Freitag, 19. April 2024

Archiv


Der gute Ton des Briefeschreibens

In Liwadija wollte ich über die Kunst des Briefschreibens nachdenken, ohne jedoch einen klassischen Briefroman zu schreiben, in dem es einen Briefwechsel zwischen den Personen gibt. Es handelt sich hier um den langen Entwurf eines Briefes, soviel zur Romanstruktur. Ansonsten geht es um die verschiedenen Überlebensstrategien und Auswege aus der Wirtschaftskrise nach dem Mauerfall. Der junge Protagonist hält sich mit Schmuggel über Wasser, führt ein Nomadendasein über mehrere Länder hinweg. Dabei trifft er eine Frau, die von der Prostitution lebt.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 21.12.2004
    Mit diesen Worten skizziert der kubanische Schriftsteller José Manuel Prieto seinen Roman " Liwadija", dessen Protagonisten J. und W. sind. J. ist der eingangs erwähnte Schmuggler, der Nach dem Motto "Maximum an Profit bei einem Minimum an Risiko" alles Mögliche verhökert: Nachtsichtgeräte aus Armeebeständen der ehemaligen Sowjetunion, Moschusdüfte, Mammutzähne, Tigerfelle, etc. Jetzt soll er dem steinreichen schwedischen Schmetterlingssammler Stockis auf der Krim den äußerst seltenen Nachtfalter Jasius besorgen.

    Das Unterfangen gestaltet sich schwieriger als vermutet, so dass sich J. mit Stockis
    in Istanbul treffen will. Treffpunkt ist das Saray, ein Nachtclub, in dem zahlreiche russische Frauen als Tänzerinnen und Prostituierte arbeiten. Darunter auch W., in die J. sich unmerklich verliebt. W. stammt aus einem russischen Dorf und war eigentlich in die türkische Hauptstadt gekommen, um als Eiskunstläuferin durch die Türkei zu touren, war dann aber im Saray gelandet, wo sie sklavenähnliche Arbeitsbedingungen hinnehmen muss. Sie möchte weg und bitte J., ihr bei der Flucht nach Russland behilflich zu sein. Dieser ist nur allzu gern bereit, als rettender Helfer zu agieren.

    Da der Reisepass und alle übrigen Dokumente von W. vom Nachtclubbesitzer konfisziert worden waren, müssen J. und W. als blinde Passagiere im Laderaum eines Schiffs versteckt nach Odessa fahren. Dort trennen sie sich, wollen sich jedoch in Liwadija wiedersehen. In diesem leicht heruntergekommenen Städtchen auf der Krim, wo dereinst Zar Nikolaus II. seine Sommerresidenz hatte, wartet J. vergebens auf seine Geliebte. Sie schreibt ihm noch ein paar wunderschöne Abschiedsbriefe, die er in sieben Entwürfen zu beantworten sucht. Soweit die Story, die zweifelsohne auch genug Stoff für einen spannenden Krimi oder rasanten Actionfilm hergeben würde. Doch genau das wollte José Manuel Prieto vermeiden. Zwar will auch er Zeitzeuge sein und kühl und präzis die Überlebensstrategien nach dem Zerfall der Sowjetunion schildern, allerdings ohne billige Effekthascherei, sondern in einem gemächlichen Erzähltempo, das ihm in der Distanz, Zweifel, Nachdenken und Selbsterkenntnis gestattet.

    Der Roman ist eine Reflektion über die Kunst des Briefschreibens. Nein, kein klassischer Briefroman wie "Die gefährlichen Liebschaften", in dem sich die Geschichte anhand des Briefwechsels von zwei Personen entwickelt. Hier ist es der lange Entwurf eines Briefes. Ich situiere mich in diesem Roman vor der Tradition aller Briefromane. Es gibt in diesem Roman keinen Brief, der einem Roman entnommen wäre. Es werden zwar viele Briefe zitiert, die entstammen jedoch den Korrespondenzen von Philosophen, etc. Mir ging es um die Art des Briefschreibens, auch darum, wie man zu mehr Aufrichtigkeit findet. Dabei legt der Protagonist großen Wert auf den Ton, in dem man dem anderen etwas mitteilen will und wenn dieser Partner in der Vorstellung ständig präsent ist.

    Im Lauf dieser Briefentwürfe gewinnt J. Distanz zu seiner rastlosen Schmugglerexistenz, in der er durch die Hauptstädte Nord- und Osteuropas hetzte. Des Öfteren stolpert er beim Schreiben über sein bisheriges Selbstverständnis als Mann, seinen Hang, sich als W.`s Retter aufzuspielen, Frauen bestimmten Kategorien zuzuordnen oder schlichtweg deren Wünsche und Bedürfnisse zu übergehen.

    Der Protagonist versteht schließlich, dass er ihr Verlangen überhaupt nicht verstanden hat. Sie ist davon ausgegangen, dass sie ihm etwas geschuldet hat, bis er ihre Gründe versteht und sie schließlich so akzeptiert wie sie ist: Ich liebe dich.

    José Manuel Prieto zählt zu den Autoren der hispanischen Welt, die sich als experimentierfreudige Grenzgänger und Nomaden zwischen den Sprachen und Kulturen bewegen und wachen Auges die komplexen Globalisierungsprozesse zu erfassen versuchen. Die Zuordnung zu einer bestimmten Nationalliteratur und ihrem Kanon wäre für Prieto viel zu eng und unzeitgemäß.

    Aus den heftigen Debatten wie sie seit Anfang der 90er Jahre zwischen Insel –und Exilschriftstellern über die Zukunft der Zuckerrohrinsel geführt werden, hat er sich herausgehalten und unbeirrt ein singuläres, international viel beachtetes Werk geschaffen.

    Die Schauplätze seiner Romanwelt liegen in Osteuropa und Russland; sprachliche
    Ausdrucksformen wie Brief und Kommentar oder Ordnungsprinzipien wie sie in Wörterbüchern oder Enzyklopädien üblich sind, werden als strukturierende Elemente in die Romane integriert. Kubanisch ist da höchstens noch die Art der Wahrnehmung der kulturellen und sozialen Unterschiede; und die macht er dann zum Ausgangspunkt seiner Beobachtungen und Reflektionen.

    Sein literarisches Werk sieht Prieto eher in der Linie eines Vladimir Nabokov, Joseph Conrad und all den anderen Schriftstellern, die sich hingezogen fühlten zu Welten fernab ihrer Heimat. José Manuel Prieto zufolge kann die zeitweilige Distanz zur Heimat nur bereichernd sein.

    Die Erfahrung in einem Land geboren zu werden und immer dort zu leben, wird für viele Leute immer seltener werden. Zahlreiche Menschen verlassen ihr Geburtsland, das wird immer selbstverständlicher. Die Frage der Nationalität mag für manche Schriftsteller ja von Belang sein, doch für mich nicht. Ich glaube, es tut jedem gut, im Rahmen seiner Möglichkeiten seine eigene Kultur einmal von außen zu betrachten. All das, was man von Kindesbeinen an gelernt hat. Und in diesem Lernprozess sollte man verlernen, der zu sein, den man zu sein wähnten, um sich besser von außen betrachten zu können.