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Der gestrandete Wal. Das maßlose Leben des Hans Henny Jahnn.

Das Schiff fuhr mit dunklen bauchigen Segeln über den Abgründen, die mit Wasser ausgefüllt sind. Die Luft war ungewöhnlich lange nur voll leichter Wirbel gewesen. Der neue Tag, wie um den Triumph des weißen Lichtes zu überhöhen, war klar und kalt, ganz ausgeleuchtet mit dem Schimmer der silbrigen Helligkeit. Die Gegenstände an Deck erschienen allesamt hart, unförmig, gar nicht der geringen Bewegung von Wasser und Wind angemessen. Noch vor Abend strichen warme Schwaden um das Schiff. Unbegreiflich schnell mischte sich die fahle Kälte mit dem lauen Dunst. Nebelmauern rückten heran. Wolken, kaum wahrgenommen, fielen schon aus der Höhe herab und umdampften das Schiff. Masten und Segel wuchsen riesenhaft. Vor kurzem noch war der Horizont das Maß aller Dinge gewesen. Jetzt war das Sichtbare verengt. Das Gebilde aus Menschenhand schwebte im Nebelmeer, war von der Erde abgestürzt.

Michael Rutschky | 13.04.2003
    Ja, nicht wahr, das ist eine Prosa, die den Leser sogleich engagiert. Wiewohl zunächst von einem Sturm die Rede ist, der über dieser Meerfahrt aufzieht, taucht der Leser zugleich in ein heftiges Gemisch aus Begeisterung und Verzweiflung ein, in dem die Kräfte des Wetters und der See ebenso zwingend wie undeutlich in Seelenzustände und Moralprobleme übergehen. Der aufziehende Sturm erzählt dem Leser grandios von dem Schiff und seiner Besatzung und ihren Verhältnissen; technisch gesehen kommt das wohl daher, dass die Szene aus dem Seefahrerroman – wie wir ihn etwa von Joseph Conrad kennen – in die Schöpfungsgeschichte transferiert ist. Irgendwie mischt sich Gott selbst, der bislang über den Wassern schwebte, dramatisch ein und hebt die Trennung von oben und unten, Himmel und Erde wieder auf.

    Das Zitat stammt aus dem Roman Das Holzschiff , den sein Verfasser, Hans Henny Jahnn, 1936 abschloss, mit 41 Jahren. Das Holzschiff geht unter, und zwar aufgrund einer Rettungsaktion: Der junge Mann Gustav, der seine Verlobte Ellena auf der Meerfahrt begleitet, lässt in dem Schiff eine Wand einreißen, hinter der er Ellena, die plötzlich verschwand, gefangen glaubt. Es war aber die äußere Schiffswand, und wegen des Lecks säuft das Schiff ab.

    Hans Henny Jahnns Roman Das Holzschiff kam erst 1949 heraus; im selben Jahr und im nächsten erscheint der zweite Teil des Romans – der eine Trilogie mit dem Titel Fluß ohne Ufer ist – als "Die Niederschrift des Gustav Anias Horn, nachdem er neunundvierzig Jahre alt geworden war". Gustav Anias Horn, das war jener junge Mann Gustav – damals ohne Vatersnamen - , der auf dem Holzschiff seine Verlobte Ellena verlor. Er hat, inzwischen ein bedeutender Komponist – den die Kenner mit Thomas Manns Adrian Leverkühn aus dem "Doktor Faustus" vergleichen – Gustav Anias Horn hat den Teil seines Lebens, welcher auf den Untergang des schönen, perfekten Holzschiffs folgte, mit Alfred Tutein verbracht, den die Kenner auf einem Gemälde Anselm Kiefers wiederfinden. Alfred Tutein aber, der Liebste Gustav Anias Horns und ehemalige Leichtmatrose auf dem Holzschiff, ist der Mörder Ellenas; auf heftige und unergründliche Weise stiftet der Frauenmord die Männerliebe, und die Nacherzählung führt direkt in den Schlamassel hinein, der die literarischen Konstruktionen Jahnns kennzeichnet.

