Donnerstag, 18. April 2024

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Der Ghetto-Swinger - Eine Jazzlegende erzählt

"Schuldig ist mein Onkel, Onkel Arthur, der jetzt in Miami lebt, er war Friseur, der spielte aber nebenbei Schlagzeug und den habe ich immer bewundert", erklärt Coco Schumann. "Ich kann mich erinnern, ich war also ungefähr vier Jahre alt, und es war irgendein Geburtstag von irgendeiner Familie, und Onkel Artur spielte mit seinen Kollegen dort, und ich schlief dann bei meiner Großmutter mütterlicherseits, und als ich dann ganz früh aufwachte, sah ich das Schlagzeug dort stehen, und man hat mir später erzählt, ich wäre so verrückt gewesen und hätte so ein Theater gemacht, bis meine Großmutter, die mir doch sehr oft alles nachgegeben hat als Kind, mich ranließ, und ich hab’ dann also getrommelt, und das war dann wahrscheinlich der Anfang, aber es muß, wissen Sie, wenn man so von der Musik eingenommen ist wie ich, dann muß das irgendwie schon drinliegen, und für mich, es gab immer nur eins: Musiker werden."

Johannes Kaiser | 01.01.1980
    1924 wird Heinz Schumann in Berlin geboren. Da seine Eltern beide berufstätig sind, wächst er mit dem Schlüsselbund in der Hosentasche auf. Das hat auch seine Vorteile, denn nach der Schule kann der Junge ungestört zuhause stundenlang die Schellackplatten seiner Eltern auf dem Grammophon abnudeln, sich an Tanzmusik berauschen, auf dem Stuhl mit Kochlöffeln mittrommeln. Der Rythmus geht ihm ins Blut über, eine Leidenschaft wächst heran, die ihn bis heute nicht losgelassen hat und die ihm mehrmals das Leben gerettet hat. Doch das kann er damals noch nicht ahnen. Erst einmal treibt sich der Halbwüchsige mit seinen Freunden halbe Nächte in den Berliner Musikkneipen herum, lernt die amerikanische Swingmusik kennen und lieben. Es ist 1936, Olympiade in Berlin, und die Nationalsozialisten geben sich liberal. Überall hört man den ein Jahr zuvor offiziell verbotenen "Nigger-Jazz". Auch Juden gegenüber gibt sich das Regime vorübergehend toleranter. Heinz Schumann, dessen Vater als Arier gilt, dessen Mutter jedoch jüdischer Herkunft ist, bekommt denn auch gar nicht richtig mit, welche Gefahren selbst Halbjuden wie ihm drohen.

    Ganz im Gegenteil, als sein Onkel Arthur, der die Zeichen der Zeit besser begreift, Deutschland verläßt, erbt er dessen Schlagzeug. Endlich kann er richtig spielen. Daß man ihn auf seiner Schule als Halbjuden drangsaliert, schließlich zwingt, auf eine jüdische Lehranstalt überzuwechseln, ist verletzend. Doch einer seiner neuen Lehrer, der seine Musikbegeisterung bemerkt, bringt ihm einige erste Akkorde auf der Gitarre bei. Nun ist kein Halten mehr. Der Junge stürzt sich mit Feuereifer auf eine alte Wandergitarre, übt wie ein Besessener. Doch sein erstes Engagement bekommt er als Schlagzeuger. Bald jedoch kann er mit seiner Gitarre auftreten. Sein Stil ist so ungewöhnlich, so typisch amerikanisch swingend, daß der Sechszehnjährige Furore macht in der Berliner Musikszene. Um seine Herkunft kümert sich hier keiner. Die ist den Musikern genauso egal wie das Jazzverbot. Man swingt jede Nacht weiter. Wenn eine Kontrollstreife der Reichsmusikkammer auftaucht, wechselt man mitten im Stück zu einem deutschen Volkslied. Eine begeisterte französische Zuhörerin tauft Heinz Schumann Coco. Unter diesem Spitznamen steigt der junge Gitarrist bis in die Band des Saxophonisten Tullio Mobiglia auf, Berlin heißestes Tanzorchester. Der Judenpogrom 1939, die berüchtigte Reichskristallnacht, die immer schärfer werdenden Strafaktionen gegen Juden, ihr Abtransport in Konzentrationslager, das alles registriert der junge Mann, denkt aber nicht weiter darüber nach. "Na ja, ich hab's verdrängt so ein bißchen. Mein Vater war ja doch Arier, wie man damals sagte, um in diesem Jargon der Nazis zu sprechen und die jüdische Seite meiner Mutter, ja mein Großvater war deutschnational, der war im Ersten Weltkrieg und war verwundet und war so stolz, daß also in seinem Wohnzimmer, ich hab als kleines Kind immer davorgestanden und bewundert, da hing die Pickelhaube, das war ja damals die Ausgehuniform, und man hatte noch einen Säbel, und die hingen gekreuzt an der Wand, und ich hab’ das ja damals als Junge nicht so richtig alles mitbekommen, als der Krieg eine Weile ging und die ganzen Streifen dann kamen und man die Juden abholte, das hab ich ja dann mitgekriegt. Bloß wir waren ja am Anfang durch meinen Vater noch geschützt, nicht. Ich wußte dann, wie gefährlich es war, hab’ den Stern abgemacht und was ich mitbekommen habe, habe ich verdrängt, drüber weggesehen."

