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Der Hirsch aus dem Reagenzglas

Biologie. - Eine Weltpremiere melden Genetiker des Nationalen Französischen Instituts für Agrarforschung: eine gewöhnliche Hirschkuh brachte als Leihmutter ein gesundes Kitz des verwandten Sika-Hirsches zur Welt. Damit sei ein wichtiger Schritt beim Erhalt bedrohter Arten gelungen.

Von Suzanne Krause | 23.10.2006
    Milous Existenz begann im Labor der INRA-Forschungsstelle für Zuchttiere, nahe Tours an der Loire gelegen. Ein wenig romantisches Umfeld. Der kleine Raum ist vollgestellt: linker Hand ein voluminöser Inkubator, rechter Hand zwei Arbeitsplätze unter enormen Absaughauben, die für sterile Luft sorgen. Doktorandin Barbara Schmalz sitzt dort vor dem Mikroskop, mehrere gefüllte Petrischalen neben sich:

    "Ich untersuche, unter welchen Bedingungen Embryonen sich in vitro am besten entwickeln, zur lebensfähiger Reife gebracht werden können, bevor sie dann einem Muttertier eingepflanzt werden. Ich habe hier verschiedene Kulturen vor mir, die ich miteinander vergleiche. Ziel dabei ist es, herauszufinden, welche Interaktionen es gibt zwischen dem Embryo und seinem natürlichen Umfeld. "

    Die erste Aufgabe bei der Arten überspringenden Embryoverpflanzung bestand darin, eine geeignete Leihmutter für das Sika-Junge zu finden, erläutert Yann Locatelli, Leiter der Forschungsgruppe am staatlichen Museum für Naturgeschichte:

    "Zur Familie der Hirsche gehören 37 Gattungen, 40 Arten und mehr als 200 Unterarten. Selbst wenn es morphologisch große Unterschiede zwischen den einzelnen Arten gibt, so ist es doch möglich, Arten zu finden, die hinsichtlich des Ablaufs und der Dauer der Trächtigkeit und auch der instinktiven Annahme des Jungtiers miteinander kompatibel sind. Die also den Embryonen-Transfer der einen Art auf die Hirschkuh einer anderen Art ermöglicht. "

    Bei der Leihmutter handelt es sich um eine europäische Hirschkuh, die das erste Mal trächtig war - so fiel ihr nicht auf, dass ihr Junges wesentlich kleiner und schmächtiger war als Kälber ihrer Art. Milous biologische Eltern sind ein Sika-Hirschpaar, das halbwild im Naturpark in Mittelfrankreich lebt. Dem Premierenkind gingen sechs Jahre Grundlagenforschung, zwei Doktorarbeiten voraus: die erste beschäftigte sich mit der In-vitro-Befruchtung bei Hirschen, die zweite brachte eine Technik für die In-vitro-Entwicklung von Hirsch-Embryonen auf den Punkt. Denn der Hirschkuh wurde eine unreife Eizelle entnommen, die In-vitro eine Reifebehandlung erhielt. Auch die Befruchtung mit dem Sika-Hirschsamen erfolgte In-vitro, berichtet INRA-Forscher Pascal Mermillod:

    "Der daraus entstehende Embryo wurde eine Woche lang im Reagenzglas gezüchtet, bis er dann in das Muttertier verpflanzt wurde. Es ist ebenfalls möglich, den Embryo in diesem Entwicklungsstadium einzufrieren und somit für unbefristete Zeit aufzubewahren."

    Insgesamt acht europäische Hirschkühe wurden solchermaßen zu Leihmüttern. Doch nur ein Embryon entwickelte sich zu einem quicklebendigen Jungtier. Ein erster Sieg für die Forscher. Diese japanischen Vierfüßler sind zwar nicht vom Aussterben bedroht, aber sie dienen als Testgruppe: sie sind genetisch eng verwandt mit anderen, sehr gefährdeten Hirsch-Arten, resümiert Pascal Mermillod:

    "Wir werden nun daran arbeiten, die Bedingungen für die embryonale Entwicklung In-vitro zu verbessern, um eine höhere Erfolgsquote zu erzielen. Erst dann werden wir diese Technik bei der eigentlichen Zielgruppe, bei vom Aussterben bedrohten Hirsch-Arten, anwenden. "

    Das Nahziel für die Wissenschaftler ist, die Bestände gefährdeter Arten zu vergrößern. Das Fernziel, diese Tiere wieder in freier Wildbahn aussetzen zu können, hängt jedoch unmittelbar davon ab, ob die natürlichen Lebensräume der Hirsche erhalten und wieder vergrößert werden können. Doch denkbar ist, dass die Grundlagenforschung betreffs der In-vitro-Reifung von Embryonen übertragen werden könnte auf den Menschen. Könnten auch unreife Eizellen als Basismaterial zur künstlichen Befruchtung entnommen werden, würde das Frauen mit Kinderwunsch sehr belastende Hormonbehandlungen ersparen.