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Der jüdische Oskar Schindler

Er rettete mehr als 1.600 jüdische Männer, Frauen und Kinder vor den Nazis und wird deshalb auch "ungarischer Oskar Schindler" genannt. Einer, der Kasztner sein Leben verdankt, ist Ladislaus Löb. Er hat die Geschichte Kasztners während und nach dem Zweiten Weltkrieg erforscht und verknüpft sie mit seinen eigenen Erlebnissen von damals.

Von Wiebke Lehnhoff | 01.11.2010
    "Die Mörder kamen spät und hatten es eilig. Im fünften Jahr des Zweiten Weltkriegs gab es in den Ländern unter deutscher Herrschaft keine Juden mehr. Die ungarischen Juden lebten noch dank dem Bündnis mit Deutschland, das Ungarn eine gewisse Handlungsfreiheit gewährte. Aber jetzt, in den letzten Monaten des untergehenden Dritten Reichs, stand uns die schnellste und brutalste Operation des Holocaust bevor."

    An diesen Sätzen zu Beginn des Buches wird deutlich: Hier schreibt ein Autor, der selbst betroffen ist von den Ereignissen. Gleichzeitig bemüht sich der emeritierte Germanistik-Professor Ladislaus Löb darum, eindringlich, aber möglichst objektiv zu berichten: vom aufkommenden Judenhass in Ungarn damals, von der Deportation ins örtliche Ghetto, von der Flucht mit seinem Vater und schließlich von der glücklichen Fügung, die beide in die Kasztner-Gruppe brachte. Also die große Gruppe Juden, die Rezsö Kasztner – selbst Jude - in Verhandlungen und Geschäften mit den Nazis vor dem Holocaust retten konnte. Löb beschreibt die Recherche für das Buch:

    "Traumatisch war es nicht. Es war eher das Problem: Wie weit konnte ich meinen eigenen Erinnerungen trauen? Und wie weit gingen die Erinnerungen überhaupt? Ich war ja elf Jahre alt, ich hab ziemlich viele Erinnerungen gehabt, aber so Fragmente. Und da hat dann wieder wissenschaftliche Arbeit angefangen, und ich habe ziemlich viel Material gefunden, also Zeitzeugnisse: Interviews mit Leidensgenossen, ich habe mit einigen selbst gesprochen. Und mit diesem Material konnte ich dann meine eigenen Erinnerungen ergänzen, und sehr oft, zu meiner Freude, bestätigen – manchmal natürlich auch entdeckt, dass meine Erinnerungen falsch waren."

    Löb behandelt in seinem Buch ein Kapitel des Zweiten Weltkriegs und der jüdischen Geschichte, das in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt ist. - 1944 ist Ungarn von den Nazis besetzt und SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann sorgt auch hier für eine reibungslose Deportation der Juden in die Vernichtungslager. Doch weil Deutschland den Krieg zu verlieren droht, zeigen Eichmann und sein Vorgesetzter Himmler sich zu Verhandlungen mit jüdischen Unterhändlern bereit. Sie fordern Lastwagen, andere Waren und Geld und bieten dafür Leben und sichere Ausreise für eine Million Juden.

    Durch verschiedene Ereignisse wird der jüdische Aktivist Rezsö Kasztner zum Hauptwortführer. Monatelang versucht er, in zähen Verhandlungen so viele Menschen wie möglich zu retten. Dabei muss er reichlich bluffen und taktieren, denn eigentlich ist er weder in einer Verhandlungsposition, noch hat er genügend Geld für dieses lebenswichtige Geschäft. Schließlich kann er immerhin mehr als 1.600 Menschen retten - mehr als Oskar Schindler und jeder andere. Aber anstatt Kasztner nach dem Krieg zu feiern, wird er von den Juden im heutigen Israel beschuldigt, mit den Nazis kollaboriert zu haben. Hass schlägt ihm entgegen, schließlich wird er 1957 in Tel Aviv auf offener Straße erschossen. Bis heute sind die Umstände nicht aufgeklärt worden.

    "Es ist grotesk eigentlich, dass Schindler, der Ex-Nazi – das war er ja - verherrlicht wird, während der Jude Kasztner, der fast das gleiche, aber auf noch viel größerem Maßstab, gemacht hat, buchstäblich von Juden umgebracht wird. Ich finde das ist eine unendliche Ironie dabei. - Es hat etwas mit dem berühmten jüdischen Selbsthass zu tun, es hat etwas damit zu tun, wahrscheinlich, dass man von seinen eigenen Leuten etwas Besseres erwartet, und man enttäuscht ist, dass sie nicht so wunderbar sind, wie man’s wollte."