    Tagsüber schuftet Heinz vom Arbeitsamt dienstverpflichtet als Klempner auf Baustellen, nachts spielt Coco in den teuersten Clubs, verdient für damalige Verhältnisse ein Vermögen, kann damit auch seinen Eltern unter die Arme greifen, denn seine jüdische Mutter erhält keine Lebensmittelkarten. Niemand scheint sich für den Gitarristen zu interessieren, bis ihn Anfang ‘43 die Kriminalpolizei einbestellt. Irgend jemand hat ihn verpfiffen. Coco soll nach Auschwitz. In letzter Sekunde gelingt es seinem Vater, einem hochdekorierten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, den Sohn vor dem Vernichtungslager zu bewahren. Er wird statt dessen nach Theresienstadt in das besetzte Tschechien geschickt, einem Vorzeigelager der Nazis, das die Weltöffentlichkeit über den grausamen Alltag der normalen Konzentrationslager täuschen sollte.

    Auch Coco war bei seiner Ankunft überrascht: "Ja, dann bin ich durch die Straßen und hab’ mir das angeguckt und las auf einmal ‘Kaffeehaus’, konnte meinen Augen nicht trauen, wollte reingehen, da stand jemand und sagte, ‘Haste ‘ne karte’, sag ich ‘Ne, bin gerade angekommen, bin Musiker’, sagt er, ‘Geh mal dahinten über den Hof und da ist der Hintereingang, und da triffst du die Musiker.’ Ja und da standen dann zwei, und ich wußte nicht, wer das war. Das war ein ganz berühmtes Bar-Duo aus Prag, Maier-Sattler und ich hab dann gesagt, daß ich Musiker bin und aus Berlin komme, und dann sagte der Otto Sattler, was spielste denn? Gitarre und holte der eine Gitarre raus, sagte: 'Na spiel doch mal’, und dann weiß ich noch, hab’ ich damals meine Lieblingsnummer Honeysuckle Rose von Fats Waler gespielt, und dann war ich akzeptiert. Daneben stand dann noch einer und hat mir dann ganz andächtig zugehört und sagte: 'Mein Name ist Franta Goldschmidt', war ein Tscheche, und ich spiel’ hier bei den Ghettoswingers. Wir haben hier ein Orchester, ein großes Orchester, die heißen Ghettoswingers, aber wir können im Moment nicht proben, unser Schlagzeuger, der ist im letzten Transport nach Auschwitz gegangen und wir haben keinen Schlagzeuger'. Ich sage: 'Franta, ich kann Schlagzeug spielen', sagt er: 'Was kannste? Na, komm man gleich morgen zur Probe, und dann ging ich am nächsten Tag zur Probe, und dann habe ich da mitgespielt und dann war ich der Schlagzeuger von den Ghettoswingers."

    Eine Aufnahme der Ghettoswingers stammt aus dem für das Reichsspropagandaministerium gedrehten Film 'Theresienstadt - ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet', der beweisen sollte, wie gut es den Juden dort ging. Die tauften das Machwerk voller Sarkasmus um zu 'Der Führer schenkt den Juden eine Stadt’.

