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Der gereifte Demonstrant - Regieren und Partizipieren in einer alternden Gesellschaft

"Die Bilder der Anti-Atom-Demonstrationen wurden weitgehend von jüngeren Teilnehmern beherrscht, die sich an Schienengleisen festketteten oder den Wasserwerfern der Polizei entgegenstemmten. In Stuttgart dagegen war die große Anzahl älterer Demonstrationsteilnehmer auffällig. Es sind gut ausgebildete ältere Bürger, die Kompetenz und Zeit mitbringen."

Ein Essay von Herfried Münkler | 31.12.2010
    Die neuen Protestbewegungen
    Der Bürger läuft der Politik aus dem Ruder. Immer häufiger verweigern sich große Gruppen der Bevölkerung dem, was man früher einmal beschlossen hat. Oder sie rebellieren gegen Projekte, mit denen die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft gesichert werden soll, wie es in der Sprache der Politik heißt. Von der bayerischen Raucherinitiative über die Hamburger Schulpolitik bis zum Großprojekt "Stuttgart 21" - die Bürger machen, was sie wollen und verhalten sich nicht so, wie dies von einer vorsorglichen Politik vorgesehen ist. Mehr noch: Wachsende Gruppierungen in der Gesellschaft bezweifeln, dass das, was die Politik als eine nachhaltig auf die Zukunft ausgerichtete Vorsorge ausgibt, auch tatsächlich eine ist. Die jüngst wieder aufgeflammten Auseinandersetzungen um die Nutzung der Atomenergie bzw. die Entsorgung der Abfälle, die aus dieser Nutzung entstanden sind, erinnern an die Anfänge der Vertrauenskrise zwischen Politik und Gesellschaft: Es waren die späten 1970er-Jahre, als sich mit der Ökologie- und Friedensbewegung eine politische Kraft formierte, die in zentralen Fragen alternative Zukunftsperspektiven zur etablierten Politik entfaltete.

    Aber hat der routinierte Politikbetrieb diese Alternativbewegung nicht längst integriert und die sichtbarsten Köpfe des Widerstands in wohlsituierte Repräsentanten der politischen Klasse verwandelt? Die Grünen sind zunächst in die Landtage und dann in den Bundestag gekommen, und schließlich haben sie sogar Regierungsfähigkeit bewiesen; längst haben sie dem politischen Personal der Republik gestandene Führungspersönlichkeiten hinzugefügt, und inzwischen sind "Die Grünen" zu einer Volkspartei geworden, die bei Koalitionsbildungen nicht länger auf die Rolle des Juniorpartners festgelegt ist. Das politische System der Bundesrepublik, so die Schlussfolgerung aus drei Jahrzehnten Organisationsgeschichte der "Grünen", kann Widerspruch und Widerstand integrieren. Von daher könnte man die jüngsten Proteste und Verweigerungen als eine neuerliche Widerspruchswelle begreifen, wie sie in zyklischen Abständen immer wieder zu beobachten ist: Sie brandet zunächst heftig an, bricht sich dann aber in den Kapillaren des politischen Systems. Die Widerspruchswelle wird gleichsam aufgezehrt. Gleichzeitig führt sie der Politik aber neue Talente zu, die interessanter und lebhafter sind als der auf Stromlinie getrimmte Nachwuchs, den die politischen Parteien selbst hervorbringen. Die kleinen Technokraten der Macht, die spätestens seit der Pubertät an ihrer Vernetzung arbeiten und mit zwanzig schon Meister der Intrige und des nichtssagenden Statements sind, werden so mit einem Typus des Engagierten konfrontiert, der vielleicht noch kein Augenmaß, aber in jedem Fall Leidenschaft hat. So rekreiert sich die Demokratie. Alles gut also?

