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Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913. Kultur - Gesellschaft - Politik

Der Kritiker Komej Tchukowskij erzählt, wie er 1913 einmal mit Wladimir Majakowskij zu der Abendveranstaltung eines angeblichen Mäzens gegangen ist, der eine Buchveröffentlichung für Majakowskij finanzieren sollte. Doch tatsächlich, so wurde bald klar, war es eine Reihe von "kropfigen, schnurrbärtigen, kalbsäugigen Frauen", so Tschukowskij, die entscheiden würden, nachdem ihnen Majakowskij seine Gedichte vorgetragen hätte. Majakowskij "deklamierte mit schneidendem Falsett:

Guido Graf |
    'Auf Schmetterlingsflügel stampf ihr mit Galoschen / und tretet poetische Funken aus, / vertiertes Gezücht, bis die Farben erloschen / unterm Schreiten der tausendköpfigen Laus.'"

    Diese Pose Majakowskijs, aufzutreten als Narr der Apokalypse und erster Mensch der gegenwärtigen Utopie zugleich, ist bezeichnend für die kulturelle ebenso wie für die politische und gesellschaftliche Stimmung 1913 in Russland. Dieses Jahr war ein Schwellenjahr, wie es das nicht so häufig gibt. Der Blick, der sich auf den Zusammenhang bloßer Gleichzeitigkeit konzentriert, könnte natürlich nahezu jedes beliebige Jahr der Geschichte so sehr verdichten, dass aus dem Faktum ein Fatum wird. Zudem lassen sich zumeist Epochenschwellen auch nicht so ohne weiteres auf einen einzigen Zeitpunkt hin datieren. Man gerät so schnell auf das Gebiet der nachträglichen Inszenierung.

    Es gibt jedoch auch Jahre, die im Rückblick wie Brennpunkte kulturhistorischer Prozesse scheinen, in denen das große Innehalten einer Epochenwende sichtbar wird vor allem im unvermittelten Aufeinanderprallen kultureller, sozialer und politischer Entwicklungen. Gerade über die Zeit unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist schon viel geschrieben worden, beispielsweise über künstlerische Entwicklungen in Europa, Positionen der deutschen Avantgarde, beispielhaft über die Ästhetik Guillaume Apollinaires. Immer konzentrierte sich die Perspektive allein auf Westeuropa.

    Der Dichter und Essayist Felix Philipp Ingold, der in St. Gallen auch Professor für die Kultur- und Sozialgeschichte Russlands ist, hat nun mit einem einzigartigen Kompendium über Rußland im Epochenjahr 1913, über den "Großen Bruch", so der Titel, in der russischen Kultur, Gesellschaft und auch Politik am Vorabend des Ersten Weltkriegs, den Blick nach Osten gelenkt. Der umfangreiche Band versammelt einen ausgreifenden, reich bebilderten Essay, eine ebenso ausführliche wie detaillierte Chronik dieses einen Jahres sowie im dritten und umfangreichsten Teil eine Anthologie von vielen, zu einem großen Teil erstmals und auch von Ingold selbst übersetzten Manifesten, Essays, Traktaten, aber auch Zeitzeugnissen wie Tagebuchnotizen, Erinnerungen oder Briefe.

    Immer wieder beschreibt Ingold in seinem einführenden Essay die Situation dieses Jahres in Rußland mit einer ganzen Kette von Öichetemte^, um die enorme '"7 Spannung zu verdeutlichen, unter der alle gesellschaftlichen Prozesse gestanden '^/f- haben, wie eine sich kämpferisch gebende Zukunftseuphorie den vermeintlichen

    Djagilew und natürlich auch der legendäre Tänzer Waziaw Nishinskij demonstrieren wollten, scheinen weit entfernt von den Vorstellungen einer "lichten Zukunft", wie sie die Bolschewijkij verfolgten. Ingolds Zusammenschau des großen Bruchs im Russland von 1913 zeigt jedoch, wie diese und andere Konzeptionen sich auf der gleichen Schwelle bewegten. Das gilt auch für Wladimir Majakowskij. In seiner Tragödie mit dem Titel "Waldimir Majakowskij", uraufgeführt im Dezember 1913 im Petersburger Theater "Luna-Park", trat Majakowskij selbst in der Rolle des Dichters auf und in einer Szene spricht er ganz im Sinne Nietzsches, allerdings "mit einem Beiklang von verlegenem Schwermut", wie sich ein bei der Uraufführung mitwirkender Schauspieler erinnert: "Bin ich vielleicht der letzte Dichter." Tatsächlich hat sich der selbstbewusste Majakowskij durchaus als ersten Dichter unter seinen Zeitgenossen gesehen. Gefeiert wird der alte allwissende Autor, doch aus ihm heraus tritt der neue, "in sich vielfach gebrochene Autor", der fortlebt nur noch als Text, als Buchstabenkombination. Doch immer noch ist es seine Entscheidung gewesen.