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Der Glaspalast

There was only one person in the food stall who knew exactly what that sound was that was rolling in across the plain, along the silver curve of the Irawadi to the Western wall of Mandalay's fort. His name was Rajkumar, and he was an Indian - a boy of eleven, not an authority to be relied upon.

Joachim Scholl |
    Damit fängt alles an: Ein indischer Junge hört den Donner von Kanonen. Es ist das Jahr 1885, Truppen des britischen Empire besetzen Mandalay, die Hauptstadt von Birma. Im Text heißt es:

    In Ma Chongs Suppenküche war nur einer, der zu wissen schien, was für ein Geräusch da über die Ebene heranrollte, die silberne Biegung des Irawadi entlang, bis hin zur westlichen Mauer der Festung von Mandalay. Sein Name war Rajkumar, und er war Inder, ein Junge von elf Jahren - nicht gerade eine Quelle der Zuverlässigkeit. Es war ein fremdartiges, beunruhigendes Geräusch, ein fernes Dröhnen, gefolgt von leisem, stotterndem Grollen. Ab und zu klang es wie das Knacken trockener Zweige, jäh und unvermutet. Und dann, mit einem Mal, ging es in lauten Donner über, der die wackeligen Bänke der Garküche erzittern ließ und den Topf mit der dampfenden Brühe heftig durchrüttelte. In der Imbissstube gab es nur zwei Bänke, und auf beiden drängten sich die Menschen dicht an dicht. Bei den ersten Geräuschen herrschte augenblicklich Schweigen, das sich alsbald in einem Gewirr von Fragen und geflüsterten Vermutungen verlor. Bestürzt sahen die Leute sich um. Was ist das? Was mag das sein? Und dann durchschnitt Rajkumars helle, aufgeregte Stimme das Gewirr von Mutmaßungen. "Englische Kanonen", sagte er in fließendem, wenn auch stark gefärbtem Birmanisch. "Irgendwo flußaufwärts wird geschossen. Sie sind auf dem Weg hierher.

    Rajkumar ist ein Waisenkind. Es hat ihn aus Indien nach Birma verschlagen, auf der Suche nach Arbeit, in Ma Chongs China-Imbiß in Mandalay schrubbt er die Kessel und ahnt nicht, was alles mit den britischen Invasoren auch auf ihn zukommt. Für Birma ist es Ende einer Epoche, der Untergang des unabhängigen Königreiches Birma, das unter der sanften Herrschaft des Königs Thebaw zu wirtschaftlicher Blüte gelangt war. Ein Streit über die Lieferung von Teak-Holz war der banale Anlaß für die mächtigen Kolonialherren Indiens, das kleine Birma zu annektieren, in einem Feldzug von nur wenigen Tagen, denn den modernen Waffen der Briten hat die birmanische Armee nichts entgegenzusetzen. König Thebaw wohnt mit seiner Königin im "Glaspalast", dem legendären Herrschersitz, den der König seit sieben Jahren nicht mehr verlassen und den, abgesehen von Dienstboten, kein normal Sterblicher je betreten hat. Mit der Invasion bricht dieses Tabu: ein wütender Mob stürmt und plündert den Palast, in der Menge läuft auch Rajkumar mit. Zum Stehlen hat er viel zu viel Angst, aber er kommt auch gar nicht dazu, denn plötzlich ist wie vom Donner gerührt. Unter den verstörten Dienerinnen der Herrscherin hat er "seine" Königin erblickt: das Sklavenmädchen Dolly, ein Kind, noch jünger als Rajkumar, aber er weiß: die soll, die muß es sein. Beim entwürdigenden Marsch der Königsfamilie ins Exil sieht er sie noch einmal, und dann wird es mehr als zehn Jahre dauern, bis die beiden wieder aufeinander treffen. Bis dahin hat es der clevere Rajkumar beruflich geschafft, als Teakholz-Händler steigt er in Indien zum Millionär und angesehenen Geschäftsmann auf. Dolly wird Rajkumars Frau, und diese beiden bilden fortan das Zentrum für eine lange, weitgespannte sagen- und sagahafte Familien-Geschichte, die über einen Zeitraum von mehr als einhundert Jahren zugleich die Geschichte Birmas und Indiens umfaßt, und die eigene des Autors mit dazu:

    Alles began als reine Familien-Geschichte. Es fing an mit der Erinnerung an einen Onkel von mir, den ich sehr liebte und der in Birma aufgewachsen war. Mein Vater war ebenfalls in Birma gewesen, als Soldat der britischen Armee im Zweiten Weltkrieg, und seit meiner Kindheit habe ich Geschichten aus Birma gehört. Das reifte allmählich in meinem Kopf zu einer Geschichte heran, es faszinierte, es interessierte mich immer mehr. Diese Geschichten sind in den Roman miteingeflossen, der dann zu groß, zu mächtig wurde für die Geschichte nur einer Familie. Es wurde ein Geflecht aus Familien-Geschichten, aus den verschiedensten Ländern und Ecken Südostasiens, genauso wie aus Indien.