    Plot, Story, die Personen, die Handlungsführung: das ist es nicht, was den Roman Das Holzschiff , was Jahnns Literatur insgesamt eindrucksvoll macht. Vielmehr beschäftigt – oder quält – den Schriftsteller ein Klumpen oder Knäuel von Ideen, die von Mensch und Tier, Sexualität und Tod, Gut und Böse handeln und letztlich religiöser Natur sind. Diese Ideen – man kann auch sagen: Obsessionen – sorgen dafür, dass in Jahnns Literatur Seelenzustände unvermittelt in Gebirgsformationen und Liebeskonflikte in Seestürme übergehen. Literarisch gesehen werden diese kosmologischen Ideen also durchaus fruchtbar.

    Hans Heny Jahnn, 1894 in der Nähe von Hamburg geboren, rechnet zu einem Typus , der bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts weit verbreitet und deshalb vertraut war, der Typus des "Gottsuchers". Über Jahnns Drama "Pastor Ephraim Magnus", das Jahnn 1920 den renommierten Kleistpreis eintrug, eine Orgie aus Foltern und geistlichen Exerzitien, schrieb Klaus Mann 1926 mit Befremden, aber auch Bewunderung:

    Wie unbarmherzig hier die Menschen miteinander sind, wie äußerst hoch die Anforderungen, die sie an sich und andere stellen, damit verglichen geht es bei Strindberg mild und freundschaftlich zu – aber das Ziel, um dessentwillen sie sich martern, ist Gott, die Sucht, ihn zu erreichen, aufzugehen in ihm ist die Rute, die sie vorwärts peitscht. "Der Weg zu Gott geht durch die Qual", ist ihre erste Erkenntnis. Aber das wäre noch zu gelinde, sie müssen weiter erkennen: Gott selbst ist die Qual. Das Martyrium des Lebens will nicht erlitten sein, damit zum Schlusse das Indieglückseligkeiteingeendürfen erworben ist, das Martyrium des Lebens wird zur Vorbereitung für das tiefste Martyrium, das ist: das Dasein in Gott.

    Nein, mit soetwas könnte uns in der Gegenwart weder Judith Hermann noch Maxim Biller, nicht einmal Christof Schlingensief kommen. Und 1926 war es für Hans Henny Jahnn eigentlich auch schon vorbei mit den strikt religiösen Aktivitäten: Da löste er sich von jener Sekte, die er 1918 mit Freunden gegründet und der sie den Phantasienamen "Ugrino" gegeben hatten – der Kenner denkt vielleicht an "Angria und Gondal", das Fantasy-Reich, das sich die Geschwister Bronte in ihrer Kindheit ausmalten, vom Genre her ein gemeinsamer Tagtraum, den dann die Romane, die sie schrieben – am berühmtesten "Sturmhöhe" sowie "Jane Eyre" – restlos absorbierten.

    Dass es sich bei "Ugrino" um einen detailliert ausgearbeiteten Tagtraum handelt, zeigt sich schon daran, wie unklar die frohen Botschaften bleiben, die Hans Henny Jahnn als religiöser Führer einer endlich erwachenden Menschheit verkünden will. Irgendwie geht es um riesige Kirchenbauten, um Konzerte (vor allem Barockmusik), um kultische Theateraufführungen (a la Bayreuth) und um Gräberkult. Die – hierarchisch geordneten – Mitglieder der Glaubensgemeinde Ugrino besaßen das Recht, auf technisch und zeremoniell genau beschriebene Weise eingesargt zu werden; gemeinsam ein Grab zu teilen, darin kulminiert auch Jahnns Liebeslehre. Die geheimnisvolle Fracht des schönen todgeweihten Holzschiffs besteht womöglich aus gefüllten Särgen, und Gustav Anias Horn lässt sich gemeinsam mit seiner Stute Ilok bestatten. Die Stute ist eine weitere von Jahnns Obsessionen; Peter Rühmkorf berichtet von einem Verehrerbesuch bei Jahnn in den Fünfzigern, bei dem ihm als Drink Stutenurin gereicht wurde. Am Ende ruht Hans Henny Jahnn, schon 1959 an einem Herzinfarkt verstorben, gemeinsam mit seiner Frau Ellinor und seinem Geliebten Gottlieb Harms nach Ugrino-Vorschriften zu Hamburg-Nienstedten in einer Gruft.

    Gemeinsame Tagträume: Ugrino verdankt sich vor allem Jahnns Freundschaft, seiner Liebesgeschichte mit Gottlieb Harms, den er schon als Realschüler kennenlernt. Für den 20. Juli 1913 findet sich Jahnns Tagebuch eine anrührende Eintragung, die den fleischlichen Beginn der Liebesgeschichte festhält und zugleich in Religion rahmt. Die beiden sehr jungen Männer befinden sich sommers auf der Nordseeinsel Amrum.