    So klar und einfach ist es dann aber doch nicht, denn das zyklische Auftreten von Protestbewegungen wird von Entwicklungen begleitet, die kaum als demokratische Revitalisierung begriffen werden können: Da ist zunächst eine kontinuierlich sinkende Wahlbeteiligung, die längst als Politikverdrossenheit diagnostiziert worden ist; da ist weiterhin ein offenbar unaufhaltsamer Erosionsprozess der klassischen Volksparteien, der sich neben sinkendem Wählerzuspruch in einem dramatischen Schwund der Parteimitglieder zeigt. Schon ist fraglich, ob die etablierten Parteien in Zukunft überhaupt noch genügend Kandidaten für die in den Städten und Gemeinden zu vergebenen Parlamentssitze finden. Die Krise der Demokratie, von der verschiedentlich die Rede ist, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Krise des Parteienstaats. Die Bürger des Landes engagieren sich freilich weiterhin, aber sie tun das immer weniger in den herkömmlichen Organisationen, wie Verbänden, Kirchen und Parteien, sondern bevorzugen Projekte, die in der Regel monothematisch angelegt sind und einen klaren Zeitrahmen mit präzisen Erfolgsaussichten aufweisen: für eine Kita hier und eine Uferpromenade dort, gegen eine Stadtautobahn, eine Landebahn, eine Einflugschneise, eine Schnellbahntrasse, eine Müllkippe und derlei mehr. Die Bürger orientieren ihr Engagement stärker an ihren unmittelbaren Eigeninteressen, als das früher der Fall war. Sie achten darauf, dass sich ihr Engagement für sie selber lohnt.

    Natürlich kann man niemandem vorwerfen, dass er sich für seine Interessen engagiert. Es ist ja mithin das Lebenselixier einer lebendigen Demokratie, dass die Bürger ihre Interessen selbst zur Sprache bringen und ihnen Geltung verschaffen und nicht auf die gütige Vorsorglichkeit eines Landesvaters oder einer Landesmutter angewiesen sind. Man kann es kaum als eine Krise der Demokratie bezeichnen, wenn mit deren Grundprinzipien ernst gemacht wird. Was ist also das Problem, wenn jetzt mit Blick auf die Proteste gegen die Verlegung des Stuttgarter Bahnhofs unter die Erde entweder von einer Krise des Regierens in der Demokratie oder von gravierenden Defiziten demokratischer Teilhabe in diesem Land die Rede ist?

    Risiken und Nebenwirkungen langer Planungszeiten
    "Stuttgart 21" ist ein Symbol für die Krise der demokratischen Ordnung - sie besteht in einer sich immer weiter öffnenden Schere zwischen den überaus langen Planungszeiten für Infrastruktur- und Hochtechnologieprojekte und den sich kurzfristig artikulierenden Stimmungslagen in der Bevölkerung. Sie fühlt sich nicht mehr an Beschlüsse und Entscheidungen gebunden, die mehr als ein Jahrzehnt zurückliegen und damals relativ widerspruchslos über die politische Bühne gegangen sind. So mancher Demonstrant ist noch in den Kindergarten gegangen, als über das fragliche Projekt beschlossen wurde, das erst jetzt mit Baggern und Kränen in Angriff genommen wird. Wie soll er sich durch eine so weit zurückliegende Beschlusslage demokratisch gebunden fühlen?

    Großtechnologie und moderne Infrastruktur aber brauchen vom ersten Entwurf bis zur Fertigstellung nun einmal eine lange Zeit, und währenddessen ist Planungssicherheit erforderlich. Demokratische Einflussnahme und langfristige Planung lassen sich offenbar nicht mehr zur Deckung bringen. In Stuttgart geht es nicht um ein bestimmtes Projekt, sondern um die strukturellen Voraussetzungen langfristig angelegter Projekte überhaupt. Das verleiht dem Konflikt seine Brisanz und macht das Schlichtungsprojekt auch für die Zukunft so wichtig.

    Schon ist davon die Rede, dass die Erfordernisse einer hochmodernen Technologie und die Entscheidungsverfahren der Demokratie - zumal dann, wenn diese zunehmend mit direktdemokratischen Verfahren durchsetzt sind - nicht mehr zusammenpassten und man sich entscheiden müsse, was man wolle: mehr wirtschaftlichen Wohlstand oder mehr politische Partizipation. Umfragen in der deutschen Wirtschaftselite zeigen, dass dort das chinesische Modell an Attraktivität gewonnen hat: Ist in China eine Entscheidung erst einmal getroffen und auch die Finanzierung sichergestellt, schreiten Planung und Ausführung zügig voran; weder Einsprüche noch Demonstrationen können das Projekt dann noch aufhalten. Der Bau der Strecke für den Transrapid, der in Deutschland über die Erprobungsphase nicht hinausgekommen ist, ist dafür ein Beispiel. Die Wachstumssprünge der chinesischen Wirtschaft, so die dahinterstehende Überzeugung, sind auf ein Zusammenspiel von Planungssicherheit und Beschleunigungsfähigkeit zurückzuführen, wie es in Deutschland inzwischen unvorstellbar ist. In der Konkurrenz mit China werde Deutschland, so die bei vielen jüngeren Managern vorherrschende Sichtweise, immer weiter zurückfallen. Ermüdet und erschöpft sei das Land in den Spätherbst seiner wirtschaftlichen Entwicklung eingetreten. Wenn man eine konkurrenzfähige Infrastruktur vom Artenschutz bestimmter Käfer im Stuttgarter Schlosspark abhängig mache, liege die Zukunft nicht mehr vor, sondern hinter einem.

