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Der Geistesblitz: Zum Phänomen der plötzlichen Erkenntnis (2/2)

Die Kultur- und Alltagsgeschichte verdankt den plötzlichen Erkenntnissen und Geistesblitzen viel: Sie haben Licht in Wissenschaft und Philosophie gebracht, befreiende lebenspraktische und künstlerische Funken in die Welt gesetzt.

Von Judith Klein | 28.05.2012
    Plötzliche Erkenntnis, die in der Form von Geistesblitzen, unerwarteten Einsichten, Intuitionen und Erleuchtungen auftritt, ist ein erstaunliches Ereignis im einzelnen Leben. Sie ist aber auch ein Phänomen der Kulturgeschichte, aus dem philosophische Konzepte, religiöse Umbrüche oder auch künstlerische Würfe hervorgegangen sind.

    Judith Klein ist in ihrem zweiteiligen Essay dem Geistesblitz auf der Spur. Heute geht es im zweiten Teil um die vielfältigen Voraussetzungen, Merkmale und Zugänge in der Philosophie und Neurowissenschaft. Die Autorin lehrte Romanistik und Sozialwissenschaften in Marburg, Heidelberg und Paris. Derzeit ist sie freie Publizistin und Übersetzerin.

    Der Geistesblitz – Zum Phänomen der plötzlichen Erkenntnis (2/2)
    2. Philosophische und wissenschaftliche Zugänge


    An einem Tag des Jahres 1749 macht sich Jean-Jacques Rousseau zu Fuß auf den Weg nach Vincennes, das etwa sechs Kilometer von Paris, wo er wohnt, entfernt liegt. Er will seinen Freund, den Schriftsteller Denis Diderot, besuchen, der dort seit kurzem in Festungshaft sitzt. Es ist die Zeit der "lettres de cachet", der Verhaftungsschreiben, mit denen missliebige aufrührerische Untertanen eingeschüchtert, verbannt oder eingekerkert werden. Diderot hat indessen Hafterleichterung erhalten und darf Besuch empfangen.

    Es ist außerordentlich heiß, der Weg ist staubig, die nach Landessitte beschnittenen Bäume bieten kaum Schatten. Rousseau trägt eine Zeitschrift bei sich, den "Mercure de France". Um seine Schritte zu zügeln, wirft er ab und zu einen Blick auf die Seiten; dabei stößt er – so berichtet er später und so haben es unzählige Biografen wiedergegeben – auf die für das Jahr 1750 gestellte Preisfrage der Akademie von Dijon. Sie lautet: "Hat das Wiederaufleben der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen?"

    Blitzartig leuchtet in ihm die ungeheure Bedeutung der Frage für die gegenwärtige Philosophie und für sein eigenes Denken auf. Kurz darauf wird er sie als "eine der großen und der schönsten Fragen, die jemals aufgeworfen wurden", bezeichnen. Und blitzartig wird er sich dessen bewusst, dass er, Rousseau, die Antwort auf die Frage besitzt: Die wieder aufgelebten Wissenschaften und Künste haben zur Läuterung des sittlichen Lebens nichts beigetragen.

    Fast dreizehn Jahre später schreibt Rousseau an Monsieur de Malesherbes, seinen Freund und Gönner, einen Brief, in dem es heißt:

    "Wenn jemals etwas einer plötzlichen Inspiration geglichen hat, so die Bewegung, die in mir vorging, als ich die Frage las: Auf einmal fühle ich, wie mein Geist von tausend Lichtern geblendet wird; auf ihn stürmen Massen lebhafter Gedanken mit einer Gewalt und in einer UNOrdnung ein, dass ich in eine unaussprechliche Verwirrung stürze. Ich fühle, wie mein Kopf von einem Schwindel ergriffen wird, der an Trunkenheit grenzt. Ein heftiges Herzklopfen beklemmt mich, hebt meine Brust empor. Da ich im Gehen nicht mehr atmen kann, lasse ich mich unter einem Baum am Wegrand hinsinken; dort verbringe ich eine halbe Stunde in einer solchen Aufregung, dass – wie ich beim Aufstehen feststelle – das Ganze Vorderteil meiner Jacke durchtränkt ist von den Tränen, die ich, ohne es zu merken, vergossen habe."