    Amitav Ghosh ist in Indien geboren, 1956 in Kalkutta. Seine Biographie gleicht einer ausgedehnten Weltreise. Aufgewachsen in Bangla Desh, Sri Lanka und im Iran, kam Amitav Ghosh nach Europa, mit einem Stipendium der Universität Oxford. Er studierte Soziologe und Anthropologie, erforschte die Lebensgewohnheiten der Fellachen in Ägypten. Am selben Tag, erzählt Amitav Ghosh, an dem er seine Doktorarbeit abschloß, begann er mit seinem ersten Roman "Der Kreis der Vernunft", der 1986 erschien. Es folgten weitere Reisen durch halb Asien, durch Indien und Kambodia, heute lebt der Autor in den USA. Alle Romane Amitav Ghoshs sind gewissermaßen "Globetrotter". Sie spielen zwar hauptsächlich auf dem indischen Sub-Kontinent, doch die Figuren sind immer unterwegs, brechen auf zu neuen Lebenszielen, in andere Länder und Kulturen, oder sie werden vertrieben, in alle Winde zerstreut durch die historisch-politischen oder sozialen Umbrüche ihrer Zeit. So wie im "Glaspalast" kein einziger Protagonist ein ruhiges Leben hat. Die meisten wollen das auch gar nicht, sondern nach vorne, weiterkommen mit ihren Plänen und Träumen. Für Rajkumar etwa ist Indien zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht ein Land der Unterdrückung, sondern der unbegrenzten Möglichkeiten:

    Auf dem Weg zur Blackburn Lane faßte Saya John in seine Tasche und sagte: "Ich habe etwas für dich, Rajkumar. Er zog einen kleinen, kugelrunden Gegenstand heraus, der in Seidenpapier eingeschlagen war. Vorsichtig reichte er Rajkumar die Kugel. Rajkumar entfernte das Papier und hielt einen schwammartigen Ball in der Hand, der aus weißlich grauen Fäden gemacht war, die wie bei einem Wollknäuel umeinandergewickelt waren. Er hob die Kugel an die Nase und rümpfte die Nase, als er den fremdartigen Geruch bemerkte. "Was ist das?" "Kautschuk", sagte Saya John. "Kautschuk?" Rajkumar hatte den Ausdruck schon einmal irgendwo gehört, doch hatte er keine Vorstellung, was er bedeuten mochte. Saya John erklärte es ihm. Aus Kautschuk wurde Gummi gemacht, und Gummi war das Material des neuen Zeitalters; die nächste Generation von Maschinen würde nicht mehr ohne diesen unentbehrlichen Puffer auskommen. Die neuesten Automobile hatten Dutzende von Kautschukteilen; die Märkte waren praktisch bodenlos, und die Profite übertrafen alle Vorstellungen. "Der Holzhandel gehört der Vergangenheit an, Rajkumar. Du mußt nach vorne schauen, und wenn es einen Baum gibt, von dem man sagen könnte, daß Geld auf ihm wächst, dann ist es dieser Baum - Kautschuk.

    Vom Teakholz-König zum Kautschuk-Magnaten - Rajkumars Weg führt weiter nach oben. Akribisch hat Amitav Ghosh die damaligen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse in Indien und Birma recherchiert. Fünf Jahre lang dauerte diese Arbeit: in Birma und Indien führte Amitav Ghosh Interviews mit Hunderten von Menschen, er lebte einige Monate im Dschungel mit indischen Elefantenführern, zu Beginn von Rajkumars Karriere muß dieser lernen, wie man mit Elefanten umgeht. Mit einer sensationellen realistischen Präzision entwirft Ghosh eine vergangene Welt, die gerade durch die zahllosen exakt rekonstruierten Details anschaulich wird. Man lernt in diesem Roman genausoviel über das Verflößen von Teak-Holz, den Anbau von Kautschuk-Pflanzen wie über das technische Innenleben von Automobilen um 1920. Der Wohlstand der Familien um Rajkumar drückt sich auch im Vergnügen an immer den neuesten Modellen aus.