    Wir haben die wunderherrlichste Hochzeit, die es überhaupt nur geben kann, gefeiert: mein herzallerliebster Friedel und ich.

    Nun gehören wir für immer und ewig zusammen – und wir lieben uns so über alles!

    War das eine wunderherrliche Hochzeitsnacht! Wir beide lagen in einem Bett und küssten uns und freuten uns so maßlos und wussten: jetzt sind wir eins! So maßlos ist das Glück, dass ich nicht Worte weiß dafür... Und das gab uns Gott... – Das gab er, sobald ich demütig und klein vor ihm wurde. Was alles wird er noch geben!

    Ich ahn es nicht, ich weiß es nicht!

    Nur eins weiß ich, dass er mich sehr liebt, dass er mir Friedel gegeben hat, dass ich nicht zusammenbreche!

    Das homosexuelle Glück fällt nicht aus der Schöpfungsordnung heraus, im Gegenteil, es macht Gottes Willen auf besondere Weise offenbar – ein 1913 gewiss exorbitanter Gedanke. – Wer sich für das Genre der gemeinsamen Tagträume interessiert: Gottlieb Harms, der schon 1931 starb, erging es so ähnlich wie Branwell, dem Bruder der Bronte-Schwestern, er fand aus dem Phantasiegespinst nie so richtig heraus. Er starb als Leiter des Musikverlages, zu dem die Ugrino-Glaubensgemeinde geschrumpft war, und edierte Barockmusiken; was die Experten freilich für Amateurkram hielten. Allerdings entwickelte er sich gemeinsam mit Jahnn zu einem Fachmann für Orgelrestauration und Orgelbau. An Jahnns Experimenten zu einer kosmologisch-alternativen Landwirtschaft, mit denen er während des Dritten Reiches auf der dänischen Insel Bornholm überwinterte (und zu denen die Kur mit dem Stutenurin gehört, der Peter Rühmkorf in den Fünfzigern unterzogen werden sollte), daran war Gottlieb Harms, Hans Henny Jahnns große, Liebe nicht mehr beteiligt. –

    Nun, die wilde Geschichte des Schriftstellers und Gottsuchers, Orgelfachmanns und Hormonforschers Hans Henny Jahnn erzählt in diesem Frühjahr mit einem dicken Buch Jan Bürger, zeitweise Redakteur der Zeitschrift
    Literaturen, unterdessen beim Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Er ist ausgewiesener Jahnn-Philologe, und sein Buch belegt eindrucksvoll, wie Hans Henny Jahnns Werk unterdessen editorisch aufbereitet und von zahlreichen Monographien und Einzeluntersuchungen gleichsam umlegt ist. Längst kein Geheimtipp mehr, keine Privatsache versprengter Leser, zu denen in den Fünfzigern und Sechzigern auch ich als Jüngling gehörte: Fluß ohne Ufer, eben vom Willi Weismann Verlag zur Europäischen Verlagsanstalt übergehend, erhielt ich als Geschenk von meinen Eltern 1963 zum Abitur; Das Holzschiff beeindruckte meinenVater, immer schon Joseph-Conrad-Leser, schwer. Dem Buch fehlen noch die polymorph-perversen Elemente, die ihn gewiss schockiert hätten; jedenfalls kam er als Mitleser über diesen ersten Band der Trilogie nicht hinaus

    Jan Bürgers Nacherzählung von Jahnns Leben und Werk endet 1935. Die Bornholmer Jahre als experimenteller Bauer ebenso wie die Nachkriegszeit, in der Jahnn zu einem großen Zampano in der Hamburger Literaturwelt aufstieg, skizziert Jan Bürger nur – vielleicht ahnte er, welchen unerträglichen Umfang das Buch annehmen würde, wenn er es im vorgegeben Tempo bis 1959 fortschriebe. Auch meint Jan Bürger – vermutlich zu recht – bis 1935 die wesentlichen lebensgeschichtlichen und literarischen Materialien betreffend Jahnn versammelt zu haben. Obwohl man doch gern noch Genaueres darüber erfahren hätte, wie Jahnn, seinen Obsessionen folgend, in den Fünfzigern - vermutlich illegal – Urinproben von Hamburger Gymnasiasten sammelte. Die Hormonforschung sollte mit zahlenmystischen Kalkulationen zusammengehen, die Jahnn auch seinem Orgelbau und seiner Literatur unterlegte.

