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Der gute Mensch von ... Köln

In der unkonventionellen Biografie "Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils" will Autor Christian Linder dem Rätsel des Menschen Heinrich Böll und dem Geheimnis seines Schreibens nachspüren. Ein Schlüssel zu diesem Rätsel ist Linder zufolge die Religionsverbundenheit des Kölner Literaten.

Von Helmut Mörchen | 16.02.2010
    Der Verlag Matthes & Seitz hat Christian Linders unkonventionelle Böll-Biografie als ein "intimes Porträt des Literaturnobelpreisträgers" angekündigt. Linder will dem Rätsel des Menschen Heinrich Böll und dem Geheimnis seines Schreibens nachspüren. Dies ist für den Biografen zu einem Lebensprojekt geworden, zeitlich und inhaltlich.

    Vor über 30 Jahren führte Linder mit dem Dichter ein langes, in dem Buch "Heinrich Böll. Drei Tage im März" festgehaltenes Gespräch. Seitdem ist Böll in manchen weiteren Texten Teil seines Lebens geworden und seine Biografie eine Summe des Ganzen sowie ein intimes Dokument über deren Autor. Die Äußerung Bölls gegenüber Hans Werner Richter "Ich werde mir doch nicht meine Biografie verderben" wurde für Linder zu einem seine Arbeit über Böll stimulierenden Kernsatz:

    "Ich war gewarnt, als ich mich entschloß, noch einmal das Territorium von Heinrich Bölls Werk und Leben abzuschreiten und seine Biographie zu schreiben, und ich bin während meiner Recherchen auch immer auf von Böll zu Lebzeiten gesperrtes Terrain gestoßen, das nach seinem Tod von der Familie vermint wurde zum Schutz des "Guten Menschen von Köln" und seiner unter Denkmalschutz gestellten Biographie."

    Dies schrieb Linder bereits vor mehr als zehn Jahren in der Wochenzeitung "Die Zeit", als die Briefe aus dem Krieg an Bölls Frau Annemarie noch nicht zugänglich waren. Sie sind die Hauptquelle für den ersten der drei Teile der Biografie, den Linder mit dem Titel "Der Reisende" versieht. Die Reise führte den Soldaten Böll "im Alter zwischen zweiundzwanzig und fünfundzwanzig Jahren [...] in ein besonderes Exil – er desertierte ... nach innen: nach Hause." Ein Brief des Dichters an seine Frau, geschrieben am 20. Dezember 1940 in einer Kaserne in Lüdenscheid, interpretiert Linder als Schlüsseldokument zur Lösung des Rätsels Heinrich Böll.

    In diesem Brief an Annemarie entscheidet sich der junge Böll zu einem radikalen religiösen Weg: Sein Leben solle keinen anderen Sinn haben, als für Christus, für das Kreuz zu leben und zu arbeiten.

    "Ich will ganz nüchtern, ganz konkret versuchen", schreibt Böll, "mit Dir [...] ein neues Geschlecht zu gründen", das "gegen eine Umwelt von Dummköpfen [...] seine Kraft nutzen kann für eine christliche Kultur."

    Dieses im Krieg entstandene, in familiärer Geborgenheit und Hass auf die Kälte der Amtskirche gründende tief religiöse Sendungsbewusstsein hält Linder für die eigentliche, von Böll der Öffentlichkeit verheimlichte Triebfeder seines Schreibens. Er schätzt eine sich im Reinen wähnende Literatur überhaupt nicht. Linder hält Böll große europäische Kollegen entgegen:

    "Ein Kontrapunkt ist etwa Henrik Ibsen mit seiner Ansicht, Schreiben heiße Gerichtstag über sich selbst halten. Das hat Böll nie getan; er hat vielmehr Gerichtstag gehalten über die Welt und die anderen. Ihm stand auch nicht die intellektuelle Alternative Jean-Paul Sartres zur Verfügung, der in seinem Buch "Die Wörter" reflektiert und beschrieben hat, wie ihn die Programme seiner Kindheit und Jugend manipuliert haben. [...] Böll wäre nie auf den Gedanken gekommen, sich von der alten Welt, aus der er gekommen war, lösen zu wollen, sondern er hat seine alte Welt auf- und ausgebaut und zur Verteidigung dieser alten Welt, der Welt seiner Familie, hin und wieder sogar intellektuelle Überzeugungen aufgegeben."

