Da möchte man doch allein des Titels wegen Auskunft. War Europa weg, wem war es abhanden gekommen? Waren die Städte weg, ist es deren Flüchtigstes, der Geist, aus dem Europa wiederkehrt? Und dann, was ist Marjampole, das noch im Buchtitel für Europa, Wiederkehr, Geist und Städte steht? Kurz darauf aber als - Zitat - "Marjampole: oder die stille Verfertigung Europas" erklärt wird:
" Kaum jemand kennt Marjampole. Marjampole ist das was man eine Provinzstadt nennt...Marjampole ist so etwas wie ein Mittelpunkt Europas, wenn auch nicht im geographischen Sinne... aber das wirkliche Zentrum Europas, wo die Fäden Europas zusammenlaufen und wo sich der Knoten des neuen Europas schürzt, liegt in Marjampole."
Schlögel führt uns ins Baltikum, in einen der jüngsten EU-Staaten, nach Litauen. Und dort, in Marjampole, auf den - wie er schreibt: "größten Autobasar des östlichen Europa". In Frankfurt/Oder Professor für Osteuropäische Geschichte, bleibt der Autor auf seinem Fachgebiet. Er lehrt uns: Auch wenn die große Zeit der Automobilisierung vorüber sei, so habe doch Marjampole dem östlichen Europa wieder ein paar Dosen Bewegung, Mobilität verpasst und das Netz des Verkehrs fester geknüpft.
" Fernfahrer arbeiten an der Verkürzung von Distanzen, sie sind Spezialisten bei der Herstellung von Nähe ... die Helden und Heldinnen der Mühen der Ebene, die Aktivisten der Herstellung von Normalität. Marjampole ist der Haltepunkt inmitten eines Stroms, der nicht mehr abreißt."
Ähnlich Schlögels Begeisterung über neue Hotels, Luxusartikel, Buchhandlungen, über Basare und immer wieder über Transportrouten, Geschwindigkeit, Fluglinien, Reiseführer.
" Wer die Ströme des Verkehrs im derzeitigen Europa sichtbar machen könnte, könnte etwas über Europa sagen, gewichtiger als alles, was in Brüssel beschlossen und veröffentlicht worden ist."
Sich umzusehen, ein wacher Beobachter zu sein, hält sich Schlögel wiederholt zugute und unterstreicht damit seinen erfahrungsgestützten Eindruck. Aber waren es die nunmehr besseren Verkehrs- und Transportmöglichkeiten, die weitgehend behobene Immobilität, die Europa im Weg lagen? Wie sieht Schlögels beispielhaftes Marjampole, der Autobasar, inzwischen aus? Wo bleibt der scharfe Blick, der Blüte von Scheinblüte unterscheidet, der sich sorgenvoll vielleicht einmal der Tragfähigkeit - in bildlichem Sinne - dieser neuen Verkehrs-Trassen widmete?
Schlögel streicht das Marjampole-Beispiel, das ihn fasziniert, als stille Verfertigung Europas gegenüber langwierigen Bemühungen Brüssels heraus, was ihm rasch Beifall bringen mag. Aber es darf doch nicht die Politik der Europäischen Institutionen übersehen werden, die darauf dringt, den Anspruch jedes europäischen Bürgers auf Recht und Gesetz durchzusetzen und zu verwirklichen. Diese Politik hat, bei allem Respekt vor der normativen Kraft des Faktischen, der Mobilität, dem Handy usw., für die Zukunft der ehemaligen Ostblockländer existenzielle Bedeutung.
" Es hängt nicht an der Verabschiedung einer Verfassung, ob Europas Einigung vorankommt, sondern eher an der Konstitution der lebendigen Kräfte."
Der Optimismus, den Schlögel aus seinem Fazit ableitet, ist eigentlich nicht nachzuvollziehen.
Politisches Geschehen zu fassen scheint ohnehin seine Stärke nicht. Zu Kiew und der "Orangenen Revolution" liest man unter anderem:
" Und irgendwann tauchen hinter den Bildern von den Demonstranten die goldenen Kuppeln der Sophienkathedrale und des Höhlenklosters auf. Über sie hinweg geht der Blick ins weite Land hinaus, über den Dnepr hinweg. Die Stadt der Städte ist wieder da, genau an der Stelle, wo vor mehr als 1000 Jahren 'Der Weg der Waräger zu den Griechen' verlief. Kiew ist auf die Landkarte Europas zurückgekehrt."