    Ich war wirklich überrascht, als ich mit meinem Vater, meinen Onkels oder anderen Siebzig- bis Achtzigjährigen über diese Zeit sprach, wie gut sie sich gerade an Auto-Typen oder Flugzeuge erinnerten. Mein Vater sagte: Ah ja, das war das Jahr, als ich dieses Morris-Modell herauskam, oder: diese Familie, die fuhr einen Packard, und das bedeutete etwas. Ich hörte diesen Erinnerungen zu und begann, mir diese Sicht für den Roman immer mehr zu eigen zu machen: an eine Zeit, an einen Ort zu denken anhand der Details, die das Bild bestimmten. Was mir grundsätzlich entgegenkam, denn ich muß beim Schreiben immer die Dinge sehen, eine konkrete Vorstellung haben. Und diese Einzelheiten sind enorm nützlich, da helfen die Kleinigkeiten, da hilft der Packard./

    Am Nachmittag setzten sie mit der Fähre nach Butterworth über, wo sie von Matthews Automobilen erwartet wurden. Es waren zwei Wagen - der eine länger als jeder andere, den Dolly jemals zu Gesicht bekommen hatte, beinahe so lang wie ein Eisenbahnwaggon. Dies sei ein Duesenberg-Modell-J-Tourenwagen, so erklärte Matthew, mit hydraulischem Bremssystem und einem 6,9-Liter-Acht-Zylinder-Motor. Der Wagen besaß kettenbetriebene, oben liegende Nockenwellen und brachte es im zweiten Gang auf neunzig Meilen in der Stunde. Im höchsten Gang brachte er es gar auf einhundertundsechzehn. Matthew war begierig darauf, Rajkumars Söhne den Duesenberg vorzuführen, und so stiegen sie, zusammen mit Timmy und Alison bei ihm ein. Dolly, Uma und Elsa folgten ihnen auf etwas moderatere Weise in dem Wagen, den Matthew Elsa zu ihrem fünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte - einen prachtvollen braun-goldenen Isotta-Franschini Modell 8a Berlin mit kraftverstärkten Bremsen. Die Karosserie stammte von Castagna, und die Polsterung war aus feinstem florentinischen Leder gearbeitet.


    Diese Liebe zur Genauigkeit erinnert ein wenig an die "Buddenbrooks" von Thomas Manns, der ja auch ebenso hartnäckig bei seinen Tanten nachfragte, wie denn genau nun der Plettenpudding zuzubereiten sei. So gemütlich wie in Lübeck geht es in Amitav Ghoshs Roman allerdings kaum zu. Denn alle seine Helden werden nach und nach dem gewaltigen und gewalttätigen Transformationsprozeß unterworfen, den Indien und seine angrenzenden Länder in den letzen einhundert Jahren durchgemacht haben. Die Annexion Birmas 1885 durch die Briten, mit der der Roman einsetzt, bildet den Auftakt. In einem weiten Bogen schreitet Amitav Ghosh die Historie Birmas ab, die im Schicksal der birmanischen Königsfamilie exemplarisch wird: Pracht und Ruhm, eine hochstehende Kultur, dann Niedergang, Auflösung, schließlich die Demütigung des indischen Exils. Im ironischen Kontrast dazu steht der Erfolg des kleinen Tellerwäschers Rajkumar, der unter den neuen Verhältnissen reich wird; die Szene, in der er als gemachter Mann die Königsfamilie aufsucht, um seine Dolly zu freien, ist alles andere als erzählerisch schmachtende Romantik, sondern hochaufgeladen mit sozusagen "politischen" Gefühlen, die Rajkumar allerdings nur vage begreift. Er ist ein argloser Opportunist, politischen Diskussionen geht er aus dem Weg: die Briten sind unsere Herren, aber es geht uns doch gut, und sie bringen Zivilisation und technischen Fortschritt, warum soll man dagegen aufbegehren? Ist nicht gerade das Gegenteil richtig: die Entwicklung zu begrüßen und zu unterstützen? Das ist Rajkumars Philosophie und der bestimmende, gewissermaßen nationale Konflikt, der den Roman auf mehreren Handlungs- und Figuren-Ebenen durchzieht und in den verschiedensten Konstellationen durchgespielt wird.

