Archiv


"Der Godard Japans"

Mit seinem sexuell expliziten Film "Im Reich der Sinne" sorgte Nagisa Oshima in den 70er-Jahren für einen handfesten Pornografieskandal. Nun ist der japanische Regisseur im Alter von 80 Jahren gestorben. Zu Unrecht wurde der Skandalfilm zu Oshimas Schicksal, meint Filmkritiker Rüdiger Suchsland.

Rüdiger Suchsland im Gespräch mit Karin Fischer |
    Karin Fischer: Heute, in Zeiten von YouPorn und nächtlicher Dauerberieselung durch 0180-Nummern, kann man sich kaum mehr vorstellen, dass die Darstellung von Sex im Film regelmäßig für Skandale sorgte. Mitte der 70er-Jahre war das aber tatsächlich so, da wurde sehr streng unterschieden zwischen gespieltem und echtem Sex. "Im Reich der Sinne" von Nagisa Oshima war ein Erotikfilm, den alle, als er in die Kinos kam, nur noch auf solche "Stellen" hin betrachteten. Zuvor schon hatte er auf der Berlinale einen Skandal ausgelöst und eine Debatte um Pornografie und Kunst. Jetzt ist der japanische Filmregisseur im Alter von 80 Jahren gestorben. Welche Folgen, welches Ergebnis - die Frage geht an unseren Filmkritiker Rüdiger Suchsland - hat die Debatte denn rückblickend gehabt?

    Rüdiger Suchsland: Na ja, es ist für Oshima erst mal selber natürlich ein Ergebnis gewesen, denn "Im Reich der Sinne" ist gewissermaßen sein Schicksal geworden. Man kann sagen, das hat er nicht verdient, es ist schon ein guter wichtiger Film. Aber über den sind alle anderen Filme ein bisschen in Vergessenheit geraten. Für das europäische Kino, da weiß ich nicht, ob "Im Reich der Sinne" da wirklich so sehr etwas Neues war. Ich glaube, das Neue war wirklich diese Grenzüberschreitung und Vermischung zwischen Kunst und Pornografie, das kennen wir andererseits auch schon von Pasolini. Und juristisch gibt es die Unterscheidung natürlich bis heute, da hat der Film dann gar nichts bewirkt.

    Fischer: "Unkonventionell" ist eine eher untertreibende Charakterisierung von Nagisa Oshima als Regisseur. Sie haben "Grenzüberschreitung" gesagt. Er hat von Anfang an Schwierigkeiten mit seinen Filmen gehabt, beziehungsweise mit der japanischen staatlichen Produktionsgesellschaft dann.

    Suchsland: Ja. Das liegt natürlich auch an der speziellen japanischen Situation Ende der 50er-Jahre, als Oshima begann. Er war ein Linksintellektueller, er war ein Pazifist, er war Gegner der Todesstrafe, die es ja nach wie vor dort gibt, er war ein Rebell und auch in dem Sinne eine Art Sprachrohr seiner Generation – einer Generation, die zu jung war, '32 geboren, um noch im Krieg gekämpft zu haben, aber doch alt genug, um unter diesen speziellen Spannungen der japanischen Gesellschaft zu leiden. Das Erbe des Militarismus, eine faschistische Diktatur auch, die Folgen des Krieges, auch der Atomschläge, Hiroshima nicht zu vergessen, dann die Amerikanisierung Japans durch eine US-Besatzung, die mit der unserigen nicht vergleichbar ist, und die allgemeinen Verwerfungen einer rapiden Modernisierung Japans - davon handeln seine frühen Filme und er hat sich sehr stark orientiert am europäischen Kino, also an Rossellini, am Neorealismus, dann auch an der Nouvelle Vague, an Godard, und er selbst ist ja oft als der Godard des Ostens, der Godard Japans so ein bisschen verbucht worden.

    Fischer: Godard Japans, weil er politisch kontroverse Filme gemacht hat, die Finger in die Wunde legte, formal experimentierte?

    Suchsland: Ja.

    Fischer: Vielleicht doch noch mal: Es geht bei ihm tatsächlich viel um Sex und Gewalt und deren Verhältnis zueinander. Oder bewerten wir das über?

    Suchsland: Ich glaube, das bewerten wir über. Man muss ja sehen, dass es im japanischen Kino immer ein bisschen darum geht, weil einfach das Verhältnis sowohl zur Sexualität ein ganz anderes ist. Oshima hat immer darauf hingewiesen, dass diese Tabus, die er angeblich gebrochen hat, in der traditionellen japanischen Kultur gar nicht existieren, dass die im Grunde erst durch die Modernisierung, im modernen Japan und auch durch den amerikanischen Puritanismus nach Japan gewissermaßen importiert worden sind. Tabubruch ist schon wichtig für ihn und bis zum Schluss hat er auch die Tabus des Japanischen, der japanischen Kultur angegriffen. Sein allerletzter Film handelt von einem schwulen Samurai, das geht natürlich gar nicht. Dann erinnern wir uns an diesen Film mit David Bowie, "Merry Christmas, Mr. Lawrence", der von den Verbrechen in einem japanischen Kriegsgefangenenlager und den Verbrechen an den Kriegsgefangenen erzählt und natürlich auch von der untergründigen Homosexualität, da dann in Verbindung mit Faschismus, mit dem japanischen Faschismus handelt.

    Fischer: Dann möchte ich Sie noch fragen, Rüdiger Suchsland, welche Rolle in seinen Filmen die Tradition spielte, denn seine Inhalte hat er tatsächlich ja traditionell kostümiert? Sie erwähnten den Samurai-Film.

    Suchsland: Genau. Rituale sind sehr wichtig. Das spielt, glaube ich, auch im Reich der Sinne eine ganz wichtige Rolle. Aber ich glaube, die Tradition ist auch für ihn etwas gewesen, was man attackieren muss. Wir müssen an diese Filme denken wie "Nackte Jugend", "Grab der Sonne", "Nacht und Nebel über Japan". Da geht es um die junge Generation, die Rebellen der frühen 60er, das was bei uns mit '68 verbunden ist, was dort ein bisschen früher schon sich ereignete. Er ist auch ein großer Frauenregisseur gewesen, im Gegensatz zu seinem verehrten Landsmann Akira Kurosawa, der ja ein Männerregisseur war, viel amerikanisierter. Er ist dann wirklich auch in der Hinsicht der Godard Japans.

    Fischer: Herzlichen Dank an Rüdiger Suchsland für dieses Bild vom japanischen Filmemacher Oshima, der im Alter von 80 Jahren gestorben ist.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.