    Man staunt, wie hart Linder mit Bölls Familienverbundenheit ins Gericht geht:

    "Die Kraft, brutal auch gegen sich selbst anzuschreiben (wie es zum Beispiel, bei aller Diskretion, ein anderer 'katholischer' Autor getan hat, Julien Green), besaß Böll nicht. Deshalb konnte er auch keine tabula rasa machen. Er blieb zeitlebens verdammt zur Treue gegenüber seiner Familie und vor allem gegenüber seiner Mutter."

    In seinen Erzählungen und Romanen thematisiere und beklage Böll vor allem die Bedrohung heiler Welten: "Geht man seine Bücher auf diesen Aspekt hin durch, erkennt man", schreibt Christian Linder, "dass Bölls politische Stellungnahmen vornehmlich veranlasst wurden durch Zerstörungen privaten Lebens". Exemplarisch in "Ansichten eines Clowns": die innige und heilige Verbundenheit eines nicht verheirateten Paares wird durch einen Vertreter der katholischen Amtskirche zerbrochen, in "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" wird das Privatleben einer unbescholtenen Frau durch die Schamlosigkeit einer brutal indiskreten Boulevardzeitung zerstört.

    Der Tod und die Beerdigung Heinrich Bölls stehen nicht, wie man erwarten könnte, am Ende, sondern in der Mitte, im Zentrum der Biografie. Die Recherchen Linders über die letzten Stunden des zutiefst depressiven Dichters und die Umstände seiner der Familie und der Amtskirche abgetrotzten kirchlichen Beisetzung sind beeindruckend. Hier kommt der Biograf dem so kritisch Porträtierten näher, vermutlich angeregt durch Gespräche mit dem Geistlichen, der Heinrich Böll auf seinem letzten Weg begleitet hat.

    Am Ende seiner großen und mutigen Biografie führt Linder den lebenden Böll auf den "toten Friedhof von Drove". Böll hat diesen Judenfriedhof in seiner Langenbroicher Nachbarschaft in seinen letzten Lebensjahren entdeckt, oft besucht und sich intensiv mit dem Schicksal der Toten und ihrer Familien beschäftigt, vor allem aber auch mit Eifelern über die Juden in Drove unterhalten. Linder interpretiert dies als eine Wende in Bölls Leben. Der auf das eigene Ich und seine Familie Fixierte habe endlich die Anderen entdeckt. Ein Jahr nach der Entdeckung des Friedhofs hielt Böll die Laudatio bei der Verleihung eines Preises an Rupert Neudeck. Nach der Dankrede Neudecks ergriff er noch einmal das Wort:

    "Ich möchte noch zwei, drei Sätze sagen, die ich vergessen habe: Es wird uns eingeredet, dass Mitleiden in den Bereich der Sentimentalität gehört. Das ist ein Lüge. Mitleiden ist eine ungeheure Kraft, eine große Energie, und auch eine schöpferische Fantasie gehört zum Mitleiden. Es kommen härtere Tage, hat vor Jahren einmal Ingeborg Bachmann gesagt. Ich habe den Eindruck, dass man uns einreden will, die Zeit der Humanität sei vorbei, die Zeit des Mitleidens sei vorbei. Harte Herzen brechen leichter als mitleidige Herzen, die eine große Kraft haben."

    Vielleicht hätte Linder ohne diese Wendung zum Leben auf dem toten Friedhof von Drove sein Böll-Buch nie geschrieben. Denn in der Nebeneinanderstellung der Nobelpreisträger Thomas Mann und Heinrich Böll, den "zwei geistigen Repräsentanten, die Deutschland im 20. Jahrhundert hervorgebracht" habe, steht für Linder bei Mann, wie der Biograf schreibt, "der Glanz des literarischen Werkes" im Vordergrund, während "Bölls Wirkung als Repräsentant eines anderen Deutschlands vor allem auf der Ausstrahlung seiner Person und weniger auf der Bedeutung seiner Literatur"/ beruht hätte. Erfolg und Wirkung des von Linder bevorzugten Frühwerks von Böll gründeten "hauptsächlich auf der Wahl seiner Stoffe", die allerdings heute kaum noch jemanden interessierten. Für die frühen 1950er-Jahre erinnert er - in einer Böll-Biografie fast eine Provokation - an den bislang "nicht ausreichend gewürdigten" Wolfgang Koeppen als "die vielleicht wichtigste literarische Stimme". Wir sollten Linders empfehlenswertes Buch zum Anlass nehmen, selbst sein Urteil kritisch zu überprüfen.

    Christian Linder: "Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils. Heinrich Böll. Eine Biographie". Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2009, 616 Seiten, 29,90 Euro.