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Der Geist des Humanismus, der Verständigung und der Kultur

In Thomas Manns Sommerhaus in Litauen findet auch in diesem Jahr das Thomas-Mann-Festival statt. Dabei geht es nicht um ein museales Erinnern, sondern vielmehr um aktuelle Ansätze in der Europapolitik - anhand Manns "Betrachtung eine Unpolitischen".

Von Sabine Adler | 18.07.2013
    Eine halbe Million Touristen bringt die Fähre jeden Sommer auf die Kurische Nehrung, diese fast 100 Kilometer langen und nur mehrere Hundert Meter breite Halbinsel, die wie eine dünne Nadel in der Ostsee liegt.

    Der berühmteste Urlauber, Thomas Mann, ließ sich, kurz bevor er 1929 mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde, mit dem Geld seines Buddenbrooks-Romans hier ein Haus bauen, das er wegen der Nazis nur drei Sommer lang nutzen konnte. Wie hätte es ihn gefreut zu hören, dass viele Jahrzehnte später sein "Betrachtungen eines Unpolitischen" als Ausgangspunkt eines Diskurses diente. Während das Thomas-Mann-Haus als Museum fungiert, kümmert sich das Festival um die brisanten Fragen von heute. Es findet zum 17. Mal statt. Für die litauische Grand Dame der Bürgerrechte, Irene Veisaite, die lange im Kuratorium mit die Themen setzte, ist Mann vor allem ein streitbarer Europäer:

    "Wir sind ein Thomas-Mann-Kulturzentrum. Das ist sein Haus. Ich erinnere mich sehr gut, es waren viele Gespräche, dass die Deutschen zurückkommen und sie kaufen die Häuser. Da waren viele Ängste, dass es ein deutsches Zentrum wird. Und wir haben bestanden darauf, dass das ein litauisch-deutsches Zentrum ist und wir haben von Anfang an alles zweisprachig gemacht und auch dreisprachig, auch polnisch. Alles, was hier vorkommt, ist doch seinem Geist nah, seinem Geist des Humanismus, der Verständigung, der Kultur. Sodass wir nicht nur seine Biografie studieren, sein Werk, sondern auch seinen Geist."

    Cichocki: Mann fällte ein vernichtendes Urteil über die Polen
    Der polnische Philosoph Marek Cichocki war außenpolitischer Berater des verstorbenen Präsidenten Lech Kaczynski. Cichocki sieht Thomas Manns auch als Provokateur, der nicht nur die unschiedlichen Kulturen von Deutschen und Polen beschreibt, sondern auch ein vernichtendes Urteil fällt.

    Mann schreibt in dem Brief eines Unpolitischen, dass der Obrigkeitsstaat die vom deutschen Volke angemessene und im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt. Und zu Polen: "Es gibt höchst politische Völker. Völker, die aus der politischen An- und Aufgeregtheit überhaupt nicht herauskommen. Und die es dennoch, Kraft eines völligen Mangels an Staats- und Machtfähigkeit auf Erden nie zu etwas gebracht haben, noch bringen werden."

    Ein Satz eines Deutschen, geeignet, bei vielen Polen einen Sturm der Entrüstung heraufzubeschwören. Der Philosoph Cichocki gibt Mann dagegen recht und charakterisiert die politische Kultur seiner Landsleute:

    "Die Vorliebe für Streit, die Verachtung der politischen Hierarchie, die Verachtung gegenüber der Außenwelt, die Überzeugung, dass die ganze Staatsordnung zur Disposition steht, was sich in der breiten Akzeptanz von Referenden widerspiegelt. Die politische Dynamik ist ausschließlich auf sich selbst konzentriert, partikulär, selbstbefriedigend und nach innen gerichtet. Ihre innere Intensität überträgt sich kaum auf äußere Ziele und führt dazu, dass die Außenwelt grundsätzlich ignoriert wird, da man hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt ist."

    Einschränkung der politischen Macht als Garantie
    Wenn schon Deutschland und Polen auch Jahrzehnte nach dem Tod Manns immer noch so große Unterschiede aufweisen, fragt Cichocki das Publikum mit Sonnenbrillen und Strohhüten, wie soll dann erst eine Verständigung in der Eurokrise möglich sein? Nur noch über eine Institution, die über den Nationen steht? Haben unverantwortliche Politiker mit ihrem Schulden-Gau die Demokratie insgesamt diskreditiert? Muss jetzt eine Brüssler Bürokratie das Ruder übernehmen?

    "Unter dem wachsenden Druck der Krise wird sich die Versuchung verstärken, die Angelegenheiten einer größeren, alles umfassenden Supranationalen Obrigkeit in Europa zu unterstellen. Auf dem höchsten Punkt der Hierarchie, auf dem die Europäische Gemeinschaft aufgebaut ist, befindet sich die Idee des Rechtsstaats. Also die Einschränkung der politischen Macht als Garantie. Also die rechtlichen und die institutionellen Formen haben hier absoluten Vorrang vor der politischen Intensität und Willkür und jeder partikularen, nationalen demokratischen Identität."

    Mit anderen Worten: Die deutsche Obrigkeitshörigkeit sei nicht per se schlecht sein, vorausgesetzt, sie gilt einem Rechtsstaat. In dem Fall, so der polnische Philosoph, können sie auch Polen akzeptieren. Als Fazit zitiert er auf der Terrasse des Thomas-Mann-Hauses die Worte des einstigen Besitzers, dass nämlich Politik sein muss, Demokratie sein muss als Aufgabe für die Anständigen. Die sich verständigen, zum Beispiel auf diesem Festival.


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