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Der Garten Eden in einer Ruinenstadt

Im neuen Roman von Helga Schütz wird an verschiedenen Stellen eine Beziehung zum Paradies hergestellt. Nun ist die unmittelbare Nachkriegszeit in dem von Bomben zerstörten Dresden, in der die von Helga Schütz erzählte Geschichte angesiedelt ist, eigentlich alles andere als ein Garten Eden. Etwas Paradiesisches hat diese Zeit für die Protagonistin aber dennoch, denn allein die Abwesenheit von Bomben und Krieg schafft neue Bewegungsfreiheit.

Von Michael Opitz | 17.10.2005
    Wer knietief im Paradies steckt, empfindet das Paradies vielleicht gar nicht als so paradiesisch, denn irgendwie will es zum Paradies nicht passen, dass man in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist. Wenn dieser Zustand einen Vorteil hat, dann wohl den, dass wer auf diese Weise im Paradies gefangen ist, daraus auch nur schwer vertrieben werden kann.

    Im neuen Roman von Helga Schütz wird an verschiedenen Stellen eine Beziehung zum Paradies hergestellt. So, wenn es heißt, dass im Paradies der Ausnahmezustand herrscht oder, wenn Pascal mit der Aussage zitiert wird: In einem Garten ging das Paradies verloren. In einem Garten wird es wiedergefunden. Nun ist die unmittelbare Nachkriegszeit in dem von Bomben zerstörten Dresden, in der die von Helga Schütz erzählte Geschichte angesiedelt ist, alles andere als ein Garten Eden, aber etwas Paradiesisches hat diese Zeit für das junge Mädchen, das eine Lehre als Gärtnerin beginnt und sich dem Hegen und Pflegen widmet.

    "Es ist schon eine ganz besondere Zeit, diese 50er Jahre. Es ist Nachkrieg, also es fallen keine Bomben mehr, auch das ist ein Zeichen für einen beinahe paradiesischen Umstand, obwohl man Hunger hatte und fror. Aber, es wurde nicht mehr geschossen, also, man sprach vom Frieden. Mit dem Begriff Paradies assoziiert man ja auch die Vertreibung und es müsste gar nicht mehr das Knietiefe dazukommen, aber es ist ganz praktisch gemeint. Gelegentlich ist das Paradies ja auch ein Name für einen Garten. Ganz klar wollte ich mir darüber nicht werden, was der Titel eigentlich bedeutet. Ich hatte nur das Gefühl, der passt. Die Figur nimmt schon den Garten als Paradies, aber eben als einen Garten, in dem man arbeitet. Und sie arbeitet sehr schwer."

    Die Rede ist von Eli, einem Mädchen, das die Bombardierung Dresdens überlebt hat. Aber eigentlich heißt Eli Raphaela und erinnert an den Erzengel gleichen Namens, obwohl diese Assoziation von den Eltern nicht beabsichtigt war, denn eigentlich sollte der Name der Tochter wie der Maler der Sixtinischen Madonna mit Doppel "f" und nicht mit "ph" geschrieben werden. Dass sie schließlich Eli genannt wird, war die Idee ihres Großvaters, bei dem das Mädchen, deren Eltern vermisst werden, aufwächst. Mit dem Madonnenmaler, einem Erzengel und dem jüdischen Richter Eli, dessen Name "ist erhaben" heißt, werden drei bedeutungsschwere Namenspatrone zitiert, die neben der Schwere der Tradition auch etwas Leichtes auszeichnet, denn sie alle weisen einen Bezug zum Erhabenen auf. Solche Spuren lässt Helga Schütz zwar im Roman anklingen, ohne sie jedoch deutlich machen zu wollen.

    "Ich habe schon bewusst damit gespielt, aber ich habe es auch wieder verborgen und versteckt und wollte es nicht unbedingt zum Tragen kommen lassen."
    Eli scheint bei so vielen biblischen Anklängen, die in der Geschichte mitschwingen, im Diesseitigen kaum fassbar zu sein, wäre sie nicht als Gärtnerin, die mit einfachen Mitteln versucht, die Ruinenstadt Dresden zu begrünen, auch mit sehr weltlichen Aufgaben befasst. Sie pflanzt und gießt. Sie läuft mit einem Karren durch die Stadt, um Essen für die Lehrlinge und Ausbilder zu holen. Sie verpflegt auf dem Rückweg illegal noch einen jungen Mann, der in den Trümmern haust, verhilft ihrem Großvater zu einigen Alibis und verhindert so, dass er schuldig wird, setzt sich auch für Tobias ein, den sie aus einer Strafanstalt befreit und schließlich weigert sie sich, Zitronenbäumchen in einer Plantage anzupflanzen, was ihr den Vorwurf ihrer Lehrausbilder einbringt, sie vertraue nicht genügend der Kraft der Zitronen, sondern mehr dem Winter. Ein früheres Buch von Helga Schütz hieß Julia oder die Erziehung zum Chorgesang. Und wie Julia widersetzt sich auch Eli den Vorgaben eines kollektiven Erziehungskonzeptes.

    "Ich habe das Gefühl, dass es von Anfang an so geht, dass sie von Anfang an Widerstände spürt und dass sie von Anfang an begreift, dass sie sich widersetzen muss. Und es gibt bestimmt Möglichkeiten, sich zu widersetzen."

    Dass Eli die Bombardierung Dresdens überlebte, war Zufall, aber aus dem Zufall entwickelt sie jene Kraft, Anweisungen zu widerstehen, selbst wenn sie vernünftig klingen. Als das Inferno auf Dresden niederging, hat sie sich aus dem Luftschutzbunker gestohlen, um Silberstreifen zu sammeln, die von den feindlichen Bombern zur Irritierung der Bodenradarstellen abgeworfen wurden. Sie überlebte, weil sie gegen alle Vernunft einen sicheren Ort verließ, um nach sternengleichen Silberstreifen zu greifen, die auf die Erde fielen. Es war eine Unvorsichtigkeit, eine ausgemachte Dummheit, aber durch diese Unvernunft entging sie dem Tod. Der Schutzengel, der ihr da zur Seite stand, hat sie offensichtlich auch darin unterwiesen, sich gelegentlich unsichtbar zu machen.

    "Am besten, man wird nicht gesehen. Aber wie wird man nicht gesehen. Also man darf nicht auffallen. Und das kann man auf verschiedene Art und Weise. Indem man sich hervortut, kann man nicht auffallen, also, dass scheint paradox zu sein, aber, dass erkennt sie doch. Oder indem man sich verbirgt. Diese beiden Möglichkeiten gibt’s für sie."

    Helga Schütz lässt ihre Heldin durch eine Schule gehen, in der besteht, wer es versteht, im rechten Augenblick bei weltlicher Präsenz zu verschwinden. Hinter dieser Form des Wegseins im Da-Sein verbirgt sich eine Behauptungsstrategie, die an taktisches Verhalten grenzt, obwohl es unbewusst geschieht. Darüber hinaus handelt der Roman vom Erwachsenwerden, wobei das Herauswachsen aus der Kindheit von der Protagonistin als Schwebezustand erfahren wird. Ständig wechselt der Wunsch zu verschwinden mit der Sehnsucht, wahrgenommen zu werden.

    Helga Schütz:
    "Knietief im Paradies"
    (Aufbau Verlag)