    Was Jan Bürgers Buch über Jahnn schadet: Germanistik. Die literaturwissenschaftliche Attitüde verhält ihn dazu, gegenüber allen Äußerungen und Aktivitäten Jahnns ungefähr dieselbe Distanz zu wahren. Jahnns anhaltend eindrucksvolle Prosa, die, in Verzweiflung und Begeisterung, jeden biologisch-theologischen Irrwitz einschmilzt, traktiert Jan Bürger mit derselben gleichmütigen Stimme wie die Architekturphantasien der Glaubensgemeinde Ugrino und den Stutenkult. Der, als literarisches Element von Jahnns erstem großen Roman,
    Perrudja, den Leser bis an die Grenze zur Sodomie führt; wogegen der Leser nichts einwendet. In der Gestalt des hormonell wertvollen Urindrinks für den aufstrebenden jungen Literaten Rühmkorf aber ist der Stutenkult nur komisch.

    Die germanistische Attitüde verbietet es Jan Bürger, aus dem krass Absurden und Lächerlichen von Hans Henny Jahnns Interessen und Aktivitäten erzählerischen Effekt zu schlagen. Wie man so etwas macht, ohne seinem seltsamen Helden Respekt und Sympathie zu verweigern, zeigte Harry Mulisch exemplarisch in seinem Essaybuch über Sinn und Unsinn bei Wilhelm Reich,
    Das sexuelle Bollwerk, 1973. Was Reich sich von seiner kosmischen Energie namens Orgon erhoffte, liegt Hans Henny Jahnns Phantasien über die Hormone und die Harmonie der Weltordnung wohl nicht so ferne. Wie sich hier insgesamt ein Zeittunnel in das frühe 20. und das 19. Jahrhundert eröffnet, die ja zahllose Gottsucher und Heilsbringer hervorbrachten, von Rudolf Steiner und seiner Anthroposophie bis zu – ja, tut uns leid – Adolf Hitler. Jan Bürgers germanistischer Gleichmut bleibt unirritiert.

    Knapp drei Jahrzehnte existentieller Krisen, die schwierige Lebenssituation Ende der zwanziger Jahre, der Tod des Geliebten Gottlieb Harms, das Scheitern als Landwirt auf Bornholm..., die Rückkehr in die zerbombten deutschen Städte – all das konnte Jahnn nicht dazu bringen, angemessene Ansprüche an seine Umwelt zu stellen. Er bestand auf seinem maßlosen Leben, eine Einstellung, die man wohlwollend als radikale Werkgesinnung, mit etwas Abstand allerdings ebensogut als Größenwahn bezeichnen könnte.

    So Jan Bürgers gleichmütiges Resümee, das Jahnns Obsessionen und Exaltationen sozialpädagogisch als Fehlanpassung abmahnt. Genaueres Nachdenken über die literarischen Implikationen einer solchen Monographie, welche Schreibweise sie erfordert, hätte dem Buch gut getan – kein unbilliger Vorschlag, insofern Jan Bürger im Jahr 2000 auch einen Roman veröffentlichte,
    Verlängerte Reise.

    Während von Wilhelm Reichs Ende im alleinseligmachenden Orgon nichts übrig bleibt als traurige Gedanken an ein einstiges Genie – und Harry Mulisch lehrreich-komisches Buch - , kann man die Ugrino-Religion, die Hormonkur, die Rettung der Menschheit durch Orgelmusik von Hans Henny Jahnns literarischem Werk gut unterscheiden. Dabei mögen die Theaterstücke verloren sein, weil sie noch zu stark auf die kultische Praxis der Traumreligion zugeschnitten waren – ich kenne eine Schauspielerin, die mal bei Jahnns "Medea" mitmachte und schön zu erzählen weiß, welchen Spaß die Akteure an dem orgiastische-absurden Stück hatten. Medea, dunkelhäutig, altert rapide, während Jason, ihr Gatte, jung bleibt. Er unterhält sexuelle Beziehungen zu seinen beiden Söhnen, die darüber in wüste Eifersuchtskämpfe geraten. Wie gesagt, viel Spaß für die Schauspieler. Aber ob ein Publikum das mag?

