"Wieder träumte General Juan Perón, er gehe bis zum Eingang des Südpols und eine Horde Frauen lasse ihn nicht hinein. Beim Erwachen hatte er das Gefühl, sich in keiner Zeit zu befinden. Er wußte, daß es der 20. Juni 1973 war, doch das hatte nichts zu bedeuten. Er war in einem Flugzeug unterwegs, das bei Anbruch des längsten Tages in Madrid gestartet war und dem Abend des kürzesten Tages in Buenos Aires entgegenflog. Das Horoskop prophezeite ihm einen unbekannten Schicksalsschlag. Was für ein Schlag mochte das sein, wo doch der einzige, den er noch nicht erlebt hatte, der ersehnte Tod war?"
Mit diesem Auftakt des Romans befinden wir uns mitten in der Fiktion und zugleich mitten in der Geschichte: am 20. Juni 1973 kehrte Perón nach 18jährigem Aufenthalt im spanischen Exil nach Argentinien zurück, um dort für ein Jahr - bis zu seinem Tod im Juli 1974 - noch einmal die Regierung zu übernehmen. Perón, fast 80jährig, war zu diesem Zeitpunkt ein schon vom Alter gezeichneter Mann, aber für viele Argentinier aus den unterschiedlichsten politischen Lagern immer noch ein Idol und Held, von dem sie glaubten, er könne das abgewirtschaftete Land noch einmal vor dem Bankrott retten. Am Abend seiner Rückkehr versammelten sich in der Nähe des Flughafens von Buenos Aires mehr als drei Millionen Menschen, um "ihren General" zu empfangen. Da kommt es in der vor Erwartung brodelnden Menge zu Ausschreitungen, provoziert von Polizei und Militär, die die Gelegenheit wahrnehmen, um gegen Vertreter und Anführer organisierter Untergrundgruppen vorzugehen. Die Kundgebung löst sich in einem Gemetzel auf und läßt am Tag der geplanten triumphalen Rückkehr Juan Peróns an die 300 Tote zurück. Gegen Ende des Romans reiht Martínez die verzweifelten Erlebnisse der Demonstranten wie die Scherben einer zersplitterten Wahrnehmung atemlos aneinander:
"Du hast verzweifelt eine Zigarette gebraucht, Vicki Pertini. Nach all den Kämpfen wolltest du den Kopf in irgendeiner Pfütze nässen, verschnaufen und die Seele mit einem Glimmstengel wärmen. Dann der Schuß. Eine Tür ist aufgegangen, die du nicht erwartet hast, und auf einmal bist du schon auf der anderen Seite, stößt den Rauch der Zigarette aus, die du morgen rauchen wirst. Der Schuß. Zur Abwechslung läufst du. Schreist etwas. Und ohne zu wissen, wie, kehrst du mitten in den Strudel zurück, der Malstrom saugt dich ein, dein schmächtiger, für das Nichts und die Verdunstung bestimmter Körper ist nicht mehr bei dir, Vicki, jetzt spürst du nur noch, daß Pepe Juárez deine Hand losläßt (...) und eine bestialische Kraft dich an den Haaren zur Tribüne hinaufzieht, dich unters Bild des General schleift, während dich andere Klauen mit einem schwarzen Stück Plastik ersticken. Und du weißt nicht, in welchem Winkel des Nichts du dich verstecken sollst, das Häuchlein Mensch, das du bist, wie du aus dir herausfahren sollst, damit dich die Kettenstreiche nicht noch mehr zerreißen."
Das Netz, in dem Martínez uns gefangen nimmt, ist aus vielen solchen Stimmen geknüpft. In jedem der 20 Romankapitel treffen wir auf neue Figuren, Skizzen ihrer Biographie, Episoden, Erinnerungen und Handlungen und befinden uns dabei immer an einem anderen Ort, ob in Buenos Aires oder der Pampa Südargentiniens, ob in den Gemächern des Generals in Madrid oder in einem Flughafenhotel in Ezeiza. Und jede Stimme führt uns durch verschiedene Etappen der Geschichte: von der Kindheit Peróns bis zu seinem Tod, von mißglückten Putschversuchen bis zur Machtergreifung, von der fast religiösen Verehrung Evitas bis zu den Terroranschlägen der Stadtguerilleros. Im wesentlichen sind es drei Ebenen, die den Roman durchziehen. Im Mittelpunkt stehen die letzten Exiltage Peróns vor seiner Abreise aus Madrid. Hier zeigt ihn Martínez bei der Lektüre seiner im Entstehen begriffenen Memoiren, in denen er mühsam versucht, die Narben seiner widersprüchlichen Biographie zu überdecken. Oder wir sind bei den affektierten Gesprächen mit seiner dritten Frau Isabel dabei, die nach seinem Tod die Regierung übernehmen wird. Wir lernen den einflußreichen und skurrilen Sekretär José Lopez Rega ebenso kennen wie den damals amtierenden Präsidenten Argentiniens, Hector Cámporas, der den General nach Hause holt und durch seinen späteren Rücktritt dessen Wiederwahl zum Staatschef ermöglicht.