    Rousseau lässt die Funken und Facetten seiner Erleuchtung nur so sprühen: Lichteffekte, Überwältigung, Verwirrung, körperliche Symptome wie Schwindel, Herzklopfen, affektive Reaktionen wie Erregung, Tränen. Etwa zwanzig Jahre später findet das Ereignis Eingang in seine "Confessions", seine "Bekenntnisse":

    "Im Augenblick, als ich die Frage las, sah ich eine andere Welt und wurde ein anderer Mensch... All meine kleinen Leidenschaften wurden von der Begeisterung für die Wahrheit, die Freiheit, die Tugend erstickt, und noch erstaunlicher ist, dass diese Erregung mehr als vier oder fünf Jahre in meinem Herzen anhielt, und zwar in einem so hohen Grade wie vielleicht niemals zuvor in dem Herzen eines anderen Menschen."

    Die hier angedeuteten Wirkungen, die innere Verwandlung, die Spaltung zwischen dem alten und dem neuen Ich, die Freiheit von den kleinen Leidenschaften und von der Selbstsorge, kennen wir aus der Kulturgeschichte der Erleuchtungen, beispielsweise aus den "Bekenntnissen" des Augustinus. Bei Rousseau spiegeln sie die plötzliche Gewissheit wider, dass der Mensch von Natur aus rein und gut, als vergesellschafteter jedoch schlecht und verworfen sei.

    In der Abhandlung, die er nach dem Erleuchtungserlebnis schreibt und für die er den Preis der Akademie von Dijon erhält, legt er den Akzent auf die schädliche, ja verderbliche Wirkung von Wissenschaft und Kunst; ihnen hält er das glückliche Unwissen und die selige Unschuld entgegen, die eine "ewige Weisheit" den Menschen mit auf den Weg gegeben habe. Wissenschaft und Kunst dagegen hätten die Ketten, die die Völker fesseln, mit Girlanden verziert; und in ihrem Gefolge seien Ehrgeiz und Luxus aufgetreten, um die Tugenden zu vernichten und die Sitten zu verderben. Rousseau fragt:

    "...welches Joch könnte man Menschen auferlegen, die nichts brauchen?"

    Es folgen Jahre voller Inbrunst, in denen er weitere "Geniefunken" aus dem Erlebnis von Vincennes schlägt: Er schreibt die "Abhandlung über die Ungleichheit" und den Traktat über die Erziehung, "Émile". Seine Zivilisationskritik trägt ihm heftige Anfeindungen, ja Verfolgung ein. In ihm wächst das Gefühl, seine "Erleuchtung" und die – von Diderot befürwortete – Entscheidung, seine Gedanken niederzuschreiben und sich um den Preis zu bewerben, habe ihn ins Unglück gestürzt.

    In den "Confessions" heißt es:

    "...von diesem Augenblick an war ich verloren. Der Rest meines Leben und meine Leiden waren die unvermeidliche Folge dieses Augenblicks der Verwirrung."

    Rousseau versucht nun nicht nur, seinen Schriften durch den Bezug auf das etwa zwanzig Jahre zurückliegende Erleuchtungsereignis Authentizität zu verleihen, sondern auch ihren revolutionären Gehalt zu relativieren. Gleichzeitig entschärft er die Sprengkraft seiner politischen Philosophie, indem er versichert, der gesellschaftliche Entwicklungsprozess sei nicht rückgängig zu machen; er sei allenfalls dort aufzuhalten oder zu verhindern, wo er sich aufgrund bestimmter Bedingungen noch nicht durchgesetzt habe.

    In diesen komplexen Verästelungen wird deutlich, welche Umbrüche eine plötzliche Erkenntnis sowohl im unmittelbaren Denken und Handeln als auch im biografischen Rückblick und in der Rezeption einer Theorie bewirken kann.

    Einige Literaturwissenschaftler haben nachzuweisen versucht, Rousseau habe die "Erleuchtung von Vincennes" fingiert. Sein Bericht sei ein bewusster Kunstgriff, eine apologetische Selbstdarstellung, die er sich beim Schreiben des Briefes an Monsieur de Malesherbes habe einfallen lassen und einige Jahre später in die "Confessions" übernommen habe.

