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Der Geschmack der Städte

Städte haben eine bestimmte Esskultur, die auch Grenzen überschreiten kann. Warum aber prägt ein bestimmtes Gericht eine Stadt und warum kann das Essen für eine Metropole identitätsstiftend sein. Diese Fragen wurden auf einer wissenschaftlichen Konferenz an der Technischen Universität Darmstadt diskutiert.

Von Peter Leusch | 12.05.2011
    "Wenn Sie nach Bremerhaven fahren, eine Stadt an der Mündung der Weser, dann finden Sie in dieser Stadt außerordentlich viele kleine Fischrestaurants - nein, man möchte sagen Fischbuden, hier ist in einer Art permanentem Provisorium ein Grundnahrungsmittel verfügbar, wenn Sie das Gleiche versuchen in Rostock zu finden, dann finden Sie allenfalls Nordsee - als große Handelskette. Eine Stadt an der Ostsee auch dort gibt es Fisch, aber Fisch spielt im Imaginären dieser Stadt keine besondere Rolle, obwohl die Hanse wie man weiß ihr größtes Geschäft mit Hering gemacht hat."

    Helmuth Berking, Soziologe an der Darmstädter Graduiertenschule Urbangrad, schildert, wie der Fischverzehr die Stadt Bremerhaven bis heute dominiert. Natürlich ist Fisch an den Küsten nichts Außergewöhnliches, in Städten wurde immer schon gekocht und aufgetischt, was die Natur der Region dem Menschen bietet. Aber dieser Umstand erklärt nicht alles, wie der Vergleich mit Rostock zeigt. Die Bremerhavener Fischköpp halten an ihrer Esstradition fest, obwohl die Lieblingsnahrung seit der Ausdehnung der Fangzonen in den 70er- und 80er-Jahren gar nicht mehr von heimischen Kuttern gefischt, sondern aus Island importiert wird.

    Wie kommt es, dass bestimmte Nahrungsmittel und Esskulturen eine Stadt bis heute prägen?

    Der Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Götze lebt und lehrt seit fast 30 Jahren in der Provence. In Frankreich, erklärt er, seien kulinarische Fragen noch wichtiger als in Deutschland.

    "Es gibt einen Asterix-Band, der heißt Tour de France. Und das ist eine Tour de France über Stationen, wo die beiden jeweils verfolgt von den Römern eine Spezialität mitbringen. Das ist projiziert in die gallische Zeit - und die gehen zunächst aus der Bretagne nach Paris, und von Paris nach Reims - und in Reims ist es der Champagner, und dann nach Lyon, in Lyon ist es die Wurst und die Hechtklößchen, und dann nach Nizza, da ist es die salade nicoise, und nach Marseille, da ist es die Bouillabaisse, nach Toulouse, das sind es die Würste und nach Bordeaux, da sind es die Austern und der Wein, - es gibt Hunderte von Zuordnungen dieser Art und die werden auch von den Franzosen im Allgemeinen gewusst."

    Französische Städte seien zwar stolz auf ihre Spezialitäten, dennoch ist Karl Heinz Götze skeptisch, ob darin die jeweilige Eigenart, der besondere Charakter der Stadt zum Ausdruck komme.

    "Größtenteils sind die Spezialitäten, die man sich als ewig und natürlich denkt, doch recht spät entstanden, und die entsprechen nicht mehr den heutigen Essgewohnheiten."

    Dienen die kulinarischen Spezialitäten nur noch als touristische Attraktionen? Die Stadtforscher gehen in ihrem neuen Forschungskonzept einen Schritt weiter. Es geht darum, hinter den Spezialitäten und typischen Speisen sozialgeschichtliche Zusammenhänge aufzudecken und näher zu befragen.

    Peter Noller, Soziologe an der Technischen Universität Darmstadt, versucht dies exemplarisch für die Stadt Frankfurt und ihre drei legendären Spezialitäten: Apfelwein, Handkäse mit Musik und die so genannte Grüne Soße.

    "Der Handkäs und auch der Apfelwein sind eigentlich erst vor 100 Jahren mit der Industrialisierung nach Frankfurt gekommen und mit einer Veränderung des Selbstbildes der Stadt. Frankfurt ist von außen damals um das Fünffache gewachsen mit den Menschen, die vom Land in die Stadt gingen, und die brachten ihren Geschmack in die Stadt mit, nämlich Apfelwein, den sie zu Hause gemacht haben, der zu Hause auch hergerichtet und getrunken wurde. Vorher war das nicht Apfelwein, sondern der Wein, der in der Gegend um Frankfurt entlang des Mains angebaut wurde. Es gab da einen Bruch des traditionellen Getränks und auch der Art zu essen, nun nämlich ein proletarisch-bäuerlicher, derber, säuerlicher Geschmack, mit dem man diese Stadt identifiziert."