    Eines der zentralen Themen dieses Buches ist die ‚Komplizenschaft', die Kollaboration von Indern mit dem Imperialismus, ein wirklich faszinierender Aspekt. Wenn man sich die Ausdehnung des britischen Empire in Indien, in ganz Asien ansieht, dann basiert sie zum großen Teil auf dieser Art von freiwilliger Unterwerfung. Die meisten Soldaten der Briten in den Kolonien waren Inder. Es waren indische Truppen, die Aufstände in Indien und den Anrainerstaaten niederkämpften, in Afrika, in Mesopotamien. Der Boxer-Aufstand in China wurde von Indern niedergeschlagen, das findet man kaum in den Geschichtsbüchern. Und heute, nach einhundert Jahren, fragt man sich: Warum haben sie auf diese Weise kollaboriert, als Unterdrückte an der Unterdrückung mitgearbeitet. Was hatten sie für eine Vorstellung von ihrer eigenen Rolle? Es war ja nicht etwa so, daß die Soldaten besonders gut bezahlt wurden, es gab eine strikte Rassentrennung, wenn man so will. Die längste Zeit konnte kein Inder darauf hoffen, Offizier zu werden. Die Offiziere waren ausschließlich Briten, das Fußvolk bildeten die Inder.

    Doch die Briten waren auch nicht dumm. Als die Emanzipationsbewegungen in Indien stärker wurden, spätestens mit Mahatma Gandhi, schalteten die Kolonialherren um. Plötzlich gab es Akademien für indische Offiziers-Anwärter, ein Köder für die indische Oberklasse, der dazu beitragen sollte, das langsam schwankende System zu stabilisieren. Wie die Praxis im Militär dieser Theorie allerdings stark widersprach, beschreibt Amitav Ghosh mit der Figur des jungen indischen Offiziers Arjun. Arjun ist der Neffe von Uma, einer Freundin Dollys, die sich für die Unabhängigkeitsbewegung einsetzt. Ihr Neffe ist ein glühender Bewunderer des Empires, in der Armee will er seinen Traum von sozialem Aufstieg verwirklichen. Wie selbstverständlich nimmt er seine Privilegien in Anspruch, die ihn von den einfachen Soldaten trennen. Diese für ihn natürliche Ordnung der Dinge gerät im Krieg ins Wanken. Die Japaner besetzen Birma, Arjuns Einheit wird aufgerieben, nur knapp kann er sich mit einigen Gefährten retten. Bitter leidet er unter der Niederlage, sein Freund Hardy hingegen hat längst alle Illusionen verloren.

    Denk doch mal nach, Arjun", sagte Hardy. "Was wäre wohl geschehen, wenn wir die Stellung am Asoon gehalten hätten? Glaubst du, uns - den Indern - hätte man Anerkennung gezollt?" "Wieso nicht?" "Denk doch an die Zeitungen in Singapur, die über alle die tapferen Soldaten schrieben, die gekommen waren, um ihre Kolonie zu verteidigen. Erinnerst du dich?" "Natürlich." "Erinnerst du dich, daß alle die tapferen jungen Soldaten immer Australier oder Kanadier oder Engländer waren?" Arjun nickte: "Ja." "Es war, als gäbe es uns gar nicht. Und deswegen spielt es keine Rolle, was am Asoon geschah - jedenfalls nicht für uns. Weißt du, manchmal denke ich an all die Kriege, in denen mein Vater und mein Großvater gekämpft haben - in Frankreich, in Afrika, in Birma. Sagt irgendwer jemals, die Inder haben diesen oder jenen Krieg gewonnen? In den vergangenen Tagen, im Schützengraben von Jitra, da hatte ich ein unheimliches Gefühl. Es war merkwürdig auf einer Seite der Kampflinie zu sitzen und zu wissen, du mußtest kämpfen, und zugleich zu wissen, daß es nicht dein Kampf war. Zu wissen, daß du alles riskierst, um eine Lebensweise zu verteidigen, die dich an den Rand schiebt. Es ist fast, als würdest du gegen dich selbst kämpfen. Es ist eigenartig, im Schützengraben zu sitzen, das Gewehr zu halten und dich zu fragen, auf wen zielt diese Waffe eigentlich? Werde ich dazu verleitet, sie gegen mich selbst zu richten?" "Ich kann nicht sagen, daß ich dasselbe gefühlt habe, Hardy", erwiderte Arjun.