    Dem ist, über die Frage nach der Übereinstimmung von Text und Realität hinaus, entgegenzuhalten: Eine innere Wahrhaftigkeit kann an die Stelle einer solchen Übereinstimmung treten, die es als reine, eindeutige und dauerhafte gar nicht geben kann; denn ein Ereignis kann nicht anders erzählt werden als so, wie es sich im Gedächtnis einschreibt und bewahrt – vielleicht brennender und heftiger, als es je in der Realität gewesen ist.

    Der französische Schriftsteller Jean Guéhenno schrieb im Jahre 1954 über Rousseau:

    "Er antwortete aus ganzer Seele, mit seinem ganzen Leben ‚Nein' – ‚Nein' gegen die Mode, gegen den Strom, gegen die Erwartungen des ganzen Jahrhunderts; erst durch dieses 'Nein' wurde er wirklich geboren und begann, Jean-Jacques Rousseau ... zu werden."

    In dem Satz deuten sich die Umrisse einer aufschlussreichen These an: Philosophische Konzeptionen gehen, soweit sie einer plötzlichen Erkenntnis entspringen, mit einem neuen Lebensentwurf, gleichsam einer zweiten Geburt, einher. Dieser These hat der Philosoph Dieter Henrich kürzlich eine Studie gewidmet: "Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten". Danach prägt sich der "unvergessliche Moment kristalliner Einsicht" den Betroffenen unauslöschlich ein, verwandelt sie und bringt philosophische Konzeptionen und Theorien hervor, die zu einer Werkidee, ja einem philosophischen Werk hinführen. Henrich stellt fest:

    "Überblickt man die Entstehungsgeschichte vieler philosophischer Konzeptionen und Werke gleichzeitig, dann wird die Häufigkeit auffallen, in der im Lebensgang von Philosophen von besonderen Ereignissen einer sich plötzlich eröffnenden Einsicht berichtet wird. Nur einmal geschieht in einem Philosophenleben eine Eröffnung solcher Art; aber sie ist für die gesamte weitere Geschichte einer Konzeption und eines Oeuvres von prägender Bedeutung."

    Das Entscheidende der plötzlichen Erkenntnis der Philosophen liegt Henrich zufolge in der doppelten Auskunft darüber, was das Dasein ist und "wie ein bewusstes Leben zu führen ist":

    "In den ursprünglichen Einsichten der Philosophen verbindet sich die Lösung eines theoretischen Grundproblems damit, dass sich eine Lebensperspektive eröffnet – nicht zusätzlich und kumulativ, sondern so, dass der Weg zu einer Grundlehre und der Weg zu der Begründung einer Lebensweise ein und derselbe Weg sind."

    Die Einheit von "Wissensbegründung und Lebensorientierung" beruht darauf, dass sich zwei Sachverhalte verbinden: einerseits die soziokulturellen und philosophischen Problemlagen einer Zeit, welche die alten Ordnungen in Frage stellt, sodass neue wissenschaftliche Vernetzungen und Konstellationen, neue Wissensfelder und wissenschaftliche Ansätze sowie ungewohnte Selbstbeschreibungen des Menschen entstehen; andererseits die Lebensdynamik eines denkenden Subjekts, das mit persönlichen Konflikten, Zweifeln und Unsicherheiten konfrontiert ist.

    Hinzu kommt die mögliche Herkunft des Geistesblitzes aus Zonen, die dem Wollen und Drängen entzogen sind, sowie die Blitzartigkeit, mit der Befürchtungen des zensierenden Verstandes hinweggefegt werden. Neuen Lebensentwürfen, neuen Konzepten, neuen Ordnungen steht dann nichts oder wenig im Wege.

    Es ist das Miteinander der theoretischen und der lebenspraktischen Dimension, durch das sich, Dieter Henrich zufolge, die überraschende philosophische Erkenntnis von der bloßen "Heureka-Erfahrung" unterscheidet.