In einem zweiten Handlungsstrang konfrontiert uns Martínez gewissermaßen mit dem argentinischen Volk und mit Vertretern verschiedener politischer Gruppierungen und ihrer Anführer in Buenos Aires, die sich auf die Rückkehr ihres Generals vorbereiten. Die dritte Ebene, und das ist der geschickteste Schachzug des Romans, wird in der Person des Reporters Zamora verkörpert. Er soll im Auftrag der Zeitschrift "Horizonte" ein Portrait Peróns erstellen, von dem sich der Chefredakteur eine neue Sichtweise auf den General verspricht:
"Womit sollen wir den Hunger unserer Leserschaft stillen? Mit Auszügen aus seinen Reden, mit einem glorreichen Fotoalbum, wie es die Wochenzeitung "Dente" macht? Der offizielle Perón ist längst ausgeschöpft. Wir müssen den anderen suchen. Erzählen Sie seine ersten Jahre, Zamora, das hat noch nie jemand im Ernst getan. Es gibt haufenweise Lobreden, Mythen, Dokumentensammlungen, aber die Wahrheit ist nirgends zu sehen. Wer war der General, Zamora? Enträtseln Sie ihn ein für allemal - kitzeln sie die Worte hervor, die er sich nie zu sagen getraut hat, beschreiben Sie die Impulse, die er wahrscheinlich unterdrückte, lesen Sie zwischen den Zeilen... Die Wahrheit ist, was man verbirgt, nicht wahr? Suchen Sie die Zeugen seiner Kindheit und Jugend (...) Das ist es, da müssen Sie anfangen! Der Perón, den die Argentinier kennen, scheint 1945 geboren worden zu sein, mit fünfzig - ist das nicht absurd?"
Zamora geht eifrig an seine Arbeit, blättert in den Fotoalben unmittelbarer Verwandter Peróns, liest in ihren Tagebüchern und hält die Erinnerungen von Freunden und Weggenossen in Interviews fest. Das Ergebnis seiner Recherche ist eine Sondernummer der Zeitschrift "Horizonte", die den Titel trägt: "Das vollständige Leben Peróns / Der Mensch / Der Führer / Dokumente und Aussagen von hundert Zeugen". Ausschnitte aus dieser Dokumentation und ihrer Entstehungsgeschichte sind über den ganzen Roman als Zitate, Berichte und Erzählungen verteilt. So erfahren wir etwas über die ärmlichen Verhältnisse, aus denen Perón stammt, vom Überlebenskampf seiner Eltern in der Pampa, wir lernen die Demütigungen kennen, die er später als Kadett erleiden muß und die zugleich seinen Ehrgeiz steigern, sich über dieses Elend hinwegzusetzen, ohne es allerdings aus den Augen zu verlieren - eine Wahrnehmung, die Perón später helfen sollte, die unteren Schichten für sich zu gewinnen und zugleich eine Führernatur zu werden, die sich nicht zuletzt an den Schriften deutscher Kriegsstrategen wie denen des Generals Alfred von Schlieffen orientierte.
Ein anderes Bild von der Geschichte liefert uns der General selbst durch seine Memoiren, die er im Exil mit Hilfe seines Sekretärs Lopez verfaßt hat. Der kursiv gesetzte Text fließt deshalb so authentisch in den Roman ein, weil Martínez uns zugleich die Korrekturen mitliefert, die der General an seinem Selbstportrait vornimmt. Er versucht damit, seine intime politische Biographie dem Mythos anzugleichen, der in der Öffentlichkeit um ihn besteht.