    Bleibt aber Jahnns Prosa, die zu lesen, zu studieren lohnt. Sein erster großer Roman hieß, wie gesagt, "Perrudja" und kam 1929 heraus. Wiederum darf man auf Plot und Story nur wenig geben: Perrudja, ein hübscher und ängstlicher Jüngling, wächst elternlos, aber reich alimentiert in den norwegischen Bergen auf, wo sich konfliktreiche Liebesgeschichten zu Pferden, Jünglingen und zu Signe ergeben, die Perrudja heiratet, ihn aber kurz vor dem Geschlechtsverkehr verstößt: Er weigert sich ihr zu gestehen, dass er seinen Nebenbuhler bei ihr ermordete, was wieder die enge Verknüpfung von Sex und Mord anzeigt, die auch für Gustav Anias Horn und Alfred Tutein gilt. Im weiteren Verlauf der Begebenheiten zeigt sich, dass Perrudja der reichste Mann der Welt ist; er plant einen Vernichtungskrieg gegen das alte Europa, wegen seiner Technik und Industrie und der kolonialen Ausbeutung, der es die Völker Afrikas unterwirft. Ein zweiter Band des Perrudja-Romans hätte wohl diesen Krieg schildern und nach Afrika ausgreifen sollen, aber dazu kam es nicht.

    Die Story von
    Perrudja hört sich nach Fantasy an – tatsächlich baut er sich eine Art Ugrino-Bunker in den norwegischen Bergen - , die Story klingt nach Star Wars oder dem Herrn der Ringe, womöglich den Indiana-Jones-Filmen von Steven Spielberg. Die Prosa aber, die diese seltsame Story von Krieg und Erlösung erzählen soll, zeichnet sich wieder durch die unwiderstehliche Mischung aus Verzweiflung und Begeisterung, durch bruchlose Übergänge zwischen Theologie und Pferdezucht, Mordwünschen und Gebirgslandschaften aus. Welchen krausen Ideen auch immer Hans Henny Jahnn über Natur und Mensch, Mann und Frau, Gut und Böse anhing, letzten Endes zählt, was er aus dem Pansexualismus für seine Literatur machte. Hier ein geruhsames Festessen der Arbeiter, die Perrudjas Ugrino-Palast in den norwegischen Bergen bauen:

    Der Vormittag verstrich. Wie wenn Honig, der in den Mund genommen, sich mit dem Speichel zu süßem Wasser mischt; das die Schluckbewegung leicht macht. Ein wenig Rotzgeschmack aus dem Magen der Biene. Der eigene Speichel wie Kloake. Ganz animalisch zeitlos. Nicht beschämend. Von acht bis zwölf trank man Kaffee. Zehn Tassen. Kuchen, weißes Brot. Butter. Korinthen, Rosinen, grüne Sukkade schnippten die Finger aus dem Teig. In den Mund. Süß. Kaffee darüber. Brosamen blieben zurück. Übersatt. Sukkade suchte man noch, wühlend wie ein Schwein die Trüffel. Erinnerte an den Schleim, den erkältete Pferde aus den Nüstern prusteten. Sie suchten Sukkade. Die unbedeckten hölzernen Tischplatten wurden in ihren Maserungen zu Bildern. Jemand reichte ein Photographie herum, Nacktheit bis zum Nabel nur. Sie starrten die Brüste an. Sie suchten Sukkade. Einige gingen hinaus, kamen zurück, legten sich schwer auf die Bettstatt. In der Küche der Kantine brutzelten in Hitze Festbraten. Man roch das Fleisch. Der Atem gerann. Der Kaffee war erkaltet. Man wollte geglutetes Fett, Blutsaft, rote Scheiben aus den Muskeln eines Tieres. Den Magen ganz mit Tier anfüllen. Die Seligkeit der Armut.

    Ja, nicht wahr, eine solche Prosamischung aus dem Leckeren und dem Ekelhaften, aus Honig und Pferderotz, aus Kuchen und blutigem Fleisch bleibt ein interessantes Wagnis. Dazu die sexuellen Spannungen zwischen Männern und Frauen, Herr und Knechten. Auch dass man epischen Fluss mit expressionistischen Ein-Wort-Sätzen erzeugen kann, war mir vorher unbekannt.