    Mit dem Ruf "Heureka", "ich hab's gefunden!", soll der altgriechische Mathematiker und Physiker Archimedes nackt nach Hause gelaufen sein, um den rettenden Einfall niederzuschreiben, der ihm in einem öffentlichen Badehaus gekommen war. Dort entdeckte er, als er in eine bis zum Rand gefüllte Wanne stieg und sah, wie das Wasser überlief, das sogenannte "Auftriebsgesetz", das ihm half, eine Aufgabe zu lösen, die ihm der König von Syrakus gestellt hatte.

    Über den britischen Naturforscher Isaac Newton ist eine ähnliche Geschichte überliefert. Es heißt, die Idee zum Gravitationsgesetz, das die gegenseitige Anziehung von massebehafteten Körpern – sei es auf der Erde, sei es im Universum – beschreibt und berechnet, sei ihm gekommen, als er einen Apfel vom Baum fallen sah.

    Dem Ereignis plötzlicher Erkenntnis geht nicht selten eine längere Zeit der Beunruhigung, des Nachdenkens und Suchens nach einer Lösung voraus. In seinem berühmten, 1919 erschienenen Vortragstext über "Wissenschaft als Beruf" hat Max Weber, einer der wichtigsten Gründungsväter der Soziologie, "harte Arbeit" als Voraussetzung wissenschaftlicher Eingebungen bezeichnet:

    "Die besten Dinge ... wären einem ... nicht eingefallen, wenn man jenes Grübeln am Schreibtisch und wenn man das leidenschaftliche Fragen nicht hinter sich gehabt hätte."

    Doch damit sich der Einfall und die überraschende Erkenntnis "ereignen" – Weber weist daraufhin –, ist eine innere Disposition der Gelöst- und Gelassenheit notwendig. Verbohrtes Forschen, verzweifeltes Grübeln oder wahlloses Herumtappen, um einen Ausgang aus den Sackgassen des Lebens oder des Denkens zu finden, sind dem Ereignis abträglich, es sei denn, man hat all jene Anstrengungen bereits "hinter sich".

    Erst wenn die Unruhe, die ein verworrenes Gedankenspiel oder eine verfahrene Situation auf den Menschen ausübt, nachlässt, werden Pfade für den Gedankenblitz frei. Er selbst überblendet dann all die vorausgelaufenen oder im Augenblick ablaufenden Vorgänge und Verknüpfungen, die manche Schriftsteller enthüllen.

    Dabei können Geistesblitze und plötzliche Eingebungen durchaus auch im Zittern und Beben der Gegenwart, in heiklen und bedrückenden Situationen, aufscheinen, wie die Werke Balzacs zeigen. In dem Roman "Le cousin Pons" (Vetter Pons) heißt es über den in Paris lebenden armen deutschen Klavierlehrer namens Schmucke, der seinen geliebten Freund, den Dirigenten Pons, in einer sehr schmerzlichen Situation mit Gesten und Ausdrücken getröstet hat:

    "Schmucke rieb sich die Hände, bis beinahe die Haut abging, hatte er doch einen dieser plötzlichen Einfälle, die nur dann einen Deutschen in Erstaunen versetzen, wenn sie seinem von Respekt vor den Potentaten der Kleinstaaten erstarrten Hirn blitzschnell entspringen."

    Balzac scheint hier anzudeuten, dass ein bestimmtes, durch die politischen und kulturellen Verhältnisse der Zeit bedingtes Verhalten das Hirn erstarren lassen kann, was jedoch Geistesblitze nicht unbedingt daran hindert, zu entstehen und in Erscheinung zu treten. Vergessene Wahrnehmungen und Gefühle können aufsteigen, sich mit aktuellen Beobachtungen verbinden und in einem Gedankenblitz entladen.

    Auch mitten in der Katastrophe, mitten im größten Wahnsinn und Horror, kann ein Gedanke hervordrängen, der den Blick auf die Katastrophe verwandelt. Primo Levi erlebte in Auschwitz beim Rezitieren eines Verses von Dante eine "gigantische" Intuition, die ihn aufwühlte und zugleich vielleicht rettete.