Was uns der Autor also vorführt, ist ein ganzes Ensemble von Autoren, einer ehrlicher und beflissener als der andere, mit dem versteckten Hinweis, der Leser möge sich doch bitte selbst ein Bild machen und keinem oder allen glauben. Insofern modifiziert Martínez nicht die herkömmliche Geschichtsschreibung und auch nicht das Klischee, das wir in unseren Köpfen von Perón mit uns herumtragen - er versucht nichts anderes, als damit zu spielen und das Klischee als solches bloßzustellen. Seine Absicht ist es, uns mitzuteilen, daß die Wahrheit über Perón aus einer Fülle von Fiktionen besteht. Zu seinem Erstaunen mußte Martínez feststellen, daß er die Interpretationsfähigkeit seiner Leser überschätzte. Denn sie nahmen seine Romane über Evita und Juan Perón als eine fiktionale historische Darstellung und nicht als das was sie ist, als eine mit historischen Fakten spielende Fiktion. Dieses Erstaunen äußerte er erst kürzlich in einem Interview anläßlich des Erscheinens seiner neuesten Arbeit, einer umfangreichen Essaysammlung über die Identität des argentinischen Nationalgefühls.
"Obwohl ich als Schriftsteller angesehen werde, der die Fiktion mit der Geschichte in Einklang bringt, schließt diese Feststellung einen großen Teil meines Werkes aus. Z.B. veröffentlichte ich zwischen dem Roman Perón und Santa Evita ‘La Mano del Amo’ Geschichten, die die Sprache selbst als erzählerisches Experiment behandeln. Als ich die Romane schrieb, nahm ich mir vor zu versuchen, dem Leser, der eigentlich alles über die Personen, die im Roman vorkommen, weiß, etwas vorzulügen, und außerdem noch mit dem ausdrücklichen Wunsch, vom Leser dabei erwischt zu werden. Ausdrücklich wies ich auch darauf hin, daß beide Bücher ‘Romane’ sind, Erfundenes. Dafür wandte ich verschiedene Strategien an, ganz deutlich, in beiden Büchern gab es nichts als Lügen. Daß schlimme ist, daß man alles für bare Münze nahm, und niemand hat den Versuch gemacht, diese Lügen nachzuprüfen, was sehr einfach gewesen wäre. Man hätte nur die Interviews nachzulesen brauchen, die ich als Journalist gemacht habe. (...) Dabei wollte ich dem Leser keine Falle stellen. Ich wollte nur die Brüchigkeit der Wahrheit zur Probe stellen, beweisen, daß die Wahrheit nichts Absolutes ist, sondern vom Blickwinkel des Betrachters abhängt. Ich wollte nur zeigen, daß alles, was uns seit der Diktatur in Argentinien als Wahrheit verkauft wurde, völlig relativ ist.
Daß die Leser die Romane "für bare Münze" genommen haben, wie Martínez sagt, ist allerdings nicht erstaunlich, sondern ein Resultat der Überzeugungskraft und der Faszination, die sowohl von seiner Art des Schreibens wie auch von den Themen ausgehen. Man hat nirgendwo das Gefühl, daß die Berichte und Episoden aus Peróns Leben "erfunden" seien, sondern eben literarisch aufgearbeitet und romanesk dargestellt. Die Tatsache, daß der Autor seine Fiktion durch äußerst umfangreiche Recherchen etwa im Stil des Reporters Zamora fundiert hat, kann dieses Gefühl nur bestätigen. Hinzu kommen die Präzision, mit der der Autor Personen, Handlungen und Orte beschreibt, und die Lebendigkeit, die er einzelnen Szenen und Dialogen unterlegt. Dadurch entsteht der Eindruck, hier schreibt einer, der deshalb so virtuos mit seinem Stoff umgehen kann, weil er ihn bis ins Detail kennt und beherrscht. In einer Danksagung erwähnt Martínez nicht nur die "Berge" von angehäuftem Material und Dokumenten sondern auch die Maßlosigkeit der ersten Romanfassung, die sich auf fast zweitausend Seiten belief. Ohne Zweifel verdankt sich solche Gründlichkeit seinem journalistischen Beruf, dem Martínez seit 1957 nachgeht.
