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Der Fremde in mir

Julien Green hat bis zu seinem Tod im August 1998 an diesem, seinem letzten Buch geschrieben. Es ist die Geschichte eines teuflischen Paktes zwischen einem jungen und einem älteren Mann. Ein turbulenter Tagtraum beginnt, an dessen Ende die Frage steht: "Wer ist der Fremde in mir, der mein Leben bestimmt?"

Von Martin Krumbholz | 14.12.2011
    Julien Green hat bis zu seinem Tod im August 1998 an diesem, seinem letzten Buch geschrieben. Es ist die Geschichte eines teuflischen Paktes zwischen einem jungen und einem älteren Mann. Der will noch einmal die Welt mit den Augen des Jüngeren sehen. Ein turbulenter Tagtraum beginnt, an dessen Ende die Frage steht: "Wer ist der Fremde in mir, der mein Leben bestimmt?"

    Ein Fragment, und gleichwohl ein komplexer, anspruchsvoller und anregender Text: Man könnte ihn auch eine Traumnovelle nennen. Um den Plot zunächst kurz anzudeuten: Mitten in Paris, einige Jahre vor der Jahrtausendwende, wird Vivien, ein Zwanzigjähriger, von einem doppelt so alten Mann angesprochen. Er glaubt zunächst, es handele sich schlicht um eine sexuelle Avance; doch der Fremde, der "Unbekannte" zerstreut diese Bedenken und erklärt in rätselhaften Worten, er biete dem Jüngeren einen "Pakt" an, er wolle ihn gewissermaßen durchs Leben begleiten und erwarte als Gegenleistung, an Viviens "Jugend" zu partizipieren. So etwas passiert wohl tatsächlich nur im Traum, und auch das Racine-Zitat, das Green dem Manuskript als Motto vorangestellt hat, weist eindeutig darauf hin:

    "Ein Traum – warum sollt' ein Traum mich ängstigen?"

    Zögernd und offenbar aus Neugier lässt Vivien sich auf das Abenteuer ein, und der Fremde, er nennt sich Maxime, erklärt ihm im Café:

    "Geben Sie mir Ihre Jugend, ohne jede Einschränkung. Es geht um nichts Körperliches, in dem Punkt interessieren Sie mich nicht. Aber ich will sehen, wie Sie leben, wie weit Sie in Ihren Dummheiten gehen, was Sie retten werden und was Sie vollbringen, worin Sie scheitern und was daraus entsteht, zu welchem Mann Sie am Ende werden. … Natürlich kann ich nicht in Ihre Haut schlüpfen, das wäre viel zu schön, außerdem will ich nicht verzichten auf all das, was ich weiß."

    Nun bietet sich eine – hoffentlich nicht zu gewagte – Lesart für diesen letzten Text von Julien Green an. Hinter dem "Unbekannten", Maxime, verbirgt sich niemand anderes als der Schriftsteller selbst. Der Schrifsteller nämlich auf der Suche nach einem "Modell", gewissermaßen einem unbeschriebenen Blatt, einem jungen Mann, der nichts auf der Habenseite hat außer seiner angenehmen Erscheinung und seiner Neugier auf das Leben – einer Kreatur, in deren Lebenslauf man, wenn auch nur "im Schreiben", manipulierend eingreifen kann. Für diese Deutung sprechen viele Indizien, nicht zuletzt die sprechenden Namen: Maxime steht für die Erfahrenheit des Älteren, der dem Jüngeren Ratschläge mit auf den Weg gibt, während in Vivien "vie" steckt, also das Leben selbst. Maxime will auf sein Wissen "nicht verzichten", und doch ist er sehnsüchtig nach der blanken Offenheit und Unverbrauchtheit eines Lebensentwurfs, der nicht einmal ein Entwurf ist, weil der Hallodri Vivien sich durchs Leben treiben lässt wie ein Korken im Wasser – wobei natürlich auch das nur auf der Entscheidung des "Urhebers", also Maximes beziehungsweise Julien Greens beruht.

    "Ich beobachte alles, aber ich werde nicht eingreifen", verspricht Maxime – in der Logik des Traums. In Wahrheit verfasst Maxime sogar an Viviens Stelle ein Tagebuch, das er dem Protagonisten unterschiebt; Vivien liest darin wie im Text eines Fremden. Die Struktur des Traums erlaubt viele solcher "surrealen" Erfindungen. Vivien stürzt wie im Zeitraffer durch sein Leben. Er findet Anstellungen und verliert sie wieder, ebenso ergeht es ihm mit den Frauen, von denen es heißt, dass sie "seine Hauptsorge" seien. Keine der Episoden wird ernsthaft vertieft, auch das entspricht der sprunghaften Dramaturgie des Traums, alle Erlebnisse bleiben flüchtig. Häufig bleibt man beim Lesen quasi an den Sprungfedern der Geschichte hängen, das hat auch einen großen Reiz. Einmal begeht Vivien einen "Mord" an einer Geliebten, im Grunde eher einer flüchtigen Bekannten: Er wirft sie in New York aus dem Fenster des Hotels, und im Flug des Körpers an den Stockwerken vorbei steht jedes Fenster für einen Lebensabschnitt, doch nicht aus Cynthias Leben, sondern aus Viviens. So etwas geschieht tatsächlich nur im Traum. Und geschieht es nicht ebenfalls nur im Traum, dass einem jemand wirklich ernsthafte Ratschläge erteilt, wie hier der seinerseits rätselhafte Baron Ochs dem Protagonisten?

    "Fürs Geschäft braucht man ernsthafte Leute, Sklaven und Chefs. Sie sind weder das eine noch das andere. Ich will Ihnen aber etwas geben: einen guten Rat. Das ist etwas sehr Rares auf der Welt, allem Anschein zum Trotz. Es mag Ihnen einfach erscheinen, hören Sie mir gut zu: Wenn ich du wäre, hätte ich Vertrauen in mich. Ich meine Vertrauen und nicht Ihr Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Mit Vertrauen im Herzen vollbringt man das, wozu man gemacht ist."

    Gegen Ende sagt Vivien einmal über seinen Mentor Maxime:

    "… ich bin sicher, dass Maxime nicht existiert, ich habe ihn von A bis Z erfunden …"

    In Wahrheit ist es genau umgekehrt: Maxime ist der "Unbekannte", und er hat Vivien von A bis Z erfunden. Ob diese Erkenntnis die Rätsel und Irritationen aufzulösen vermag, in die die bizarren Erfindungen des schmalen Bands den Leser stürzen, ist dabei eine andere Frage. Jedenfalls handelt es sich um einen großen kleinen Text.

    Julien Green: Der Unbekannte. Roman.
    Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Mit einem Nachwort von Wolfgang Matz.
    Carl Hanser Verlag, 95 Seiten, 12,90 Euro