    Ruth Klüger berichtet in ihrem autobiografischen Werk "Weiter leben. Eine Jugend" von einem überraschenden Erkenntniserlebnis, das ihr im Vernichtungslager Auschwitz widerfuhr. Als Elfjährige wurde sie im September 1942 zusammen mit ihrer Mutter in das Lager Theresienstadt verschickt, und von dort etwa einundeinhalb Jahre später nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort wurden ihr und den anderen neu eingepferchten Häftlingen Nummern auf den linken Unterarm tätowiert. Kurz darauf geschah folgendes:

    "Das Außerordentliche, ja Ungeheuerliche meiner Situation kam mir so heftig ins Bewusstsein, dass ich eine Art Freude empfand. Ich erlebte etwas, wovon Zeugnis abzulegen sich lohnen würde. Vielleicht würde ich ein Buch schreiben... Niemand würde abstreiten können, dass ich zu den Verfolgten zählte, denen man Achtung entgegenbringen musste (was man mit den einfach Vernachlässigten, den beiseite Geschobenen nicht tat), wegen der Vielfalt ihrer Erlebnisse. Man würde mich ernst nehmen müssen, mit meiner KZ-Nummer... Ich erfand mir also aus dem Erlebnis abgründigen Verachtetseins eine Zukunft, in der mir gerade dieses Erlebnis Ehre einbringen würde."

    Wie im Fall vieler großer überlieferter Eingebungen und Erleuchtungen zieht hier die plötzliche Gewissheit Freude und Wandlung nach sich: Ein Ziel und eine Zukunft haben sich aufgetan.

    Gedankenblitze lassen sich nicht durch den Willen erzwingen – darin stimmen alle Zeugnisse überein. Sie entspringen vielmehr dem Verzicht auf den Willen, ob der Verzicht nun seinerseits durch Willenskraft, durch ablenkende Eindrücke, durch eine ermüdende Tätigkeit oder durch Schlaf herbeigeführt wird.

    Arthur Schopenhauer hat die Notwendigkeit der Befreiung vom Willen für all diejenigen herausgearbeitet, die der Wahrheit teilhaftig werden möchten. Der Schluss liegt nahe, dass der "Moment ganz willensreiner Erkenntnis", den Schopenhauer preist, sich auf einzigartige Weise im Geistesblitz verwirklicht, wobei dieser dem betroffenen Menschen zugleich erlaubt, dem vom Willen durchdrungenen und bedrängten Sein zu entrinnen.

    Der Philosoph Dieter Henrich scheint in dem bereits genannten Werk diese Vermutung zu bestätigen:

    "Doch in der absorbierenden Arbeit kommen, ebenso wie in dem plötzlichen Aufgang von Einsicht, doch nur die Selbstbeobachtung und alle diejenigen Interventionen zum Erliegen, mit denen das besorgte Leben seine Alltagstätigkeiten durchzieht. Daraus kann sich das Bewusstsein der Erhebung in ein subjektfreies Fließen ergeben."

    Die Befreiung von der Selbstsorge und den "kleinen Leidenschaften", die vielleicht Nietzsches "vollkommnem Außersichsein" entspricht, erklärt den Glücksüberschwang, der häufig mit einem Geistesblitz einhergeht. Parallelen zum Witz – zur Lust am Witz – drängen sich auf. Abgesehen davon, dass Witze durch einen plötzlichen Einfall entstehen können und nicht selten Aha Effekte auslösen, hat der Geistesblitz mit dem Witz – bei allen Unterschieden – manches gemein. Wie die Hirnforschung ermittelt hat, sind ihnen sogar bestimmte Hirnareale gemeinsam.

    Witzen gelingt es – so Sigmund Freud –, die moralische Zensur des Über-Ichs zu durchbrechen, durch welche die verdrängten aggressiven, feindseligen oder obszönen Regungen gewöhnlich daran gehindert werden, ins Bewusstsein zu dringen. Die sprachliche "Witzarbeit" – Wortspiel, Anspielung, Verdichtung, Auslassung, Unsinn – "verwirrt" das kritische Urteil und täuscht die Zensur. So können Regungen befriedigt werden, deren Befriedigung ohne die Witzarbeit unterblieben wäre – ein lustvoller Vorgang, durch den weitere Lustquellen freigelegt werden.