Er begann als Filmkritiker in Buenos Aires, war Chefredakteur einer Wochenzeitung, gründete im venezolanischen Exil in Caracas die Tageszeitung "El Diario" und Anfang der 90er Jahre die Tageszeitung "Siglo 21" in Mexico, schreibt als Kolumnist für die "New York Times" und die größte Zeitung Argentiniens "La Nación". Dies ist nur eine Andeutung der vielen Tätigkeiten, die Martínez, der heute als Professor für lateinamerikanische Literatur und Geschichte in den USA lebt, neben seiner Schriftstellerei ausübt und ausgeübt hat. Interessant und konträr zur europäischen Auffassung ist es, daß sich für ihn, ähnlich auch wie für seinen Landsmann Jorge Luis Borges oder für Gabriel García Márquez, das fiktionale und journalistische Schreiben weder widersprechen noch in die Quere kommen, denn, so sagt er in dem Interview: "Man bleibt ja immer dieselbe Person. Ich zumindest bin immer ein Schriftsteller gewesen, der als Journalist gearbeitet hat. Was ich zuerst im Leben gemacht habe, war, kleine Geschichten und Gedichte zu schreiben, und in einem bestimmten Moment, als ich gemerkt habe, daß ich als Literaturprofessor nicht genug Geld zum Leben verdienen konnte, habe ich angefangen, als Journalist zu arbeiten und habe entdeckt, daß ich noch dieselbe Person bin. Als Autor bin ich mir selber treu, als Journalist den anderen, mit denen ich zusammenarbeite. Das ist der ganze Unterschied. Außerdem kann ich sagen, daß ich das immense Glück hatte, nie auch nur eine Zeile zu veröffentlichen, in der ich meiner Überzeugung untreu geworden wäre. Niemals habe ich mich dazu verpflichtet gefühlt, auch nicht, wenn man mich gedrängt hat, schnell mal eine Zeitungsnotiz zu schreiben. Und das ist keine Kleinigkeit. Der Journalist hat nur ein einziges Kapital: seinen guten Namen. Und wenn jemand den verschenkt, verkauft er sich oder beschmutzt die Druckseite mit seiner Unterschrift, er tauscht alles gegen nichts ein."
Sich oder seiner Rolle nie untreu werden - dies könnte auch als ein Motto für den Roman gelten. Denn der Erfüllung dieser Aufgabe stellt sich jede der in ihm auftauchenden Figuren oder, anders gesagt, jede von ihnen hält an ihrer Sicht der Dinge fest: der müde General an seinem Sendungsbewußtsein und dem verklärten Blick auf sein zurückliegendes Leben; der Sekretär Lopez, der, so Martínez, einem Vorstadtmetzger gleicht, an seinen astrologischen Vorausdeutungen der Geschichte; oder die rothaarige Revolutionärin Diana an ihren Idealen, die sie in Frauengestalten wie Rosa Luxemburg und Evita Perón gleichermaßen verkörpert sieht - sie alle und viele mehr werden von ihrem poetischen Schöpfer mit größter Einfühlsamkeit behandelt. Jeder, auch die unwichtigste Nebenfigur, bekommt einen fast gleichwertigen Platz neben den Hauptdarstellern. Daher gestaltet Martínez kein Relief, sondern er webt einen Teppich, in dem Meinungen und Standpunkte, Intrigen und Unterstellungen, Illusionen und Tatsachen gleichberechtigt aneinanderstoßen und ineinander übergehen. Wer also eine kritische Auseinandersetzung mit der peronistischen Epoche Argentiniens von diesem Roman erwartet, wird enttäuscht werden. Sein Sinngehalt liegt gerade darin, der zum Mythos gewordenen Geschichte eine weitere Fiktion hinzuzufügen, so daß die in vielen Spiegelungen gefangene Wahrheit überhaupt erst eine Chance bekommt, entdeckt werden zu können. Martínez hat nie verborgen, daß Gestalten wie Perón oder Evita auf ihn wie auf Millionen von Argentiniern eine ungeheure Faszination ausübten. Ebensowenig hat er verleugnet, das diese Faszination lediglich Bildern galt, Vorbildern, Imaginationen, Wunschbildern, Ikonen, die vor allem dem Leben der verarmten Bevölkerung Halt und Sinn gaben. Im Epilog zu seinem Roman über Juan Perón schildert er eine Szene, die der Anlaß hätte sein können, ihn zu schreiben. Als der General zu Grabe getragen wird, errichtet Doña Luisa in einem Vorort von Buenos Aires einen Altar für ihn, in dessen Mitte ein Fernseher steht, in dem die Trauerfeierlichkeiten übertragen werden.
"Sie zündeten zu beiden Seiten des Fernsehers zwei große Kerzen an und hängten ein aus Baubrettern gefertigtes Kruzifix an die Decke. Die Wände schmückten sie mit schwarzen Schleifen, und Doña Luisa stellte ein wunderschönes Blumenarrangement aus Plastiknelken zu Füßen der Pyramide. Die Nachricht von der Totenwache verbreitete sich im ganzen Bajo Belgrano, und beim Eingang von Villa Insuperable bildete sich eine lange Schlange. Wenn sie beim Fernseher angelangt waren, knieten die Trauernden nieder, streichelten den Bildschirm und zogen sich still wieder zurück. Ab und zu reinigte Doña Luisa das Bild des Generals mit einem schwarzen Taschentüchlein und berührte durch die Scheibe seine Haare."