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Der große Durchbruch blieb aus

Geno Hartlaub kann auf ein vielschichtiges Werk zurückblicken. Der große Durchbruch im literarischen Betrieb gelang ihr jedoch nie. Als Mensch, der gern am Rand steht und beobachtet, wollte sie das wohl auch nicht. Aber mit Büchern wie "Gefangene der Nacht" und "Sprung über den Schatten" schrieb sie eine eigenständige Literatur - gleichberechtigt neben den kunsthistorischen Werken ihres Vaters und den Tagebüchern ihres Bruders.

Von Matthias Kussmann |
    "Unterwegs, um meine Heimat zu suchen. Nie habe ich mich zuhause gefühlt in der zwischen Neckar und Rhein gelegenen Industriestadt, in der ich geboren bin. Ich will nicht zurück ins Siebenzwergeland, wo Häuser, Bäume und Straßen, riesenhaft für das Kind, mit jedem Erwachsenenjahr zusammenschrumpfen. Mein Elternhaus wurde im Krieg zerstört. Ich werde nicht noch einmal durch das gekachelte Treppenhaus mit den bunt eingelegten Glasfenstern gehen. Ich werde mein Alter nicht am Mahagonisekretär mit Familienpapieren verbringen. Nie habe ich begriffen, warum man sich nicht Heimat und Eltern wählen darf, weshalb es Daten gibt, die nicht zu verändern sind: Name, Tag und Ort der Geburt, Konfession, Alter, Körpergröße. "

    Geno Hartlaub: Sprung über den Schatten. Erinnerungen und Erfahrungen. Bern/München: Scherz 1984, S. 7

    Immer wieder hat sich Geno Hartlaub mit ihrer Herkunft auseinandergesetzt. Die Passage, die wir eben hörten, stammt aus ihrem Buch mit dem bezeichnenden Titel "Sprung über den Schatten"; es erschien 1984 und enthält autobiografische Aufzeichnungen. Geno Hartlaub erzählt darin auch, dass es rund 60 Jahre dauerte, bis sie schreibend zu sich selbst fand. In ihrer Familie gab es gleich zwei "Schatten", über die sie "springen" musste. Ihr Vater Gustav Hartlaub war Direktor der Mannheimer Kunsthalle und ein bekannter Kunsthistoriker. Und ihr Bruder Felix war ein hochbegabter junger Historiker und Autor. Der Vater jedenfalls führte die Kinder schon früh in die Welt der Bildenden Kunst und der Literatur ein. Das war sicher gut gemeint, doch ließ sein regelrechtes "Trainingsprogramm" die Geschwister nicht wie andere Kinder aufwachsen. Er behandelte sie wie Erwachsene, hetzte sie kreuz und quer durch Museen und raubte ihnen damit einen Teil ihrer Kindheit. Als "Wunschheimat" nannte Geno Hartlaub Jahrzehnte später denn auch San Francisco: eine Stadt ohne Tradition, ein Bastard, geprägt von den verschiedensten Kulturen - "Kopie eines Originals, das niemand kennt":

    "Lange genug habe ich das fade Gericht, Bildung genannt, in mich hineingelöffelt. Ich brauche die Nachhilfestunden der alten Lehrerin Europa nicht mehr. Hier kann ich zeigen, wer ich bin. Diese Stadt ohne Geschichte wird das Urteil über mich fällen. "
    Sprung über den Schatten

    Allerdings ist die Autorin, die heute in Hamburg lebt, im "alten Europa" geblieben. Vielleicht auch, weil ihr der "Sprung über den Schatten" schließlich doch noch gelang. In dem gleichnamigen Buch erzählt sie auch von der letzten Begegnung mit ihrem Vater. Er hatte sie lange abgelehnt, weil sie sein Interesse für Geschichte und Museen nicht teilte. Doch dann änderte er seine Sicht:

    ""Mach nur so weiter", sagte er. Es klang wie ein Vermächtnis, schon im Angesicht des nahenden Todes. "Sei froh, dass du das Leben nicht nur aus der Museumsperspektive kennengelernt hast. Ich habe immer gewußt, dass du ein Naturkind bist. Sei nicht traurig, dass du nicht studieren durftest. Du bist immer du selbst geblieben." - "Denken Sie daran", sagte mir ein Freund nach der Beerdigung, "dass Sie jetzt vorne stehen." Erst auf der Rückreise wurde mir klar, was der Freund gemeint hatte. Ich fühlte mich, als sei ich über einen Schatten gesprungen. Ein neues, mein eigenes Leben fing an. "
    Sprung über den Schatten, S. 237

