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Der geplante Sturz der Andrea Ypsilanti

Im vergangenen November verhinderten vier Genossen, dass Andrea Ypsilanti Ministerpräsidentin von Hessen wurde. Die "SPD-Viererbande" wurde von der Presse als Garant der Demokratie gefeiert. Volker Zastrow jedoch glaubt, die Geschichte dieses Eklats müsse umgeschrieben werden.

Von Rainer Burchardt | 17.08.2009
    Er schicke gern Leute aufs Dach und ziehe ihnen dann die Leiter weg. Dieser vom Autor dem hessischen Landespolitiker Jürgen Walter zugeordnete Satz sagt eigentlich alles über die "SPD-Viererbande", die im November 2008 mit einem aufsehenerregenden politischen Putsch die Gefolgschaft zur Bildung einer rot-grünen Landesregierung unter Tolerierung durch die Linke verweigerte. Den politischen Dachschaden, den die angeblich von ihrem Gewissen Getriebenen angerichtet haben, hat die hessische Landespolitik im Besonderen und die Demokratie im Allgemeinen bis heute zu ertragen.

    Dies mit akribischer Recherche und einfühlsamer Wertung herausgearbeitet zu haben, ist das eigentliche Verdienst des Autors, der beruflich als Politikchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung firmiert. Dass Volker Zastrow dabei sein eigenes Blatt zur hilfreichen Vermarktung seines wegen überzogener Detailtreue nicht immer spannenden aber höchst aufschlussreichen Buches instrumentalisierte, ist zwar verständlich, gibt dem Ganzen aber doch ein Geschmäckle.

    Sei's drum - bei dieser Lektüre wird das gesamte Spektrum des sumpfig-morastischen Politbiotops als Pars pro Toto sichtbar. So muss es wohl zugehen, in Hessen und anderswo, wenn es um Macht, um Pöstchen, Profil und politischen Profit geht. Würde das Kopfschütteln nicht den Lesefluss nachhaltig stören, man hätte mit dauerndem Schwindelanfall zu kämpfen. Den allerdings hatten, so Zastrow, vor allem der opportunistische Parvenue Jürgen Walter und seine Jugendfreundin Carmen Everts, die in einer bemitleidenswerten Attitüde von Zweifeln und angeblicher Aufrichtigkeit der Presse in Wiesbaden erläuterten, warum sie die SPD-Politikerin Andrea Ypsilanti nicht wählen konnten. Aus Gewissensgründen nämlich.

    In Wahrheit jedoch hatten die beiden schon Monate zuvor den Sturz Ypsilantis vom erträumten Karrieredach vorbereitet, ihr hinterlistig die Leiter gereicht und sie ihnen dann unter Vergießen von Krokodilstränen weggezogen. Dass ihre beiden "Mitkämpferinnen" Silke Tesch und die seit Monaten ehrlich und aufrichtig gegen Ypsilanti aufgetretene Dagmar Metzger solchermaßen von ihnen zu nützlichen Idiotinnen gemacht wurden, ist eine zu vernachlässigende Tatsache. Zeigt aber die ganze moralische Verkommenheit dieser politischen Aktion, durch die sich schließlich der ungeliebte Ministerpräsident Roland Koch im Amt halten konnte. Für Walter war das gebrochene leichtfertige Wahlversprechen Ypsilantis, nicht mit der Linken zu paktieren, nur ein willkommener Anlass, sich dafür zu rächen, dass ihm das mögliche Amt des Wirtschaftsministers verwehrt wurde. Ein Ding aus dem Tollhaus. Wie frustriert der seit Längerem in seiner Partei isolierte ehemalige Landesvorsitzende war, beschreibt Zastrow so:

    In gewisser Weise war Walter inzwischen weichgeklopft, aufgerieben, zumal er Stück für Stück an Einfluss verloren hatte.
    Sehr bald sei er völlig isoliert gewesen. So trug er auch nicht das Y-Zeichen der Kandidatin am Revers. Zastrow weiter
    Auf die Frage, warum er selbst es nicht trage, hatte Walter geantwortet: "Ich habe es mir schon auf den Arsch tätowieren lassen".
    Dass aus der Jugendfreundschaft Everts/Walter ein "politisches Paar wurde" arbeitet Zastrow sehr überzeugend heraus. Dabei bleibt die schweigende Herrschaft des Mannes über die duldende und duldsame politische Wegbegleiterin sehr deutlich.

    Sie wurden ein politisches Paar. Fester verbunden als durch einen Treueschwur. Was andere Walter übel nahmen, steckte Everts klaglos weg: nicht nur die großen, sondern die vielen kleinen Rücksichtslosigkeiten, mit denen er unwillentlich zum Ausdruck brachte, dass er anscheinend niemanden achtete.
    Und so wurde denn unter Walters Führung der Putsch eingeleitet. Ihm kam zudem zugute, dass mit Dagmar Metzger eine aufrichtige rechte Sozialdemokratin schon sehr früh öffentlich Widerstand gegen Ypsilanti artikuliert hatte. Die von ihr schon frühzeitig angeführte Gewissensnot überzeugte auch ihre Kritiker. Doch die perfide Berufung auf diesen psychischen Druck von Everts und Walter wirkt vor allem nach den Buchenthüllungen doppelt abstoßend und ekelerregend. Ganz davon abgesehen wurde ihnen in der veröffentlichten Meinung vorgeworfen, reichlich spät ihre Gewissensbisse gespürt zu haben. Mit Blick auf Everts schreibt Zastrow in diesem Zusammenhang:

    Besonders krumm wurde ihr genommen, dass sie betonte, wie schwer ihr die Entscheidung gegen Ypsilanti gefallen sei und wie schlecht es ihr dabei ging. Das lasen die Kritiker als unfairen Versuch, sie zu entwaffnen - wenn man eine Handlung für grundverkehrt hält, tut es ja nichts zur Sache, ob sie dem Handelnden schwergefallen ist. Vor allem frühere Weggefährten brachte Everts Appell an das Mitgefühl in Wut: Sie hatten schließlich auch eine Entscheidung getroffen und nahmen für sich genauso in Anspruch, dass sie ihnen nicht leicht gefallen war.
    All dieses schildert Zastrow mit sichtlichem Bemühen, so genau und objektiv wie möglich erscheinen zu wollen. Dies auch noch unterlegt durch bisweilen recht langatmige und irgendwie nach Text-Streckung aussehenden Exkursen etwa zu den Themen Gewissen oder Wahlverfahren. Doch das ist legitim angesichts dieser auch anekdotisch gehaltenen Schilderung der Machtspielchen im Milieu von lokalen und regionalen politischen Landschaften. Bisweilen müht sich der Autor um politische Poetik, die eher wie eine ärgerliche Ablenkung vom eigentlichen Sujet wirkt. Das ändert jedoch nichts an der Erkenntnis, dass es dem Autor gelungen ist, einen tiefen und detaillierten Einblick in die real existierenden Abgründe der Machtkämpfe in der Demokratie zu geben. Und es lässt auch ahnen, woher Politikverdrossenheit und abnehmende Wahlbeteiligung kommen. Die Westentaschenmacchiavellisten sind überall. Nicht nur auf und unter hessischen Dächern.

    Rainer Burchardt war das über Volker Zastrow: "Die Vier. Eine Intrige". Erschienen bei Rowohlt, 416 Seiten für 19 Euro 90.