Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Der große Bücherklau

Mehrere Jahre lang wurde offenbar die Biblioteca dei Girolamini in Neapel regelrecht geplündert - eine der am reichsten mit antiquarischen Büchern bestückten Bibliotheken Italiens. Die jüngsten Ermittlungen lassen den Verdacht zu, dass der Raub von langer Hand und in Rom vorbereitet wurde.

Von Thomas Migge | 06.02.2013
    Marcello dell’Utri ist Italiens berühmtester Bibliophiler. Und doch gilt er unter Literaten und Verlagen als persona non grata. Nicht erst seit er vor wenigen Tagen erfuhr, dass die Staatsanwaltschaft Neapel gegen ihn ermittelt. Seit Monaten wird er verdächtigt gestohlene Bücherkostbarkeiten illegal erworben zu haben. In seiner Privatbibliothek in Mailand fand die Polizei kostbarste Erstausgaben, unter anderem der "Utopia" des Philosophen Thomas Morus aus dem Jahr 1518. Dieses und andere Werke aus dem Besitz dell’Utris, so die Polizei, gehören eigentlich der neapolitanischen Biblioteca dei Girolamini.

    Walter Mariottini von der Sondereinheit der Carabinieri gegen Kunstdiebstahl:

    "Gegen insgesamt 17 Personen wird inzwischen ermittelt, darunter auch gegen Senator dell’Utri. Es geht um den in zahllosen Fällen durchgeführten Diebstahl wertvoller Bücher. Der Senator soll vom Bibliotheksdirektor mit alten Büchern für seine private Sammlung versorgt worden sein. Wir haben es hier mit einer kriminellen Organisation zu tun."

    Selbst in Italien, das in Sachen Kriminalität und Korruption einiges zu bieten hat, handelt es sich hierbei um ein absolutes Novum: Mehrere Jahre lang wurde offenbar eine der am reichsten mit antiquarischen Büchern bestückten Bibliotheken Italiens, die Biblioteca dei Girolamini in Neapel, nicht nur bestohlen sondern regelrecht geplündert. Mehr als 4000 kostbare Bücher aus dem 16. bis 18. Jahrhundert landeten auf diese Weise auf dem antiquarischen Kunstmarkt. Nur einige wenige hundert konnten bei den laufenden Ermittlungen - die Ende Januar auch zur Verhaftung von sechs Buchhändlern führten - wieder gefunden werden.

    Im vergangenen April wurde die Bibliothek sicherheitshalber von der Polizei beschlagnahmt und geschlossen. Verhaftet wurde damals der Konservator der Bibliothek, der katholische Geistliche Sandro Marsano, sowie Bibliotheksdirektor Marino Massimo De Caro. Anschließend wurden beide freigelassen und dann erneut in Gewahrsam genommen. Jetzt wurde ihre Verhaftung von der Staatsanwaltschaft Neapel aufgrund neuer Vorwürfe untermauert. Sie sollen, so die Ermittler, selbst während der polizeilichen Schließung ein Netz mit antiquarischen Buchhändlern in Italien und im Ausland, von der Schweiz ist die Rede, aufgebaut haben. Marsano und De Caro versorgten Buchhändler und Sammler wie Dell’Utri, so der Vorwurf, mit bibliophilen Perlen aus der Bibliothek.

    Der auf alte Bücher spezialisierte neapolitanische Kunsthistoriker Claudio Bertinetti:
    "Diese Leute agierten ungestört, denn die Bibliothek ist seit einiger Zeit für die Öffentlichkeit geschlossen und so konnten sie mitnehmen was sie wollten, ohne dass sie dabei kontrolliert wurden. Sie stellten sogar nach Belieben die Alarmanlagen aus"

    Die jüngsten Ermittlungen lassen den Verdacht zu, so erklärte die Staatsanwaltschaft Neapel vor wenigen Tagen, dass die Plünderung der Biblioteca dei Girolamini von langer Hand und in Rom vorbereitet wurde.

    Den Ermittlern zufolge habe Senator dell’Utri Berlusconis letzten Kulturminister, Giancarlo Galan, unter Druck gesetzt, damit dieser Marino Massimo De Caro zum Direktor der Biblioteca dei Girolamini ernennt. Anscheinend, so der Verdacht, wollte dell’Utri einen Mann an der Spitze der Bibliothek wissen, der im zu Diensten ist und ihn mit bibliophilen Kostbarkeiten versorgt.

    Der Fall der Biblioteca dei Girolamini ist in Italien sicherlich keine Ausnahme. Davon ist die Sondereinheit der Carabineri gegen Kunstdiebstahl überzeugt. Erste Stichproben in einigen Bibliotheken, zum Beispiel in der neapolitanischen Bibliothek des Konservatoriums San Pietro a Majella, die weltweit eine der wichtigsten Sammlungen von Originalpartituren von Mittelalter bis Barock besitzt, zeigen, dass auch dort Diebe am Werke waren und wahrscheinlich immer noch sind. In welchem Umfang ist noch unklar.