Politischer Feuilletonismus!
" Was Europa ist, ist es durch seine Landschaften und Städte. In ihnen kristallisiert sich seine Geschichte, seine Kultur, seine Vitalität. An ihnen lässt sich am besten ablesen, was mit Europa geschehen ist und wie es heute um Europa steht."
Auf unserem Erdteil könnte sich solch programmatischen Einleitungssätzen wahrhaftig kaum etwas entziehen. Aber Schlögel wählt u. a. Brünn, Budapest, Bukarest, Czernowitz, Nishnij Nowgorod, Oradea, Petersburg und Moskau - geografisch: Osteuropa; zeitgeschichtlich: ehemaliges "Sozialistisches Lager". Heute sind diese Städte, wie z.B. Nishnij Nowgorod, nicht mehr gesperrt und auch die Vergangenheit wird nicht mehr verborgen. Als Westler kann man sich dort von den städtebaulichen Spuren einer kurzen bürgerlichen Epoche überraschen lassen.
Fotos und eine Karte hätten Schlögels Texten geholfen, ebenso ein erläuterndes Register - wer sind dem durchschnittlichen Leser ein Witte oder ein Pobedonoscev?
Versucht man an dieser Stelle nochmals hinter den Titel zu kommen, was bietet sich an? Der Architektur vergangener Zeiten zu huldigen, selbst wenn sie eine Sublimation darstellt, heißt schon einen sehr spezifischen Geist der Städte herauszufiltern. Wie typisch waren denn Städte? Wie dicht ihr Netz? Was trugen die Massen Unterprivilegierter zum Geist der Städte bei? Fragen, die offen bleiben.
Dem so genannten "Deutschen Osten" gilt der Abschlusstext. Das ist unter anderem eine kritische Übersicht über die deutsche "Ostforschung" als Dienstmagd der Politik bis weit in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Ein Plädoyer für eine Begegnung mit ehemals deutsch besiedelten Gebieten - wobei zugleich historisch bedingte Tatsachen anzuerkennen seien. - Nun scheint auch die Wissenschaft dort anzulangen, wo die bundesdeutsche Ostpolitik unter Willy Brandt vor fünfunddreißig Jahren einmal angesetzt hatte...
Klaus Kuntze rezensierte Karl Schlögel: "Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte", erschienen im Carl Hanser Verlag, München - 320 Seiten zum Preis von 21,50 Euro.
" Kaum jemand kennt Marjampole. Marjampole ist das was man eine Provinzstadt nennt...Marjampole ist so etwas wie ein Mittelpunkt Europas, wenn auch nicht im geographischen Sinne... aber das wirkliche Zentrum Europas, wo die Fäden Europas zusammenlaufen und wo sich der Knoten des neuen Europas schürzt, liegt in Marjampole."
Schlögel führt uns ins Baltikum, in einen der jüngsten EU-Staaten, nach Litauen. Und dort, in Marjampole, auf den - wie er schreibt: "größten Autobasar des östlichen Europa". In Frankfurt/Oder Professor für Osteuropäische Geschichte, bleibt der Autor auf seinem Fachgebiet. Er lehrt uns: Auch wenn die große Zeit der Automobilisierung vorüber sei, so habe doch Marjampole dem östlichen Europa wieder ein paar Dosen Bewegung, Mobilität verpasst und das Netz des Verkehrs fester geknüpft.
" Fernfahrer arbeiten an der Verkürzung von Distanzen, sie sind Spezialisten bei der Herstellung von Nähe ... die Helden und Heldinnen der Mühen der Ebene, die Aktivisten der Herstellung von Normalität. Marjampole ist der Haltepunkt inmitten eines Stroms, der nicht mehr abreißt."
Ähnlich Schlögels Begeisterung über neue Hotels, Luxusartikel, Buchhandlungen, über Basare und immer wieder über Transportrouten, Geschwindigkeit, Fluglinien, Reiseführer.
" Wer die Ströme des Verkehrs im derzeitigen Europa sichtbar machen könnte, könnte etwas über Europa sagen, gewichtiger als alles, was in Brüssel beschlossen und veröffentlicht worden ist."