    Geno Hartlaub wurde am 7. Juni 1915 in Mannheim geboren. Besonders eng verbunden war sie mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Felix. Durch die Erziehung ihres Vaters hatten die beiden kaum Kontakt zu anderen Kindern. So spannen sie sich in eine eigene Kunst- und Mythenwelt ein. 1933 verlor ihr politisch liberaler Vater seine Stelle als Direktor der Mannheimer Kunsthalle - wegen dessen "Kulturbolschewismus", wie die Nazis es nannten, Geno Hartlaub nicht studieren durfte und in eine kaufmännische Lehre auswich. Felix studierte in Berlin Geschichte und blieb auch dort ein Außenseiter. Beide mochten es nicht, im Mittelpunkt zu stehen. 1990 sagte Geno Hartlaub in einem Radio-Gespräch:

    "Ich hab mich immer sehr gern ausgeblendet. Da muss man ein Stichwort sagen, was übrigens auch für meinen Bruder gilt: Wir waren "Tarnkappenmenschen", wir konnten uns unsichtbar machen. Wirklich: Wenn wir irgendwo reinkamen, bei einem Empfang oder so, das hat überhaupt kein Mensch gemerkt... "

    Ihre Neigung zur "Tarnung" findet man auch in ihren Büchern. Geno Hartlaub geht zwar oft von eigenen Erfahrungen aus und versucht Dinge, die sie bewegen oder quälen, schreibend zu klären. Literatur sei durchaus "Therapie", sagt sie. Allerdings wird das Autobiografische dann meist von literarischer Fiktion überlagert. Auch die symbiotische Beziehung zu ihrem Bruder Felix hat sie so verarbeitet: in der Erzählung "Der Mond hat Durst" von 1963. - Doch trotz der großen Nähe gab es im Verhältnis der Geschwister auch Spannungen - als angehende Autoren waren sie auch Konkurrenten:

    "Bei Felix war das eine schwierige Situation. Wir waren sehr aneinandergekettet und wollten auch gleichzeitig zu schreiben beginnen. Und das haben wir auch getan. Die erste Novelle von Felix heißt "Parthenope" und spielt in Neapel, und meine heißt "Die Entführung" und spielt auch in Neapel. Felix und ich haben uns nicht nur gegenseitig befruchtet, sondern auch gestört. Denn man dachte ja, wenn einer in einer Familie schreibt oder malt oder Musik macht, dann ist es genug..."

    Felix Hartlaub wurde 1939 zur Wehrmacht eingezogen und arbeitete später beim "Kriegstagebuch" in Hitlers "Führerhauptquartier". Auch dort gelang es ihm, sich zu "tarnen". Er verfasste geheime Aufzeichnungen über den Krieg - "aus der windstillen toten Mitte des Taifuns", wie er es nannte. Sie sind ein bis heute wichtiges Dokument über die NS-Zeit. Seit Frühjahr 1945, während der Kämpfe um Berlin, ist Felix Hartlaub verschollen. Seine Schwester gab seine Aufzeichnungen und Novellen 1955 aus dem Nachlaß heraus - und wurde dafür teilweise mehr beachtet als für ihre eigenen Texte. Ein zweiter "Schatten", über den Geno Hartlaub springen musste... Nach dem Krieg arbeitete sie in Heidelberg und Hamburg als Journalistin, Redakteurin und Lektorin. Daneben entstanden Romane, Erzählungen, Reiseberichte und autobiografische Prosa. Ihre frühen Bücher bestimmt ein märchenhafter Ton, der mitunter an die literarische Romantik erinnert. Geno Hartlaub floh schreibend aus der sogenannten "Realität" in eine andere Wirklichkeit:

    "Ja, das ist ganz richtig mit dem Fluchttrieb, den hab ich immer sehr gehabt. Andererseits war's auch Widerstand gegen die bürgerliche Gesellschaft, das wollte ich ja auch nicht, dass das wieder anfing. Und die Vorliebe für die Romantik war auch eine Flucht, weil ich die Nachkriegswirklichkeit zunächst nicht gestalten konnte. "

    1947 erschien ihr erster Roman "Anselm der Lehrling". Er erzählt von einem weltfremden jungen Mann, der aus seinem Alltag in eine Traumwelt voller mythischer Figuren flüchtet - auch bei der Arbeit im Kontor:

    "Die Stimme des Registrators tut ihm weh. Wie ein Angelhaken bohrt sie sich ein, zieht ihn empor aus dem tiefen Meer, der grünlich schimmernden Finsternis seines Schlummers. Nur widerstrebend folgt er ihr hinauf bis an die Oberfläche des fahlen Tages. Hätte der Registrator nicht noch eine Weile warten können mit dem Auswerfen seines Angelhakens, ach, nur noch einen Augenblick, da doch die Flut des Schlafes sich schon wieder zu lichten begann und vom Meeresgrund sich Gestalten erhoben, lange vermißte, schmerzlich vertraute Bilder, nach deren Wiederkehr er sich in seinen nächtlichen Träumen vergeblich abgemüht hatte? War er nicht eben endlich an der Schwelle der Gärten gestanden, am Heckentor, umgeben vom Rauschen der ewigen Bäume, vom Murmeln der Quellen und dem verwirrend süßen Vogelkonzert? Miranda - endlich war es ihm gelungen, wieder vorzudringen bis an die Schwelle ihres Bereiches, da bohrt sich dieser gemeine Angelhaken in sein Fleisch, die quäkende Stimme dieses aufgeblasenen Wichtes, der sich Registrator nennt und hier den Herren zu spielen bemüht ist... "
    Geno Hartlaub: Anselm der Lehrling. Roman. Hamburg: Christian Wegner 1947

    Autor: Doch Geno Hartlaubs phantastisch-märchenhafte Bücher paßten nicht in die Literatur der Nachkriegszeit. Die "Gruppe 47" gab den Ton an, "Kahlschlag"- und "Trümmer"-Texte waren gefragt:

    "Ich habe meine Aufgabe zunächst darin gesehen, möglichst gut schreiben. Und zwar war da auch der Rudolf Hirsch vom S. Fischer Verlag beteiligt, der gar nicht viel vom Krieg hören wollte. Und der hat mich so ein bisschen in die Nachfolge von Hofmannsthal, Schnitzler und sanfteren Poeten vor dem Krieg gedrängt. Der hat mich beeinflußt. Er wollte nicht, dass ich so schreibe wie die Gruppe 47."

    Erst Ende der 50er Jahre wandte sich Geno Hartlaub literarisch der Nachkriegszeit zu:

    "Das erste, was ich darüber geschrieben habe - was aber wieder sehr romantisch ist -, ist "Gefangene der Nacht". Das haben Leute aus der Gruppe 47 gelesen, die ja viel "Berichterstatter" waren, und haben gesagt, das sei ja immer noch viel zu schön geschrieben für diese schreckliche Zeit..."

    "Gefangene der Nacht" erschien 1961 und wurde kürzlich neu aufgelegt. Es ist das einzige derzeit lieferbare Buch der Autorin. Der Roman spielt im Zweiten Weltkrieg in einer fiktiven deutschen Stadt und erzählt Geschehnisse einer einzigen Nacht - in der die Stadt bombardiert wird. Wie in einem Kaleidoskop zeigt er die alltäglichen Schicksale acht verschiedener Menschen, die sich in dieser Nacht teilweise auch begegnen und wieder verlieren. Es sind Mitläufer und überzeugte Nazis dabei, aber auch Zweifler, Verfolgte und vom Krieg Verstörte. Einmal wird erzählt, wie das Mädchen Irene durch die zerstörte Stadt geht und in eine Krankenbaracke gerät. Dort bemerkt sie die abgetrennte Hand einer jungen Frau, die bei einem Bombenangriff ums Leben kam. Die Autorin deutet die Szene nicht. Sie beschreibt sie lakonisch aus der Perspektive des Mädchens, das sich an das Grauen des Krieges gewöhnt hat - und gerade das macht die Passage um so eindrücklicher:

    Ein Sanitäter war dabei, eine Zeltplane über eine Leiche zu ziehen, als einer der Bahrenträger ihn zur Hilfe rief. Er unterbrach seine Tätigkeit, doch bevor er zur Baracke ging, bückte er sich, hob etwas vom Boden auf und legte es auf den Rand der Bahre zurück. Im Lichtschein seiner Lampe erkannte Irene deutlich eine Hand, eine säuberlich vom Arm getrennte Mädchenhand, die nicht viel größer war als die eines Kindes. Gut, dass der Sanitäter in seinem Ordnungssinn die abgerissene Hand aus dem Staub aufgelesen und an ihren Platz zurückgelegt hatte. Auf diese Weise wußte man wenigstens, wer unter der Zeltplane lag. (...) Doch neben der abgerissenen Hand lag eine weiße Tasche aus Kunststoff, deren Metallverschluß aufgesprungen war. Das leere Innere der aufklaffenden Tasche, in der weder Geld noch Ausweis, weder Taschentuch noch Puderdose zurückgeblieben waren, entsetzte Irene mehr als die unnatürlich heile Hand mit der nicht mehr blutenden Schnittfläche, bei deren Anblick sie wider Willen an eine jener künstlichen Geistergliedmaßen aus einem Zauberkasten denken musste, den man ihr als Kind geschenkt hatte.
    Geno Hartlaub: Gefangene der Nacht. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004