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Der Internist als Hermeneut

Lesearten von Büchern gibt es viele, aber die Leseart des Leitenden Landesmedizinaldirektors a.D., Dr.med. Horst Gravenkamp, ist eine ziemlich exklusive. Der ausgebildete Internist und ehemalige Gutachter nimmt sich seiner literarischen Heroen mit dem Blick des Diagnostikers an. 1989 legte er eine hochinteressante Studie zum Verhältnis von Hypochondrie und somatischen Leiden bei Georg Christoph Lichtenberg vor. Nun, sechzehn Jahre später, hat er Theodor Fontanes literarisches und autobiographisches Werk auf Hinweise zu dessen Gesundheitszustand durchforstet.

Von Florian Felix Weyh | 06.05.2004
    Warum Fontane? Er ist in vielfacher Hinsicht ein dankbares Objekt: manischer Brief- und Tagebuchschreiber, akribischer Selbstbeobachter, durch die Apothekerlehre zugleich medizinisch vorgebildet, aber ein Mann der biedermeierlichen Medizin geblieben, der noch der antiken Vier-Temperamente-Lehre anhing und relativ wenig von den medizinischen Umbrüchen seiner Zeit mitbekam. Vor allem aber gilt uns an der Schwelle zur überalterten Gesellschaft stehend Theodor Fontane als leuchtendes Beispiel einer kraftvoll-schöpferischen Existenz bis ins hohe Alter hinein.

    Fontane selbst sah das anders. Schon zum 60. Geburtstag überfielen ihn Anwandlungen von Nutzlosigkeit, das Gefühl, ein gebrechlicher Mann geworden zu sein. Eine Einschätzung, die sich von da an regelmäßig wiederholte. Seine Selbstwahrnehmung weicht dabei krass von der heutigen medizinischen Beurteilung ab. Wenn Fontane als Siebzigjähriger klagt, nicht mehr schnell genug die Treppe hoch zu kommen und bloß mehrstündige – statt ganztägige – Wanderungen durch die Mark Brandenburg unternehmen zu können, dann attestiert ihm Horst Gravenkamp "außerordentlich günstige Ergebnisse" in seiner Altersgruppe. Intuitiv scheint der Dichter dies sehr wohl gewusst zu haben, denn seine steif gewordenen Generationsgenossen nannte er spöttisch "Rückenmärker" und zählte sich durchaus nicht zu ihnen.

    Doch Fontanes Gebresten – ewige Klagen über Krankheit und totale Arbeitsunfähigkeit – lagen auch nicht auf rein somatischem Gebiet. Horst Gravenkamp rekonstruiert, von der längsten Lebens- und Schaffenskrise im Jahre 1892 ausgehend, eine endogene Depression. "Endogen" heißt, dass es nicht an mangelnder Willenskraft gelegen hat, wenn Fontane das dunkle Seelental monatelang nicht verlassen konnte, sondern an bis heute nicht ganz verstandenen körperlichen Ursachen. Für die Medizin seiner Zeit war dies ein Buch mit sieben Siegeln, es gab falsche Schuldzuweisungen bei gleichzeitig unwirksamen Therapien.

    Fontane hatte Glück im Unglück, widersetzte sich manch ärztlichem Rat und merkte instinktiv, dass die oft verordnete Ruhe kontra indiziert war, weil sie die Verzweiflungsschleifen der Depression noch vertiefte. Zusätzlich zu den inneren Leiden litten die Kranken an mangelndem Sozialprestige. Ihre Krankheit wurde als Simulantentum bewertet, wie der Titel gebende Ausspruch eines Arztes andeutet: "Um zu sterben, muss sich Herr F. erst eine andere Krankheit anschaffen." In der Fremdwahrnehmung, nämlich im Falle seiner ebenfalls depressiven Tochter Mette, hat es Fontane freilich ähnlich gesehen.

    Eine verzweifelte Liebesgeschichte kommentiert er sarkastisch: "Wo dergleichen vorkommt, da fehlt entweder eine Schraube oder sie ist an bestimmter Stelle überschraubt." Gestorben ist der Dichter wirklich an einer anderen Krankheit, freilich nicht an jener, die er zeitlebens mit Verve bekämpfte: Kein Tag, scheint es, an dem Theodor Fontane nicht erkältet gewesen wäre. Zugluft als biographisches Dauerthema, und der riesige Schal, der das ganze Gesicht vermummte, macht Fontane nicht nur im feuchtkalten London, sondern auch in Berlin zum Gespött der Passanten.

    Die schließlich letale Herzkrankheit findet dagegen kaum Erwähnung. Als Erklärung greift Horst Gravenkamp auf den Demutsbegriff des 19. Jahrhunderts zurück, in dem die Medizin gegen Koronarerkrankungen nichts tun konnte: "Es gibt so vieles", schrieb Fontane an seine Tochter, "dem wir machtlos gegenüber stehen und dies, wenn es das Schrecklichste wäre, muss mit möglichst guter Manier getragen werden." So starb der greise Dichter im September 1898 manierlich am unausweichlichen Herzstillstand – und nicht an einem Schnupfen.

    Horst Gravenkamp
    Um zu sterben muss sich Herr
    F. erst eine andere Krankheit anschaffen

    Wallstein Verlag, 143 S., EUR 16,–