    So sind Verfassungsordnung und politische Verfasstheit der Bundesrepublik von zwei Seiten gleichzeitig unter Beschuss gekommen: Für die Gegner des Stuttgarter Bahnhofsprojekts sind die Chancen politischer Partizipation und demokratischer Einflussnahme zu gering. Demgemäß fordern sie, dass zukünftig nicht nur prinzipielle Fragen, wie das Rauchen in öffentlichen Gebäuden und Restaurants oder die Neuordnung des Bildungssystems qua Bürgerentscheid geregelt werden sollen, sondern dass dem Volk auch einzelne Projekte zur Entscheidung vorzulegen seien, wie die Errichtung nuklearer Endlagerstätten und der Bau von Bahntrassen oder Verkehrsachsen. Das wäre tatsächlich ein fundamentaler Demokratisierungsschub, weil damit Aufgaben unter direktdemokratische Kontrolle und Einflussnahme gelangen würden, die klassischerweise nicht vom Parlament, sondern von der Fachverwaltung bearbeitet werden. Für die Entscheidung solcher Fragen, so der klassische Einwand dagegen, fehlten den Bürgern die Sach- und Fachkenntnisse, und deswegen sei man gut beraten, solche Fragen den Spezialisten und der Verwaltung zu überlassen und sie keinem demokratischen Entscheidungsverfahren zu unterwerfen. Vor allem: Wer sollte eigentlich entscheiden? Nur die Stuttgarter? Oder alle Wahlberechtigten in Baden-Württemberg? Alle Süddeutschen? Oder alle potenziellen Nutzer der Bahntrasse?

    Der Seitenwechsel der Älteren
    Die Frage, um die sich der Streit über die Reichweite demokratischer Partizipation letzten Endes dreht, richtet sich jedoch nicht nur an die Zuständigkeit, sondern auch an die Kompetenz der Bürger, die sich in komplexe Probleme einarbeiten und viel Zeit und Geduld aufbringen müssen, um an langwierigen Diskussions- und Entscheidungsprozessen teilzunehmen. Aber wer kann das schon, der ins Berufsleben eingespannt ist? Was hier vonnöten ist, ist ein mit großen Zeitressourcen ausgestatteter Politikpartizipant, der über beachtliche prozedurale, kognitive und habituelle Kompetenzen verfügt, um bei den Verhandlungen als "Gesprächspartner auf Augenhöhe" agieren zu können.

    Das ist der Punkt, an dem die Verbindungslinien zwischen einer alternden Gesellschaft und verstärkten politischen Partizipationsforderungen aus der Bevölkerung in den Blick kommen. Die Bilder der Anti-Atom-Demonstrationen wurden weitgehend von jüngeren Teilnehmern beherrscht, die sich an Schienengleisen festketteten oder den Wasserwerfern der Polizei entgegenstemmten. In Stuttgart dagegen war die große Anzahl älterer Demonstrationsteilnehmer auffällig. Es sind gut ausgebildete ältere Bürger, die Kompetenz und Zeit mitbringen, um der geballten Wucht der Fachleute standzuhalten, die von Landesregierung und Bundesbahn aufgeboten werden, um die Projekte durchzusetzen. Natürlich bringen diese Älteren nicht nur ihre Fähigkeiten, sondern auch ihre Interessen ein: Die Beschleunigungsgewinne, die sich durch eine neue unterirdische Trassenführung mit Durchgangsbahnhof erzielen lassen, spielen für sie keine große Rolle. Sie bringen genug Zeit für Reisen mit. Und die Beeinträchtigungen ihres Wohnumfeldes, mit denen sie während der Realisierung des Projekts rechnen müssen, wiegen für sie schwerer als die damit verbundenen Erleichterungen, in deren Genuss sie aufgrund ihres Lebensalters kaum noch kommen werden. Was ihnen politische Durchschlagskraft verleiht, sind aber nicht so sehr ihre Interessen, sondern deren Verbindung mit Kompetenzen, die sie zu einem ernst zu nehmenden Kontrahenten der Fachverwaltung werden lassen. Für die politische Kultur des Landes aber ist relevant, dass diese kompetenten Alten aus der politischen Angepasstheit in Widerspruch und Widerstand übergewechselt sind.