    Der Geistesblitz seinerseits durchbricht seltener eine moralische Zensur als den herrschenden Zwang zum nützlichen, logischen und methodischen Denken, wobei ihm natürlich ein solches vorausgegangen sein kann. Durch seine Blitzartigkeit überlistet er den am Nutzen orientierten, den Zeitvorgaben und dem Expertenwissen unterworfenen "zensierenden Verstand".

    Dass eine solche innere Zensur existiert, hat bereits Friedrich Nietzsche in den achtziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts angedeutet:

    "Das Maß dessen, was uns überhaupt bewusst wird, ist ja ganz und gar abhängig von der groben Nützlichkeit des Bewusstwerdens."

    Gedankenblitze verscheuchen also – dem Witz ähnlich – allerlei Hindernisse, die unsere Psyche aufbaut, um scheinbar Unnützes und Gefährliches fernzuhalten. Dabei überwinden sie auch den Gegensatz zwischen Gefühl und Verstand, der gewöhnlich eine schmerzliche Unterordnung des einen oder des anderen impliziert, und verwischen die Grenze zwischen dem für möglich und dem für unmöglich Gehaltenen, was ebenfalls Glücksgefühle nach sich ziehen kann.

    Der plötzliche Einfall bedarf im Übrigen keines grandiosen Gehalts, um zu beglücken; die Intensität und die Lebendigkeit der Erkenntnis als solcher können den Menschen glücklich machen, ist dieser doch ein Wesen, dem das Verlangen nach Erkenntnis angeboren ist.

    Dies belegt ein Abschnitt aus dem Tagebuch des zeitgenössischen franko-flämischen Schriftstellers Henri Bauchau aus den Jahren 2002 bis 2005:

    "Wieder sind mir mehrere Tage ohne wirklich konkrete Ergebnisse durch die Finger geronnen, in einem Zustand wachsender Müdigkeit... Doch dann vor zwei Nächten ein unerhofftes Ereignis: mitten in der Nacht werde ich wach und habe eine plötzliche Inspiration, dann ... die Gewissheit dass ich Vaso und Gamma, vielleicht auch Véronique [Figuren des Romans 'L'enfant bleu' (Das blaue Kind), J.K.] – in meine Antigone-Oper einführen sollte. Große Freude über diese Inspiration. Sie wird vielleicht gegen Schwierigkeiten stoßen, die ich jetzt noch nicht überblicke, doch sie war da, und selbst wenn sie zu nichts führt, wird sie meinen Alltag mit Licht erfüllt haben."

    Licht breitet sich aus, Glück über den Einfall selbst, unabhängig davon, was er enthält, unabhängig von seinem Nutzen im konkreten Schaffensprozess.

    Woher aber rührt das Schmerzliche, das Angstmachende, das Geistesblitzen und Erleuchtungen innewohnen kann, wie Nietzsche bezeugt, spricht er doch von einer "Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirken".

    Der Geistesblitz fährt "dazwischen", und das Dazwischen macht Angst. Das Erkannte selbst scheint zuweilen erschreckend, dem Interesse geleiteten Selbst widersprechend, und die Aufgabe, es umzusetzen, überwältigend. Auch die Furcht vor den Folgen oder umgekehrt die Befürchtung, der Gedankenblitz könne sich als Täuschung, der Weg, auf den er einen Menschen bringt, sich als Holzweg erweisen, kann eine Rolle spielen.

    Fast immer wird das Düstere jedoch – und sei es nur für einen Augenblick – von der Form, von der Performanz des Geistesblitzes, überblendet. Etwas ist geschehen, etwas hat mich ergriffen und aus den gewohnten Denkbahnen geworfen...

    Viel verdankt die Kultur- und Alltagsgeschichte den plötzlichen Erkenntnissen, den Erleuchtungen und Geistesblitzen, haben sie doch Licht in Wissenschaft und Philosophie gebracht, befreiende lebenspraktische und künstlerische Funken in die Welt gesetzt, Leben gerettet und literarischen Texten Gelegenheit zu einem Sprung nach vorn oder zu einer Kehrtwende geboten.