    Noch nicht. Der Keim des Zweifels ist gesät, später wird Arjun desertieren, um sich der indischen Unabhängigkeitsarmee anzuschließen und in einen weiteren Konflikt zu schlittern, denn nach dem Sieg der Alliierten sind diese Wehrdienstverweigerer zunächst verachtenswerte Verräter. Die Ernüchterung Arjuns, den Kollaps seiner Weltanschauung hat Amitav Ghosh zu großen Teilen nach der Erinnerung seines Vaters gestaltet, der als Oberstleutnant in der britischen Armee gedient hatte. Seinem Andenken ist der Roman gewidmet:

    Wenn ich also an meinen Vater denke: warum ist er in die Britische Armee eingetreten? Wie so viele hat er sie als Meritokratie mißverstanden, die Armee für eine Institution gehalten, die ihm als Repräsentant westlicher Zivilisation für seinen Einsatz dankt und diesen mit Renommee und Karriere belohnt. Das war ungeheuer attraktiv für viele Inder, die im Kasten-Wesen aufgewachsen sind: der Westen schien Lebenswege anzubieten, die sich nicht auf Diskriminierung und Ausgrenzung gründeten. Und das ist genau die Ursache für den absoluten Schock, den diese Menschen durchlitten, als sie irgendwann begriffen, wie die verborgene, geheime Unterseite des Empires aussah: nämlich als Rassen-Ideologie. Darüber wurde natürlich nicht gesprochen, aber dieser Diskurs war in allen Überlegungen des Empires enthalten. Und was geht in einem Menschen vor, der dieser offiziellen Version der Kolonialherren "Sei brav und tapfer, dann wirst du belohnt" sein Leben verschrieben hat und nun erkennen muß, daß es eine Lüge gewesen ist? Was dann? Alles, woran man geglaubt hat, löst sich auf und zeigt sich in einem komplett anderen Licht.

    Der indische Offizier Arjun ist als Sendbote gestaltet, er repräsentiert eine komplexe nationale Seelenlage, in der Stolz, Vorurteil, Skepsis und Ratlosigkeit ineinander verschwimmen. Es gibt noch viele weitere Figuren in diesem "Glaspalast", die eine ähnliche Funktion des Abgesandten erfüllen. Aber zu keinem Moment hat man den Eindruck eines Thesen-Romans, der auf eine politische Botschaft hinausläuft. Ghoshs Protagonisten sind pralle, lebensechte Charaktere, sie werden von ihren verwirbelte Gefühlen, Hoffnungen und Sehnsüchten bestimmt, sie sind lustig, nervig, melancholisch introvertiert oder einfach liebenswert, man schließt sie schnell ins Herz, man trauert, wenn sie sterben, und vermißt sie, wenn ihr Schicksal sie aus der Geschichte drängt. Bis ins Jahr 1996 spannt Amitav Ghosh den Bogen seiner Erzählung. Von der einstigen Pracht der Familien ist so gut wie nichts geblieben, mit dem Krieg erlischt Rajkumars Imperium, am Ende haust der Greis in einem kleinen Verschlag unter der Treppe bei seinen Kindern, wo er den Enkeln Geschichten von früher erzählt.

    Mit dem "Glaspalast" hat Amitav Ghosh ein glänzendes, machtvolles Epos geschrieben, das in seiner erzählerischen Kraft, der hohen literarischen Kunstfertigkeit, mit der die zahlreichen Geschichten miteinander verwoben werden, und der Komplexität seiner Thematik oft an die großen Romane Salman Rushdies erinnert. Von dessen schwelgerischem, magischem Barock ist Amitav Ghosh jedoch weit entfernt, er selbst ordnet sich literarisch auch lieber in die strikt realistische Erzähllinie eines V.S.Naipaul ein. Für den Stil im "Glaspalast" war im Verlauf der Recherche auch die Begegnung mit birmanischen Schriftstellern entscheidend. "Simplicity", Einfachheit, unprätentiöse Klarheit sei ihr Markenzeichen, erzählt Amitav Ghosh, und dieses Programm habe er sich auch für seinen Roman verordnet.

    Einen großen Sinn hat der Autor jedoch für die Metapher, die schönste gibt dem Roman seinen Titel. Denn der Glaspalast des birmanischen Herrschers ist im eigentlich Sinn nur ein spezieller Raum innerhalb des Gebäudes, den die einstige Dienerin Dolly nie vergessen hat:

    Ich kann mich noch an den Palast von Mandalay erinnern. Besonders an die Wände," sagte Dolly. "Warum gerade die Wände?", fragte Uma. "Viele von ihnen waren mit Spiegeln besetzt. Es gab einen großen Saal, der Glaspalast genannt wurde. Alles in diesem Saal war aus Kristall und Gold. Wenn man auf dem Boden lag, konnte man sich überall sehen.

    Das ist der Zauber des Glaspalastes, und zugleich auch das Geheimnis von großer Literatur. Man erblickt sich selbst darin.