Sich umzusehen, ein wacher Beobachter zu sein, hält sich Schlögel wiederholt zugute und unterstreicht damit seinen erfahrungsgestützten Eindruck. Aber waren es die nunmehr besseren Verkehrs- und Transportmöglichkeiten, die weitgehend behobene Immobilität, die Europa im Weg lagen? Wie sieht Schlögels beispielhaftes Marjampole, der Autobasar, inzwischen aus? Wo bleibt der scharfe Blick, der Blüte von Scheinblüte unterscheidet, der sich sorgenvoll vielleicht einmal der Tragfähigkeit - in bildlichem Sinne - dieser neuen Verkehrs-Trassen widmete?
Schlögel streicht das Marjampole-Beispiel, das ihn fasziniert, als stille Verfertigung Europas gegenüber langwierigen Bemühungen Brüssels heraus, was ihm rasch Beifall bringen mag. Aber es darf doch nicht die Politik der Europäischen Institutionen übersehen werden, die darauf dringt, den Anspruch jedes europäischen Bürgers auf Recht und Gesetz durchzusetzen und zu verwirklichen. Diese Politik hat, bei allem Respekt vor der normativen Kraft des Faktischen, der Mobilität, dem Handy usw., für die Zukunft der ehemaligen Ostblockländer existenzielle Bedeutung.
" Es hängt nicht an der Verabschiedung einer Verfassung, ob Europas Einigung vorankommt, sondern eher an der Konstitution der lebendigen Kräfte."
Der Optimismus, den Schlögel aus seinem Fazit ableitet, ist eigentlich nicht nachzuvollziehen.
Politisches Geschehen zu fassen scheint ohnehin seine Stärke nicht. Zu Kiew und der "Orangenen Revolution" liest man unter anderem:
" Und irgendwann tauchen hinter den Bildern von den Demonstranten die goldenen Kuppeln der Sophienkathedrale und des Höhlenklosters auf. Über sie hinweg geht der Blick ins weite Land hinaus, über den Dnepr hinweg. Die Stadt der Städte ist wieder da, genau an der Stelle, wo vor mehr als 1000 Jahren 'Der Weg der Waräger zu den Griechen' verlief. Kiew ist auf die Landkarte Europas zurückgekehrt."
Politischer Feuilletonismus!
" Was Europa ist, ist es durch seine Landschaften und Städte. In ihnen kristallisiert sich seine Geschichte, seine Kultur, seine Vitalität. An ihnen lässt sich am besten ablesen, was mit Europa geschehen ist und wie es heute um Europa steht."
Auf unserem Erdteil könnte sich solch programmatischen Einleitungssätzen wahrhaftig kaum etwas entziehen. Aber Schlögel wählt u. a. Brünn, Budapest, Bukarest, Czernowitz, Nishnij Nowgorod, Oradea, Petersburg und Moskau - geografisch: Osteuropa; zeitgeschichtlich: ehemaliges "Sozialistisches Lager". Heute sind diese Städte, wie z.B. Nishnij Nowgorod, nicht mehr gesperrt und auch die Vergangenheit wird nicht mehr verborgen. Als Westler kann man sich dort von den städtebaulichen Spuren einer kurzen bürgerlichen Epoche überraschen lassen.
Fotos und eine Karte hätten Schlögels Texten geholfen, ebenso ein erläuterndes Register - wer sind dem durchschnittlichen Leser ein Witte oder ein Pobedonoscev?
Versucht man an dieser Stelle nochmals hinter den Titel zu kommen, was bietet sich an? Der Architektur vergangener Zeiten zu huldigen, selbst wenn sie eine Sublimation darstellt, heißt schon einen sehr spezifischen Geist der Städte herauszufiltern. Wie typisch waren denn Städte? Wie dicht ihr Netz? Was trugen die Massen Unterprivilegierter zum Geist der Städte bei? Fragen, die offen bleiben.
Dem so genannten "Deutschen Osten" gilt der Abschlusstext. Das ist unter anderem eine kritische Übersicht über die deutsche "Ostforschung" als Dienstmagd der Politik bis weit in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Ein Plädoyer für eine Begegnung mit ehemals deutsch besiedelten Gebieten - wobei zugleich historisch bedingte Tatsachen anzuerkennen seien. - Nun scheint auch die Wissenschaft dort anzulangen, wo die bundesdeutsche Ostpolitik unter Willy Brandt vor fünfunddreißig Jahren einmal angesetzt hatte...
Klaus Kuntze rezensierte Karl Schlögel: "Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte", erschienen im Carl Hanser Verlag, München - 320 Seiten zum Preis von 21,50 Euro.