    Auf die Wirksamkeit der überraschenden Eingebung in den verschiedenen soziokulturellen Bereichen hat Max Weber in dem erwähnten Vortrag hingewiesen.

    "Sie spielt auf dem Gebiete der Wissenschaft ganz und gar nicht – wie sich der Gelehrtendünkel einbildet – eine größere Rolle als auf dem Gebiete der Bewältigung von Problemen des praktischen Lebens durch einen modernen Unternehmer. Und sie spielt andererseits – was auch oft verkannt wird – keine geringere Rolle als auf dem Gebiete der Kunst."

    Kein Wunder, dass sich Neurowissenschaftler einem solchen Phänomen zugewandt haben. Sie konzentrieren sich auf problemlösende Geistesblitze, die sich in Testsituationen herbeiführen und deren zerebrale Erscheinungsformen sich durch moderne bildgebende Verfahren darstellen lassen. Testpersonen müssen beispielsweise – so berichtet der amerikanische Wissenschaftsjournalist und Buchautor Jonah Lehrer – Sprachpuzzles lösen: Dabei sind drei Wörter – deutschsprachig etwa "Feder", "Bezug", "Fluss" – durch ein und dasselbe Wort so zu ergänzen, dass drei zusammengesetzte Wörter mit neuer Bedeutung entstehen.

    Der springende Punkt: Die Lösung kann auf dem Weg systematischen Suchens und Analysierens oder durch einen plötzlichen Einfall gefunden werden.

    Blitzartig scheinen "Federbett", "Bettbezug" und "Flussbett" auf oder aber man geht systematisch-suchend vor, um zu demselben Resultat zu gelangen.

    Jonah Lehrer beschreibt die Untersuchungsergebnisse bei Testpersonen mit blitzartigem Einfall:

    "Obwohl die Lösung scheinbar aus dem Nirgendwo kam, hatte das Gehirn den Durchbruch sorgfältig vorbereitet. Die Gehirnareale, die während des Problemlösungsprozesses als erste aktiv wurden, waren diejenigen, die für die Planungs- und Steuerungsprozesse zuständig sind, wie der präfrontale Cortex und der vordere cinguläre Cortex."

    Einer der von Lehrer interviewten amerikanischen Hirnforscher kommentiert:

    "Die Kapazitäten unseres Bewusstseins sind sehr beschränkt, weshalb der präfrontale Cortex all diese Pläne macht, ohne uns etwas davon zu sagen."

    Schließlich der Endspurt – in einer Gehirnregion, die gewöhnlich an der Verknüpfung weit voneinander entfernter Informationen und an der Deutung von Metaphern und Witzen beteiligt ist:

    "Unmittelbar vor dem plötzlichen Einfall wurde in einer kleinen Geweberegion auf der Oberfläche der rechten Hirnhemisphäre, dem sogenannten Gyrus temporalis superior anterior, eine ungewöhnliche kurze und heftige elektrische Aktivität festgestellt, die zu einem plötzlichen Blutandrang führte."

    Keine auffälligen Aktivitäten in dieser Region waren bei Personen festzustellen, die durch bewusstes Suchen zur Lösung der Puzzles gelangten.

    Durch die neurowissenschaftlichen Versuche sind uns die zerebralen Vorgänge, die in der Sekunde der Plötzlichkeit eines Geistesblitzes ablaufen, nicht mehr ganz unbekannt. Doch die Frage stellt sich, ob die in Testsituationen erzeugten Einfälle den spontanen Geistesblitzen gleichkommen und ob es statthaft ist, vom psychischen Erleben und von den emotionalen Reaktionen vollkommen abzusehen.