    Vom Vorwurf der Kollaboration wurde Kasztner nach seinem Tod freigesprochen, aber seine Person ist in Israel nach wie vor heftig umstritten. Dort war auch kein Verlag an der Veröffentlichung von Löbs Buch interessiert. - Die Anschuldigung, Kasztner habe die geretteten Juden persönlich ausgewählt und dabei Freunde bevorzugt, kann Ladislaus Löb entkräften. Durch detaillierte Quellenarbeit belegt er, dass die Zusammensetzung der Kasztner-Gruppe durch ganz unterschiedliche Faktoren beeinflusst wurde.

    Nicht nur die Zahl der Quellen, die Löb zusammengetragen hat, ist beachtlich. Völlig neu in der bisherigen Dokumentation dieser Geschichte ist seine ausführliche Beschreibung des Aufenthalts im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Denn dort musste die Gruppe fünf Monate lang auf ihre Ausreise in die rettende Schweiz warten. Zwar mussten ihre Mitglieder keine Zwangsarbeit leisten und hatten auch andere Freiheiten – richtig gut erging es ihnen aber nicht. Löb gibt überraschende Einblicke in das Alltagsleben im Lager:

    Nach langen und heftigen Debatten wurde eine imposante "Lagerordnung" verabschiedet. Sie bestand aus 25 in pedantischer Amtssprache verfassten Paragrafen, die sechs eng getippte Seiten befüllten und auch unsere "Verfassung" genannt wurden. Die wichtigsten Bestimmungen waren die folgenden: Das Lager wird grundsätzlich im "jüdischen Nationalgeist" - das heißt zionistisch – geführt. Die Führung wird in geheimer Abstimmung gewählt. Zehn Unterausschüsse sind für alle Aspekte unseres Lebens verantwortlich: zentrale und innere Verwaltung, Ruhe und Ordnung, Wirtschaft, Ernährung, Gesundheit, Erziehung, Religion und Wohlergehen.

    Der Erzähler Löb springt mit den Kapiteln zwischen seinen Erlebnissen und den Verhandlungen Kasztners hin und her. Das führt bei den teils komplexen Zusammenhängen dazu, dass der Leser vor- oder zurückblättern muss, um das Geschehen besser zu verstehen. Insgesamt ist das Werk aber so geschrieben, dass auch interessierte Nicht-Historiker gut folgen können. - Das letzte Drittel des Buches widmet sich dann ganz dem Schicksal Kasztners nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei spielt auch die Entstehungsgeschichte des Staates Israel eine Rolle, dessen Regierung sich unter anderem aus der Palästina-Vertretung der Juden bildete, der Jewish Agency. Kasztner war ebenfalls am Aufbau beteiligt, und zwar als Mitglied der damals starken sozialdemokratischen Mapai-Partei. - Die Feindseligkeiten gegen sich führte er auch zurück auf die unterschiedlichen Erlebniswelten der Juden, die während des Holocaust in Europa waren und denen, die sicher in Palästina lebten.

    Ben Gurion und Sharett seien zu stark mit der Erschaffung des Staates Israel beschäftigt gewesen, um an die Rettung der Juden in Europa zu denken, und andere Mitglieder der Jewish Agency hätten die Überlebenden zuerst ignoriert und dann vorsätzlich für ihre innenpolitischen Ziele eingesetzt. Bereits vor der Gründung des jüdischen Staates hatte Kasztner eine Dichotomie erkannt, die zu einem der tiefsten Risse in der israelischen Gesellschaft und einem entscheidenden Faktor in seiner eigenen Tragödie werden sollten.

    Natürlich ist Ladislaus Löb voreingenommen für Kasztner – schließlich verdankt er ihm sein Leben. Dennoch versucht er nicht, ihn als übermäßig sympathischen Helden darzustellen. In dem Buch "Geschäfte mit dem Teufel" beschreibt er ebenso widersprüchliche oder unverständliche Handlungen Kasztners, der sich auch deshalb Feinde machte, weil er eingebildet, ehrgeizig und verschlagen war. Charakterzüge, die ihn unter normalen Umständen nicht ausgezeichnet hätten, die ihm aber in den Verhandlungen mit den Nazis halfen, Menschenleben zu retten.

    Ladislaus Löb: Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezsö Kasztner. Bericht eines Überlebenden
    Böhlau Verlag
    277 Seiten kosten 24,90 Euro