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Der große Fang

Grundnahrungsmittel wie Reis, Mais oder Bohnen sind für viele Bewohner Haitis unerschwinglich, 80 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze. Doch mit Fisch lässt sich neuerdings Geld verdienen. Seit einige haitianische Fischer eine asiatische Fangtechnik anwenden, ist ihr Lebensunterhalt gesichert.

Von Sandra Miller |
    Geschäftiges Treiben herrscht am Strand von Grand Goave. Seit Tagen arbeiten die Fischer an den letzten Vorbereitungen, um die neue Fischfangvorrichtung im Meer zu installieren. Mit kleinen Bunsenbrennern verschweißen sie Kunststoffseile ineinander und befestigen diese an einem rund 200 Kilogramm schweren Betonblock. Morgen soll er ins Meer geworfen werden. Die Stimmung ist angespannt - denn es ist ein großer Moment für die Fischergemeinde.

    Michel Simon von der "Fondation Verte" erklärt das einfache aber effektive Prinzip dieser Fischfangtechnik, unter den Fischern allseits bekannt als DCP:

    "Hier haben wir eine Vorrichtung vorbereitet, die die Fische anlockt. Ein sogenanntes DCP. Das wird dauerhaft auf dem Meeresboden installiert: Ein Betonblock, an dem Kokosstroh und Palmenblätter befestigt werden. Darauf entsteht Plankton, das von den kleinen Fischen gefressen wird, die wiederum die großen Fische anlocken. Und dann angeln die Fischer die großen Fische."

    Michel Simon sitzt an einem verdreckten Strand. Hier liegt angeschwemmter Plastikmüll aus dem Meer, ein alter kaputter Klappstuhl sowie ein marodes Boot. Simons Laptop steht auf roten Bojen. Rund ein Dutzend Fischer umrunden ihn. Sie verfolgen gespannt die letzten Berechnungen. Die "Banque Interamericaine de developpement" und der "Fonds d'assistance economique et sociale d'Haiti" finanzieren dieses Projekt. Je nach Meerestiefe und der damit benötigten Seillänge kostet die Fangvorrichtung zwischen 950 und 2000 Euro.

    Seit 2005 wird in Grand Goave mit dem DCP gefischt. Für die 220 Fischer ist "DCP" zum Zauberwort geworden. Denn den Fischern gehen saisonunabhängig auch die richtig fetten Fische ins Netz. Stundenlanges Warten auf offener See unter brütender Hitze - diese Zeiten sind vorbei.

    Verdiente ein Fischer knapp 17 Euro pro Monat, stieg sein Einkommen durch die asiatische Fangtechnik auf 260 Euro, also um das Fünfzehnfache. Einziger Unkostenbeitrag: eine monatliche Mitgliedsgebühr von knapp 50 Cent an die Fischerorganisation Grand Goave. Kein Wunder, dass sich in der Hochsaison zwischen Oktober und März bis zu 60 kleine Boote um ein DCP tummeln.

    Kurz nach Sonnenaufgang ist es soweit. Die Fischer wuchten den Betonblock in ihr Motorboot. Auf hoher See treffen sie Michel Simon. Seine "Fondation Verte" beschafft nicht nur die finanziellen Hilfsmittel für die Fischfangvorrichtung, Michel Simon berät, betreut und begleitet die Fischer auch wann immer sie Rat und Tat suchen.

    Auf See werden permanent die Daten überprüft. Ist die Stelle erreicht, an der das DCP ins Meer geworfen werden muss? Denn gibt es Abweichungen, wird sich das auch in der Fangquote auswirken, da die Strömung entscheidend mitspielt. Schließlich gibt Michel Simon grünes Licht.

    Beinahe wäre das mit sieben Fischern und jeder Menge Palmenblättern beladene Motorboot umgestürzt, als der schwere Betonblock nun von Bord geht.

    Max Bordey, ebenfalls von der "Fondation Verte", verfolgt das Ganze auf seinem GPS.

    "Wir haben jetzt das DCP hier ins Meer geworfen. Jetzt müssen wir abwarten, bis es sich auf dem Meeresboden stabilisiert hat, um dann die Endposition mittels dem GPS zu bestimmen"."

    Schließlich gibt Michel Simon Anweisungen, wo genau die an den Seilen befestigten Bojen ins Meer geworfen werden. Sie markieren die künftige Fischfangzone.

    Ti Blanc, der den Ruf des erfolgreichsten Fischers in Grand Goave genießt, sitzt in seinem kleinen Holzschalenboot. Der Eimer mit ein paar Fischen - sein Fang von heute morgen - hat gerade noch so Platz in seinem wackligen Boot. Ti Blanc hat die Installation mitverfolgt - er war im Schlepptau des Motorbootes. Er wirkt etwas müde, aber auch erleichtert. Es ist nun das dritte DCP für die Fischergemeinde und die Erfahrung mit den beiden anderen war sehr positiv für ihn:

    ""Mit Hilfe des DCP können wir bereits am Morgen mehrere Fische fangen - zwischen zehn und zwölf Stück, je nach Strömung. Aber zuvor kam es schon mal vor, dass wir in einer oder in zwei Wochen fast gar nichts gefischt haben"."

    Doch dieser große Erfolg hat aber auch Nachteile mit sich gebracht: Neid und Missgunst wurden bei den rund 700 Fischern im Nachbardorf Leogane geweckt, berichtet Fischer Fredo Saintus aus Grand Goave.

    ""Wir haben zwei DCP in Grand Goave. Aber die Fischer in Leogane hatten keines. Deshalb sind sie auf unsere Seite des Meeres gekommen und haben jeden Tag von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends da gefischt. Folglich hatten wir nichts mehr zum Fischen. Das hat zu großen Problemen zwischen den Fischern in Leogane und Grand Goave geführt"."

    Seit knapp einem Jahr hat die Gemeinde Leogane nun auch ihr eigenes DCP. Jetzt hat die Schlacht mit Macheten auf dem Meer ein Ende.

    Nicht nur die Fischer haben von den DCP profitiert. Das Dorf Four-à-Chaud in der Nähe von Leogane - bekannt für seine Bootsfabrikation - hat für haitianische Verhältnisse einen kräftigen "Wirtschaftsaufschwung" erlebt. Da die Fischer größere Mengen angeln, benötigen sie nicht nur mehr, sondern vor allem auch stabilere Boote, erzählt Frantz Roger. Die baut er direkt am Strand. Mit zwei Mitarbeitern fügt Frantz Roger gerade das letzte fehlende Stückchen Holz in ein Bootsgerippe. Er sitzt inmitten seiner halbfertigen Werke auf einem kleinen Baststühlchen und resümiert:

    ""Bevor wir die DCP hatten, bauten wir weniger, so im Durchschnitt fünf bis sechs Boote pro Jahr. Aber jetzt, wo mit DCP gefischt wird, bauen wir jährlich zehn bis zwölf Boote. Verstehen Sie?"

    Die durchschnittliche Fangquote pro Fischer ist heute rund vier Mal höher als zuvor. Die Hälfte des Fischfangs ist für den Eigenbedarf der Fischerfamilien bestimmt, der Rest zum Verkauf auf dem Markt.

    Bis sich das neue DCP fest auf dem Meeresboden stabilisiert hat, werden ein bis zwei Wochen vergehen. So lange müssen sich die Fischer noch gedulden, bis sie dann von ihrem neuen Angelplatz aus Fischen können.