbala mittels dieser Körperform Kontakt zu Himmel und HöIle. Durch das Fressen heiliger Bücher wird der Stier schriftkundig. Was sich so rührend kreatürlich anhört, bekräftigt die Bedeutung von Sprache und Schrift als Essentiale der jüdischen Religion.
Der durch Beseelung des Lesens kundig gewordene Stier erscheint als Prophet und wissende Opferfigur zugleich. Aus dem bannenden Sechseck des Davidsterns, welches das Inhaltsverzeichnis nachbildet, werden im Augenblick des Todes zwölf Ecken. Der Stier sieht seine eigene Hinrichtung voraus, wenn Jurjew schreibt: "Ich werde innehalten und auf einen abgemähten blaugrauen Kopf mit abgefallenem schwarzen Kinn und zwei geweiteten Pupillen blicken, und in jeder von ihnen - auf mein Zwölftheil verkleinertes, dickhorniges, rotäugiges Stiergesicht. Es wird still."
Die poetische Qualität von Oleg Jujews Sprache, samt ihrer Bilder, Wendungen und Windungen, läßt sich nur unzulänglich beschreiben. In dem Kapitel "Hütchenspiel" treibt er mit dem Entsetzen Scherz, als er eine Vision vom Fortbestehen des Judenmuseums entwickelt, das Heinrich Himmler für das besetzte Prag vorgeschwebt hatte. Zwei von der Ausrottung übriggebliebene Exponate, "Jude (männlich)" und "Jude (weiblich)", geben zusammen mit einem Engel einen dreistimmigen Chor ab. Und immer wieder kommt Oleg Jurjew auf die Figur Goldstein zurück. Sie geleitet beim Lesen um die sechs Ecken dieses Buches, das eine Geometrie der Wunder entfaltet.