    Mit einem Wort: Das Regieren ist auch darum so viel schwieriger geworden, weil den Regierenden wichtige Unterstützungskräfte abhandengekommen sind, die en bloc zur Gegenseite überwechselten. Wenn die Politik für ihre Projekte aber nur noch auf von ihr bezahlte Spezialisten zurückgreifen kann und keine nachhaltige Unterstützung aus der Bevölkerung mehr bekommt, hat sie einen schlechten Stand. So stellen sich die Dinge zurzeit in Stuttgart dar.

    Die Rückkehr der Honoratioren
    Was sich als Demokratisierung ausgibt, ist in Wahrheit jedoch eine Oligarchisierung oder - wenn man eine positivere Bezeichnung dafür haben will - eine Aristokratisierung der Politik. Die Volksparteien verlieren an Macht und Einfluss, weil ihnen die Personen abhandenkommen, die ein Garant ihrer Durchsetzungsfähigkeit im demokratischen Prozess waren. Es ist jedoch nicht die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit, die durch den Niedergang der Volksparteien an Einfluss gewinnt, sondern die einstigen Schlagkraftverstärker der Parteien verfolgen nun ihre eigenen Interessen. Heute bestehen die entscheidenden Ressourcen dieser neuen, wenn man so will: demokratischen Oligarchie aus den durch Ausbildung und Beruf erworbenen Kompetenzen in Verbindung mit einem frei verfügbaren großen Zeitbudget. Man könnte auch von einer Rückkehr der Honoratioren in die Politik sprechen, die den professionellen Funktionseliten die alleinige Verfügung über Sachentscheidungen aus der Hand zu nehmen versuchen. War es in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts das Vermögen, das Zeit und Einfluss verschaffte, so sind es zu Beginn des 21. Jahrhunderts die durch Arbeit erworbenen Versorgungsansprüche des Wohlfahrtsstaates, die denselben Effekt haben. Man kann das jedoch auch anders akzentuieren und es so sagen: Die Berufstätigen mittleren Alters müssen mit ihrer Arbeit, die sie von zeitaufwendigem politischen Engagement abhält, die Transfers finanzieren, die die Älteren in die Lage versetzen, in vollem Umfang am demokratischen Prozess teilzunehmen und eine Politik durchzusetzen, die den Interessen der arbeitenden Transferzahler entgegensteht. Wer beruflich viel reisen muss oder Berufspendler ist, hat nun einmal ein anderes Interesse an Projekten der Verkehrsinfrastruktur als diejenigen, die diese nur sporadisch nutzen. Letztere verweisen darauf, Milliardeninvestitionen seien vonnöten, um auf der einfachen Wegstrecke 15 Minuten einzusparen. Für den Berufspendler sind das pro Woche jedoch schon zweieinhalb Stunden, und bei fünfundvierzig Arbeitswochen im Jahr sind es einhundertzwölf Stunden. Das verändert die Präferenzen. Das zuletzt viel beschworene Generationenproblem bricht auch hier auf. Dabei geht es nicht um Transfers, sondern um Zeit.

    Das Regieren ist in einer alternden Gesellschaft vor allem dort schwieriger geworden, wo es an den Interessen der Beschäftigten orientiert ist - und nicht an den Wünschen derer, die noch nicht oder nicht mehr im Arbeitsleben stehen und deshalb ihre Wertorientierungen und Interessen aufwendig pflegen können. Dass sie dies tun, ist nicht illegitim. Aber es ist inzwischen zu einem politischen Problem mit weitreichenden Konsequenzen geworden.