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Der Gang des Menschen als Gegenstand

Mit der Debatte über das Verhältnis von Kunst, Wissenschaft und Wahrnehmung von Realität beschäftigt sich ein kleiner Band mit Aufsätzen von Wissenschaftshistorikern, Kunst- und Kulturwissenschaftlern. Sie werfen einen Blick auf das neue Sehen im vor-vergangenen Jahrhundert.

Von Thomas Kleinspehn |
    Seitdem Vorträge "Präsentationen" heißen und wissenschaftliche Forschung zu wesentlichen Teilen an und im Computer stattfindet, stellt sich das Verhältnis von Forschen und Darstellen, von Wissenschaft und Kunst noch einmal neu. Schon in der frühen Neuzeit hat man sich allerdings gefragt, worin die Unterschiede zwischen den Körper-Zeichnungen eines Michelangelos und denen der Anatomen seiner Zeit lagen. Die Software betriebene Simulation in Technik und Naturwissenschaften heutiger Tage macht das Experiment vor Ort beinahe überflüssig. Man könnte deshalb befürchten, dass sich der Blick des Wissenschaftlers auf die Realität auf ästhetische Bilder beschränkt; Wirklichkeit konstruiert wird.

    Diese Diskussion kam verstärkt schon im 19. Jahrhundert auf, wo es durch die technische Reproduzierbarkeit möglich geworden war, Bilder festzuhalten und damit Realität ganz anders wahrzunehmen. Mit dieser Debatte über das Verhältnis von Kunst, Wissenschaft und Wahrnehmung von Realität beschäftigt sich jetzt ein kleiner Band mit Aufsätzen von Wissenschaftshistorikern, Kunst- und Kulturwissenschaftlern. Sie werfen einen Blick auf das neue Sehen im vor-vergangenen Jahrhundert. An relativ unbekannten, aber wirkungsvollen Wissenschaftlern und Erfindern wie Rodolphe Töpfer oder Bertalan Székely und Künstlern wie William Turner illustrieren sie die Motivationen und Erkenntnisziele der Zeit.

    Nicht Genie und Kreativität ist das Primäre, sondern die Suche nach dahinter liegender Wahrheit, ob das nun ein Gesichtsausdruck oder ein geschaffenes Bild ist. Mit der Photographie etwa war es nicht nur möglich geworden ein neues Medium einzusetzen, sondern auch die Bewegungsabläufe von Menschen und Tieren genauestens zu studieren. Mit Hilfe von Photoserien gelang das beispielsweise dem französischen Physiologen Etienne-Jules Marey. An seinem Vorgehen hat einer der beiden Herausgeber, Andreas Mayer, die dahinter liegenden Strukturen befragt – zwischen Kunst und Wissenschaft.

    "Das ist durchaus etwas Neues im 19. Jahrhundert, dass man beginnt, den Gang des Menschen als Gegenstand aufzufassen, den man experimentell untersucht sozusagen im Laboratorium. Marey nimmt in dieser Geschichte einen bedeutenden Stellenwert ein… Marey wollte, dass diese Bilder als wissenschaftliche Daten begriffen werden, die normative Auswirkungen darauf, wie Kunstwerke produziert werden. D.h. wie man laufende und springende Menschen darstellen wird in einer Statue oder auf einem Gemälde."
    "Normativ" heißt für Marey, den Menschen ästhetische Vorbilder zu liefern, wie sie sich angemessen zu bewegen haben, wie sie Brust und Rücken gerade halten sollen usw. Die angewandte Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, die die Forscher im Auge hatten, entfernt sich immer mehr von erkenntniskritischen und mimetischen Dimensionen und nähert sich eher dem militärischen oder pädagogischen Drill. Das arbeitet Andreas Mayer an Untersuchungen bewegter Körper heraus.

    "Marey hat ja die Vorstellung von einem nicht nur wissenschaftlichen, sondern gleichzeitig auch politischen Projekt. Auf diesem Weg spielt die Ästhetik eine Rolle, d.h. wie die Bewegung dargestellt wird, soll sich auswirken darauf, wie die männlichen, normalen Bürger der Dritten Republik sich bewegen sollen… Insofern gibt es eine mimetische Komponente, in dem Sinn dass die Darstellung zur Nachahmung gedacht ist."

    Mit Hilfe der wissenschaftlichen Fotografie kann Marey etwas deutlich machen, was dem Menschen nicht unmittelbar bewusst ist. Indem der französische Physiologe eine Maschine zwischen sich und seinem Beobachtungsobjekt setzt, erweitert er die Erkenntnismöglichkeiten, konstruiert aber gleichzeitig mit seinen Normen und Idealen von Bewegung und Harmonie auch die Wirklichkeit neu. Damit spitzt er die Jahrhunderte alte Diskussion um das Verhältnis zwischen dem Mimetischen und der Konstruktion von Wirklichkeit zu. Das Besondere der Wissenschaft im 19. Jahrhundert allerdings ist, dass jetzt eine Maschine dieses Verhältnis bestimmt.
    "Es ist eine besondere Ausprägung, die eng zusammenhängt mit der Entwicklung von neuen Maschinen, neuen Technologie – in dem Fall natürlich der Photographie. Es geht ja nicht darum, dass etwas gezeigt wird, was irgendwie schon da ist, visualisiert wird. Das ist ja nichts Neues. Interessant ist der Konnex zwischen Maschinenmechanisierung und Visualisierung. Die Vorstellung entsteht durch diese technischen Apparaturen, werden Gegenstände unmittelbar sichtbar gemacht, ohne eine weiter menschliche Intervention. Das ist das Projekt von Marey, man wird etwas zeigen und zwar allein durch technische, mediale Vermittlung eines Apparats."

    Diese neue Vorstellung vom Sehen findet sich im 19. Jahrhundert in den physiologischen Experimenten ebenso, wie in den Vermessungen, der Sinnesphysiologie oder der räumlichen Wahrnehmung in der Kunst. Mit den neuen Zugängen zur Realität auf verschiedensten Ebenen befassen sich auch die anderen Autoren des Bandes. Sie bleiben aber bei dieser spannenden Frage nach dem neuen Sehen und dem Verhältnis zur Wirklichkeit im 19. Jahrhundert stehen, als könne man diese Zeit isolieren und sei sie nicht in gewisser Weise die Vorläuferin einer Entwicklung bis in unsere Tage, die in der Simulation des Computers mündet. Zumindest im Gespräch gesteht das Andreas Mayer durchaus ein.

    "Ich denke, das ist was Neues und auch in dem Sinn, dass die Simulation eine Autonomie erhält, die ist etwas Eigenständiges, die ist nicht unbedingt von dieser Verknüpfung mit dem Realen abhängig, wie ein Mareyschen Produkt, auch weil sie etwas anderes leisten soll."

    Doch was das genau ist, welche Wurzeln für die Visualisierung von Wissenschaft in der Gegenwart sich womöglich schon im 19. Jahrhundert in den so unterschiedlichen Werken von Künstlern und Wissenschaftlern entdecken lassen, das lässt der Band unbeantwortet. So isolieren die Autoren ihre Gegenstände und verschenken mit ihrer akribischen Detailanalyse ein spannendes Thema, das längst noch nicht zu Ende diskutiert ist.

    Andreas Mayer und Alexandre Métraux (Hrsg.),
    Kunstmaschinen. Spielräume des Sehens zwischen Wissenschaft und Ästhetik, S. Fischer Verlag