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Der Kahuna-Modus

Es war doch immer das Gleiche: gerade hatte man sich in den Kinderbüchern mit den Kobolden, den Hexen und den Feen angefreundet, da verschwanden sie schon wieder und meistens sogar, ohne sich zu verabschieden. Man konnte dann sicher sein, dass sie in die geheime Zauberwelt, aus der sie gerade ausgebrochen, still und leise wieder zurückgekehrt waren. Zum Trost endeten die Bücher dann mit Sätzen, wie, dass man, wenn man nun zum Himmel schaue, einen kleinen Stern sehe, der für einen allein dort leuchte und an den verschollenen Freund erinnere. Aber eigentlich hatte die Kinderseele eins längst verstanden: Man solle sich bloß keine Hoffnungen machen, diesen Fabelwesen im wirklichen Leben noch einmal zu begegnen. --Dass das auch besser so war, weiß man nach der Lektüre des Romans der kahuna modus von Nika Bertram. Denn dieses gut dreihundertseitige Buch, das die Autorin in einer Mischung aus Hochliteratur, Science-fiction und Horror selbst dem "Genre-Fucking" zurechnet, zeigt auf anschauliche Weise, dass es in der Realität nichts bringt, sich zu innig mit phantastischen Wesen einzulassen. Die Protagonistin Nadine Basnier ist Halbfranzösin und Comiczeichnerin, und ihre Freunde bezeichnen sie als Künstlerin, der man so manchen Spleen durchgehen lässt. Nun wird Nadine von einer unsichtbaren Macht gezwungen, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben. Dazu wird sie streng bewacht in eine Kammer eingeschlossen, in der sie sich ausschließlich von der in der Luft befindlichen Milch ernähren kann. Nadines Hauptfigur, sie selbst also, hat das Problem, dass sie nicht wie andere Frauen einmal im Monat menstruiert, sondern bei Vollmond transformiert.

Jana Hensel |
    Während dieser Transformationen verwandelt sie sich für einige Zeit in alles mögliche. Das erste Mal noch sehr harmlos in einen Mann. Später schon in eine Ratte, eine Spinne, in ein blutsaugendes, fleischfressendes Ungeheuer und in andere Abscheulichkeiten. Dabei ist sie stets verführt, Nachwuchs zu zeugen. So schwängert sie in ihrer Phase als Mann ihre Freundin Susan, mit der sie eigentlich in einer lesbischen Beziehung lebt oder bringt als Rättin mitten in der schönsten Kanalisation drei Rattenkinder zur Welt.

    Der Roman ist, das sei vorweggenommen, äußerst ereignisreich. Schnell kann es passieren, dass die gesamte Geschichte auf nur einer einzigen Buchseite umgeworfen oder der Text in eine andere Richtung getrieben wird. Nika Bertram verlangt vom Leser nicht nur einen beinah detektivischen Leseinstinkt sondern auch eine ganze Menge Konzentration.

    Nachdem die Rücktransformation von der Ratte zum Menschen abgeschlossen ist und Nadine wieder nach Hause zurückkehrt, muss sie feststellen, dass ihr Bruder inzwischen mit ihrer Freundin Susan das Bett teilt. Das ist insofern problematisch, als die Geschwister auf eine lange Feindschaft zurückschauen, die im Kampf um die Liebe ihrer Eltern begann. Doch auch die Alten waren immer ein bisschen sonderbar gewesen: der Vater hatte sich nach Jahren depressiver Grübelei im Keller erhängt und die Mutter, eine etwas unterbelichtete Frau, die in ihrer Jugend ganz gut ausgesehen haben musste, hatte die Kinder seinerzeit unter einer hohen Dosis Kokain zur Welt gebracht.

    Doch hier ist das Spiel zwischen Realität und Fiktion noch lange nicht zu Ende. Eine Binnenstory jagt die nächste: Während sich Nadine noch immer ununterbrochen verwandelt, taucht plötzlich eine mysteriöse Frau namens Nick Raven auf, die Nadine erklärt, dass sie lediglich die Hauptfigur in einem Drehbuch sei, das sie selber gar nicht schreibe und bietet ihr eine Vertragsverlängerung an. Unterdessen sind die drei Rattenkinder scheinbar über Nacht erwachsen geworden und machen sich daran, ihre Mutter zu verfolgen. Sie haben ihr nie verziehen, dass sie sie verlassen hatte und zurück zu den Menschen gegangen war. Sie nehmen Nadine gefangen und verüben auf Susan ein Attentat, das sie jedoch überlebt.

    Schließlich stellt sich nach erschöpfenden dreihundert Seiten, in denen noch eine ganze Menge mehr passierte, heraus, dass einst Nadines Vater war seine Seele an einen mysteriösen Nick Raven verkaufte und hoffte, dem Bösen wieder zu entkommen, wenn er ihnen seine Tochter überließ. Aus Nadine wurde durch diesen Deal ein Zwitterwesen: halb Mensch, halb Phantasiewesen.

    Es ist jedoch zweifelhaft, ob viele Leser bis zu dieser Auflösung der Geschichte durchdringen, denn Nika Bertram treibt das Spiel zwischen Fiktion und Realität entschieden zu weit. Sie ist so sehr um die geheimnisvolle Aufladung jeder Situation bemüht, dass keine der Figuren sein darf, wie sie ist. Hinter jeder muss sich noch ein anderes, non-reales Gesicht verbergen, das nach Aufdeckung ruft. Nadines Bruder beispielsweise entpuppt sich als fanatischer Bastler, der in seinem Labor an der virtuellen Erschaffung des Menschen arbeitet und bei einem gescheiterten Wiederbelebungsversuch Teile seiner Schwester auf hunderte Server im Netz verteilt. Oder Nadine selbst, die gegen Ende des Buches gesteht, eigentlich ein Mann zu sein und Antoine zu heißen. Warum aber, fragt man sich, transformiert sie von einem Mann zu einer Frau zu einem Mann? Nika Bertram hält die Fäden ihres Romans zusammen, das ist gar keine Frage. Nur muss eben auch der Leser einen Überblick über den Text behalten, und es scheint sehr, als könnte sich die Autorin gegenüber ihres Materials nicht entscheiden. Sonst hätte sie sicherlich auf die eine oder andere Binnengeschichte verzichtet.

    Der Haupteinwand gegen diese Form des Surrealismus ist immer schon, dass er auf ein zu simples Austauschprinzip setzt und mit fortschreitender Romandauer ermüdet. Hier wird lediglich Fiktion gegen Wirklichkeit ausgetauscht, ohne dass sich die Sphären gegenseitig beeinflussen oder nachhaltig in Verunsicherung bringen würden.

    So sinkt man nach der Lektüre erschöpft zusammen und stellt sich die Frage, wie sie denn nun aussahen die Menschen, denen man gerade lesend durchs Leben gefolgt ist und man muss ratlos die Schultern heben und zugeben, dass man keine Ahnung hat. Es gelingt einfach nicht, für Nika Bertrams Figuren Bilder im Kopf zu entwerfen. Sie bleiben, abgesehen von ihren phantastischen Attributen, äußerst statisch und ähneln Pappkameraden.

    Doch schließlich verschwanden die phantastischen Freunde in den Kinderbüchern auch einfach so, ohne Spuren zu hinterlassen, und es blieb nur der einsame Stern am Himmel. An Nadine und ihre Transformationen aber wird wohl nicht mal er uns erinnern.