    Natürlich zeigte der Film weder die grausamen Folterkammern noch die entsetzliche Enge, hunderte wohnten in schmalen Baracken in dreistöckige Bettlager gezwängt, noch den gräßlichen Hunger. Das Essen reichte weder zum Leben noch zum sterben. Wieder einmal hatte Coco Schumann Glück. Als Musiker bekam er heimlich Sonderrationen zugeschoben, wurde ihm ein winziges Einzelzimmer zugewiesen, blieb er vom üblichen Arbeitseinsatz verschont. Doch wie alle anderen wurden auch die Musiker irgendwann in ein anderes Lager, meistens nach Auschwitz verlegt. Die schlimmste Reise seines Lebens begann, und wieder rettete ihn die Musik: "Wieder einer der vielen Zufälle, die mir im Leben, will nicht sagen, die mir der liebe Gott geschickt hat, aber irgendeiner, also so viele Zufälle im Leben kann's nicht geben, nicht, denn als wir da ankamen und standen und gedacht haben, jetzt ist der letzte Augenblick gekommen, sagte einer hinter mir: 'Sag mal, woher kommst du denn?' hatte eine Armbinde um, Blockältester, hatte sehr gute Häftlingskleidung an, 'Ich bin aus Berlin, Herr Blockältester’. Sagt er, 'Coco, hör auf, ich bin doch der Heinz", aber ich hab’ nicht gewußt, wer der Heinz ist. Heinz war ein Gast im Groschenkeller und in der RoSita Bar und war ein Fan von mir. Er sagte, also die Lagerältesten, das waren Berufsverbrecher und die hatten dort die Lager unter sich, also die mußten für Ordnung sorgen im Lager und diese haben immer den Ehrgeiz gehabt, daß jeder eine Kapelle hatte, und jeder wollte die beste haben, und sagte, wenn ich dem erzähle, daß ihr hier seid, aus Theresienstadt und von den Ghettoswingers, na dann geht's euch gut."

    Gut ist ein sehr relativer Begriff. In Auschwitz hieß das nicht mehr, als das nackte Leben zu retten, indem man den Mördern und Henkern aufspielte, ohne mit der Wimper zu zucken. Als die Russen sich näherten, schickte die SS die übriggebliebenen Gefangenen nach Deutschland. Coco Schumann überlebte nicht nur einen der Todesmärsche der Häftlinge, sondern nach der Befreiung durch die Amerikaner auch noch Flecktyphus, kehrte nach Berlin zurück, fand Vater und Mutter lebend vor, fing wieder an zu spielen: "Dadurch, daß ich auch Musik mache, kann man sich so vieles von der Seele spielen, und Musik hat für mich eine Reinigungskraft irgendwie, und dadurch, daß ich gleich wieder nach dem Krieg angefangen habe zu spielen, hat viel geholfen, daß Schlechte zu vergessen. Ich bin jemand, der nicht über das Schlechte nachdenkt, sondern sich über das Gute freut. Ich kann heute noch nicht fassen, daß ich hier sitze, daß ich das überlebt habe und Millionen andere haben's nicht geschafft, und das macht mich bis heute so glücklich, daß ich es überlebt habe, daß ich es immer noch nicht fassen kann, warum ausgerechnet ich?"

    Allerdings konnte und wollte Coco Schumann nicht mehr die Augen vor dem schließen, was um ihn herum geschah. Ihm entging nicht, daß Nazis Persilscheine ausgestellt bekamen, NS-Verbrechen verharmlost wurden, nationalistisches Gedankengut wieder salonfähig wurde. Der Rechtsruck in der Bundesrepublik ließen ihn und seine Frau nach Australien auswandern. Doch schon bald kehrte der Musiker, vom provinziellen Kulturleben Australiens enttäuscht, nach Deutschland zurück, baute wieder eine eigene Band auf, zog von Engagement zu Engagement. 40 Jahre lang hat Coco Schumann über seine Lagererlebnisse nicht sprechen wollen, die Erinnerung an das Grauen verdrängt, bis er begriff, daß niemand anderes außer ihm selbst den Nachgeborenen erzählen kann, wie es wirklich war. Jetzt hat er mit seinem Buch "Der Ghetto-Swinger" Zeugnis abgelegt vom Leben eines Deutschen in finsteren Zeiten. "Ich bin hier geboren. Ich hab mich mein Leben lang als Deutscher gefühlt. Das kann man nicht einfach ausschalten, und ich mache ja auch Unterschiede zwischen guten Deutschen, wie es also sehr, sehr viel gibt, und miesen Deutschen, wo’s auch sehr viele gibt, aber irgendwie, wenn man einmal ausgewandert ist, dann ist man eigentlich nirgendwo so richtig mehr zu Hause, aber man kann sich nicht aussuchen, was man sein will, sondern man muß das akzeptieren, wo man geboren wird. Irgendwie ist es die Natur, und wenn ich jetzt ins Ausland gehen, da werde ich immer ein Deutscher sein."