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Der himmelblaue Speck

"Die Freiheit kommt und geht. Aber die Führer bleiben. Auf dich, mein wertvoller Freund!" Mit diesem Trinkspruch prostet Hitler dem Genossen Stalin zu, schmeißt das Glas über die Schulter und beginnt "zu fressen". Mit ihm die ganze Tischgesellschaft, die sich auf dem Obersalzberg versammelt hat, als da sind: Hitler und seine Getreuen und die Gäste aus Moskau: Stalin mit Frau und Kindern, mit Chruschtschow und einigen Vasallen. Sie saufen und fressen und bramabasieren über den Weltlauf.

Elsbeth Wolffheim |
    Solch ein verspielter Zynismus kann nur dem enfant terrible der russischen Literatur, dem 1955 geborenen Vladimir Sorokin, einfallen. Mit seinem jüngsten Roman 'Der himmelblaue Speck' hat er sich selbst übertroffen. Worum geht es? Unter anderem um eine Zeitreise aus dem zweiten Drittel des 21. Jahrhunderts zurück in das Jahr 1954, den Zeitpunkt des Festmahls auf dem Obersalzberg. Die beiden Diktatoren haben sich die Erde untertan gemacht, und jetzt geht es darum, wer von ihnen beiden übrig bleibt, d.h.wer von ihnen sich des himmelblauen Specks bemächtigt. Denn der hat es in sich. Die russische Delegation hat ihn in einem Köfferchen aus Moskau angeschleppt, weiß aber nicht so recht, was darin steckt. Gemeinsam mit den Deutschen müllern sie den Speck durch den Fleischwolf und füllen den Extrakt in drei Spritzen. Und nun geht das Gerangel um die Spritzen los. Dabei wird Hitler massakriert, Stalin ist Sieger. Er injiziert sich den Inhalt einer Ampulle, und schon schwillt sein Gehirn zu gigantischer Größe an und.bläht schließlich unser gesamtes Sonnensystem auf. Doch am Ende schrumpft es wieder zusammen. "Alles wird gut", kommentiert Stalin den Probelauf und lächelt vor sich hin.

    Der himmelblaue Speck ist ein Präparat, das Wissenschaftler in Sibirien aus den Klonen von Rußlands größten Schriftstellern gewonnen haben, also aus den Klonen von Tolstoj, Dostojewskij, Tschechow, Anna Achmatowa, Pasternak u.a.Was immer die sibirischen Forscher mit ihrem Experiment aushecken wollten, sie kommen nicht zum Zuge, denn so genannte Erdrammler, Männer mit gewaltigen Genitalien, haben den himmelblauen Speck geraubt und zu Stalin spediert, also zurück ins Moskau des 20. Jahrhunderts. Eine neue Geheimwaffe? Schön wärs! Doch das bleibt im Ungewissen. Denn die Klone sind deformiert. Da ist irgendetwas falsch gelaufen: Die Dichter-Duplikate, die sich im Verlauf des Experiments mit eigenen Texten, mit Prosaskizzen und Dramoletten, präsentieren dürfen, treffen immer haarscharf daneben. So etwa karikiert der Autor Dostojewskijs Neigung zu Endlos-Sätzen dadurch, daß er einzelne Wörter xmal wiederholt. Soll heißen: auch wenn der Dichter noch so langatmige Satzkaskaden aneinanderreiht, es steht doch bloß immer dasselbe darin. Solche und ähnliche Defekte unterlaufen auch den übrigen geklonten Dichtern, jeder Text ist eine Lachnummer für sich. Schon in früheren Romanen glänzte Sorokin mit seinem Talent zu hämischer Parodie, im 'Himmelblauen Speck' aber hat er ihm die Krone aufgesetzt.

    Aber warum werden ausgrechnet Dichter geklont, also so wörtlich, "Leute, die ihre Phantasien auf Papier schreiben"? Angeblich per Zufall. In Wahrheit jedoch, weil in Rußland Dichter nicht als Normalmenschen gelten, sondern irgendwie als höhere Wesen. Und nun entlarven sie sich als Quasselstrippen. Ihre Gegenspieler, die Herren Politikern nicht minder. Doch die werden überdies auch tätlich. Bei dem wilden Gelage schaffen sie schnell mal diesen und jenen aus ihrer Gefolgschaft beiseite, gleichmütig, als wenn sie lästige Fliegen zerquetschen. Und niemand protestiert.

    Derart frischweg erzählte Horrorszenen gibt es noch und noch in diesem verschachtelten Romangeflecht. Daneben aber auch einige Albernheiten. Sorokin hat einen infantilen Hang für brutale Sexorgien, und überdies wühlt er gern in Fäkalien. Diese "Phantasien auf Papier" nerven manchmal. Mich jedenfalls. Insgesamt aber ist der Einfall, einen science-fiction-plot nicht in die 'Lichte Zukunft', sondern in die blutrünstige Vergangenheit zu projizieren, einfach genial. Er entlarvt sie durch den fremden Blick auf die größten Desaster des 20. Jahrhunderts. Dass die Übersetzerin Dorothea Trottenberg die diversen Sprachebenen dieses geistreichen Erzählmonsters erstaunlich sensibel über- tragen hat, erhöht das Vergnügen an der Lektüre immens.