    Der Bereich der Hirnforschung, der sich mit plötzlichen Einfällen befasst, hat sich bedauerlicherweise nur in geringem Maße den Zeugnissen der Weltliteratur geöffnet, die von komplexeren Evidenz- und Erleuchtungserfahrungen zu berichten wissen. Er steht indessen der Kreativitäts- und Lernforschung nahe, die der klassischen Auffassung vom Denken und Lernen als graduellen, zielgerichtete Aufmerksamkeit und Konzentration verlangenden Prozessen seit einigen Jahren andere Paradigmen hinzugefügt hat. Jonah Lehrer schreibt:

    "Unsere besten Gedanken entstehen während des Halbschlafs. ... Einen Einfall herbeizwingen zu wollen, kann ihn verhindern. Während im Allgemeinen angenommen wird, dass die beste Art, ein schwieriges Problem zu lösen, darin besteht, Ablenkungen zu vermeiden, die Aufmerksamkeit auf die relevanten Details zu lenken und sich zu konzentrieren, zeigt sich, dass derartige geistige Zusammenballungen die kreativen Verknüpfungen, die zu plötzlichen Durchbrüchen führen, blockieren können. Wir unterdrücken genau die Gehirnaktivität, die wir unterstützen sollten."

    Die Kreativitätsforschung sucht – ihrem Herkommen aus der Sphäre des militärischen Wettrüstens und des ökonomischen Konkurrenzkampfes treu – nach geeigneten Methoden, um die Disposition zu sogenannten Heureka-Erlebnissen zu stärken. Erleuchtungserfahrungen und plötzliche Intuitionen mit geschichtsphilosophischem und ethischem Gehalt scheinen hier, nicht anders als in den Versuchsreihen der Gehirnforscher, keinen Platz zu haben.

    Das gilt auch für die zeitgenössische Ratgeber-Literatur, die den Menschen, die im Überlebenskampf stehen und Rat suchen, "innovative Ideen" verrät. Man glaubt zu wissen, dass Erfolg in Politik und Wirtschaft nicht ohne "frische Perspektiven" und ohne "Bewegung im Kopf" zu erreichen ist. Die als "Karrierezünder" gepriesenen Kniffe versprechen Wirksamkeit, nicht Wahrhaftigkeit, sie verheißen praktischen Nutzen und Vorteil, nicht aber das Glück des Erkennens. Ihre Techniken haben mit den ekstatischen Momenten von Geistesblitzen und plötzlichen Erkenntnissen so wenig zu tun wie Knallfrösche mit Friedrich Schillers "Ode an die Freude".

    Selten brüsten sich Politiker und Politikerinnen mit Gedankenblitzen, allenfalls attestieren sie ihren Konkurrenten in ironischer Absicht Erleuchtungs- und Offenbarungserlebnisse. Liegt es daran, dass Politiker kaum in den Genuss überraschender Einfälle und Eingebungen kommen, worin sie den in ihrem Denken und ihrer Praxis gefangenen Experten ähneln würden' Diese erleben – so die wissenschaftliche Erkenntnis – bedeutend weniger Geistesblitze als beispielsweise Nichtspezialisten, die nur marginal mit einer Fragestellung befasst sind.

    Oder haftet den Geistesblitzen ein zu starker Geruch von Unverstand und Kehrtwende an, um von Politikern und Experten geschätzt zu werden?

    Werden die plötzlichen Eingebungen und Intuitionen der Übermacht ständig wechselnder Reize und Informationen erliegen, benötigen sie doch, um zu entstehen und in Erscheinung zu treten, Momente der Entspannung?

    Oder werden die Geistesblitze – falls allen und allem zum Trotz entstanden und hervorgebrochen – unerkannt versanden, weil unsere Augen auf kleine und große Bildschirme starren und unsere Ohren digitalen Tonquellen gehören?

    Wird es in einer "Gesellschaft der Monitore" nur noch auf den Displays blitzen?

    Nicht ausgeschlossen ist indessen, dass aus dem digitalen Experimentieren, dem Frequentieren der sozialen Netzwerke und dem Umstrukturieren des Wissens neue Funken sprühen werden, zumal diese Aktivitäten dem eingefleischten Willen und der übertriebenen Selbstsorge – Feinde der plötzlichen Erkenntnis – einen Dämpfer aufsetzen können. Ein paar Tage vor Pfingsten leuchtete dieser Gedanke wie ein Blitz in mir auf.

    Essay und Diskurs 2012-05-27 - Der Geistesblitz: Zum Phänomen der plötzlichen Erkenntnis (1/2)
    Literarische und religiöse Darstellungen