    Noller bleibt nicht bei der historischen Herkunft des Apfelweins stehen. Der Äppelwoi und die derben Frankfurter Gerichte übernehmen heute eine wichtige Funktion in der Stadt:

    "Die Stadt wird oft als sehr harte Stadt betrachtet, die ein Kältepol ist, und was spüren wir, wenn wir Apfelwein trinken und diese Gerichte essen. Das sind auch sehr deftige starke Gerichte, aber sie ermöglichen uns einen Blick einzunehmen, der ein anderer ist, als der Blick, den man auf die Bankenstadt mit den Hochhäusern, auf die Skyline einnimmt. Die Skyline ist eher das Globale, während dieser Geschmack uns zurückführt auf das Lokale, auf das Besondere dieser Stadt. Und es ermöglicht auch die Stadt als Ganzes zu betrachten."

    Der Apfelwein, und die derben Äppelwoi-Kneipen mit ihrem zwanglosen Beieinander, so Peter Nollers These, sorgen gleichsam für Ausgleich, für fränkische Bodenständigkeit im deutschen Manhattan, für lokalen Halt im globalen Wirbel der Geld-, Güter- und Menschenströme.

    Das Thema der Tagung Essen und Stadt hat noch eine andere Brisanz, wenn man über Europas Tellerrand hinausschaut. In den wachsenden Megastädten der Dritten Welt, vor allem ihren noch rascher anschwellenden Slums gibt es nicht genug zu essen in der Stadt.

    In Kireba, einem Slum-Viertel der kenianischen Hauptstadt Nairobi, in dem über eine Million Menschen in bitterster Armut leben - ohne Geld, ohne Arbeit und ohne ausreichende Nahrungsmittel. Dort, so berichtet der Philosoph Harald Lemke von der Universität Lüneburg, gebe es ein neues Konzept: mitten im städtischen Slum werden Mini-Gärten in aufgestellten Plastiksäcken angelegt.

    "In dem Beispiel jetzt mit den Sackgärten, das ist initiiert von einer französischen NGO, einer Nichtregierungsorganisation, und die entwickelt mit den Anwohnern der Slums dieses Konzept, dass mit wenig Mitteln, nämlich einem Plastiksack und etwas Saatgut , dort an allen möglichen Stellen, vor der Tür , in der Gasse, auf jeder kleinen Fläche, diese Säcke aufgestellt werden, und dort die Anwohner frisches Gemüse selber produzieren können, natürlich wird es nicht komplett die Selbstversorgung decken, aber damit verbindet sich auch die Hoffnung, dass man etwas an seiner Lebensumständen verändern kann, etwas besser machen kann."

    In den Slums der Dritten Welt geht es ums Überleben, um einfache Subsistenzwirtschaft. Städtische Nutzgärten machen neuerdings aber auch in westlichen Ländern unter dem Begriff urban gardening von sich reden. Harald Lemke berichtet über ein Modell in Hamburg Wilhelmsburg. Hierzulande muss zwar niemand hungern, aber Arbeitslosigkeit, schrumpfender Sozialstaat und minderwertige Lebensmittel rücken eigene Nutzgärten in ein neues Licht. Zwar gibt es in deutschen Städten bereits hunderttausend Klein- oder Schrebergärten, oft allerdings nur für Zierpflanzen und ökologisch wenig vorbildlich. Harald Lemke sieht im urban gardening ein Zukunftsmodell für unser Essen ebenso wie für das Leben in der Stadt.

    "Immer mehr Menschen leben in der Stadt - was bedeutet das? Wer gestaltet Stadt? Wie können wir eine nachhaltige Stadtentwicklung von unten entwickeln, wie können wir unsere Lebensverhältnisse, speziell unsere Ernährungsgewohnheiten verändern? Gibt es eigene tägliche selbst bestimmte kreative Arbeit, die wir auch noch mit anderen machen können, die ein Stück weit auch Lust bedeutet im eigenen Leben, es geht um auch einfachen Hedonismus beim urban gardening."