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Der große Außenseiter

Walther Rathenau war Unternehmer, Publizist, Intellektueller, schließlich Politiker und für kurze Zeit Außenminister der Weimarer Republik. Der Frankfurter Historiker Lothar Gall hat eine Biografie über diesen vielfach gescheiterten Menschen geschrieben, die die Möglichkeit zu einer neuen Auseinandersetzung mit seinem Denken ermöglicht.

Von Niels Beintker |
    Mit Spott und Häme waren seine Zeitgenossen immer zur Stelle. Für die einen war er der "Aufsichtsrathenau", der Sohn des berühmten AEG-Gründers Emil, gut versorgt durch entsprechende Posten in diversen Großunternehmen. Andere titulierten ihn böse als einen "Jesus im Frack". Schließlich setzte ihm der Schriftsteller Robert Musil ein fragwürdiges literarisches Denkmal: In seinem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" ließ er einen Dr. Paul Arnheim auftreten, einen philosophischen Dilettanten und Opportunisten, der die Züge Walther Rathenaus trägt. Wie es scheint, hat man ihn nirgends richtig akzeptiert. Dabei war Walther Rathenau eine Schlüsselfigur der deutschen Moderne, sagt der Frankfurter Historiker Lother Gall:

    "Er ist im Grunde genommen eine sehr unglückliche Existenz. Aber mich interessiert er, weil er diese Zeit des Umbruchs in zugespitzer Form repräsentiert, sich also aus dieser Gesellschaft hinaus bewegt in die neue und diese mitbestimmen will. Das ist sein Lebensziel. Und das kommt ja dann am Ende seines Lebens dahin, dass er Außenminister wird, für wenige Monate, ehe er dann ermordet wird. Das ist aber eigentlich nicht das Ziel seines Lebens gewesen."

    Nein, dieser Lothar Rathenau hatte größeres vor, glaubt sein Biograph. Er wollte die erstarrte deutsche Gesellschaft des späten Kaiserreichs verändern, im Gespann mit jungen Künstlern, Philosophen und Lebensreformern. Sie alle gehörten einem neuen Bürgertum an, das in der beginnenden Moderne mehr und mehr gesellschaftlichen Einfluss für sich in Anspruch nahm, so Lothar Gall.

    "Er will das mittlere Bürgertum zum allgemeinen Stand machen. Das hat es schon im ausgehenden 18. Jahrhundert gegeben, dass man das Bürgertum als den Stand der Zukunft bezeichnete. Und das hat er auch als Ziel gehabt. Das Proletariat sollte in diesem Sinne, modernisierten Sinne verbürgerlicht werden. Und die alten Stände sollten aufgenommen werden in dieses Bürgertum. Es sollte sozusagen eine egalisierende Gesellschaft auf hohem Niveau entstehen."

    Die Rückkehr zur den Ideen der bürgerlichen Aufklärung sollte den Weg in die Zukunft führen. Walther Rathenau dachte aber viel weiter. Als Unternehmer wusste er, dass die Wirtschaft in der modernen Welt eine immer zentralere Rolle spielen würde. Also verknüpfte er seine gesellschaftlichen Visionen mit wirtschaftspolitischen Ideen, skizzierte in seinen Essays das Bild einer halbverstaatlichten Ökonomie: Unternehmen, die für das Gemeinwohl wirtschaften und bürokratisch überwacht werden sollten.

    "Er wollte den Leistungsgedanken ins Extrem führen. Die Familie oder der einzelne Unternehmer sollte zwar von seinem Einkommen leben. Aber er sollte es nicht vererben, nur zu kleinen Teilen. Die Erbschaftssteuer sollte die Gesellschaft grundlegend reformieren. Und er war dafür, dass man das Privateigentum über das Steuerrecht wesentlich reduzierte. Nicht für den einzelnen, der Unternehmer ist und tätig. Aber wohl für die Familie."

    Aus Sicht seiner Kritiker war das Sozialismus pur, so Lothar Gall. Da half es auch nichts, dass Walther Rathenau selbst den Sozialismus verabscheute. Eines von vielen Missverständnissen über seine Person, die ihn mehr und mehr in die Rolle des Außenseiters gebracht haben. Wie sein Biograph zeigt, galt Rathenau unter den befreundeten Künstlern seiner Zeit letztlich nur als Mann der Wirtschaft. Unter den Unternehmern wiederum nur als philosophischer Spekulant. Und er selbst hat sich immer wieder in tiefe Widersprüche verstrickt, etwa in den Jahren des Ersten Weltkriegs. Als eine der wenigen prominenten Persönlichkeiten verurteilte er anfangs den Krieg. Dann organsierte er im staatlichen Auftrag die Kriegswirtschaft, plädierte für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg und wetterte im Oktober 1918 gegen die Waffenstillstandsverhandlungen. Politisch galt er hernach als schwer berechenbar.

    "Aber immerhin: Er hat sich dann in der Phase, in der er Außenminister wurde, hat er dann schon Schritte gemacht in eine Friedensordnung, die dann Stresemann weiter geführt hat. Er hat ein international großes Ansehen in diesen wenigen Monaten erworben. Und insofern war seine Ermordung dann auch eine Katastrophe für das Reich."

    Im Januar 1922 wurde Walther Rathenau Außenminister im Kabinett des Zentrum-Politikers Joseph Wirth. Zuvor schon war er maßgeblich beteiligt an den schwierigen Reparationsverhandlungen mit Frankreich und Großbritannien. Auf sein Bemühen hin wurde zu Ostern 1922 eine Weltwirtschaftskonferenz in Genua einberufen, an deren Ende eine völlig unerwartetes politisches Abkommen stand: Deutschland und die junge Sowjetunion, die beiden Außenseiter auf der internationalen Bühne, schlossen den Vertrag von Rapallo, erklärten unter anderem den Verzicht auf Reparationszahlungen.

    "Er selber hat Rapallo sehr widerstrebend und bis zum letzten Augenblick dagegen in Opposition stehend vertreten. Das heißt, es war nicht seine Politik. Es war Wirths Politik, mit den Russen anzuknüpfen und ein Bündnis der Unterlegenen zu knüpfen. Man kann nicht sagen, dass das die Linie Rathenaus war. Seine Linie war der Ausgleich vor allem mit Frankreich, aber auch mit England, eine Friedensordnung auf Basis der Verhältnisse, die wir nach 45 dann erlebt haben."

    Der extremen Rechten in Deutschland galt Walther Rathenau nun vollends als Verräter. Im Juni 1922 wurde er von Rechtsradikalen ermordet, auf offener Straße. Lothar Galls Buch über diesen vielfach gescheiterten Menschen bietet die Möglichkeit zu einer neuen Auseinandersetzung mit seinem Denken, zeigt Walther Rathenau, mit allen Widersprüchen, als politischen Visionär, der an den Vorbehalten seiner Zeit zugrunde ging. Eines ist dieses Porträt eines vielseitigen Beobachters der Moderne aber leider nicht: eine wirkliche Biographie. Zwar erfahren die Leser, wie sehr Walther Rathenau leiden musste an seiner Zeit und wie sehr er repräsentativ war für eben diesen bürgerlichen Aufbruch im frühen 20. Jahrhundert. Und trotzdem ist dieser Mensch, als fühlendes und denkendes Individuum, nach der Lektüre noch immer fremd und schemenhaft. War er tatsächlich nur ein Außenseiter?

    Lothar Galls Buch "Walther Rathenau. Portrait einer Epoche" ist gerade erschienen im Verlag C.H. Beck München. 299 Seiten kosten 22,90 Euro.