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Der Kampf um die Vergangenheit

Unter ihren schwarzen Talaren waren wenig weiße Westen: Die Rede ist von ehemaligen Wehrmachtjuristen, die auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Bundesrepublik wieder Recht sprechen durften. Zwar verurteilten die Alliierten eine Handvoll Juristen, doch viele wurden nie behelligt.

Von Dörte Hinrichs und Hans Rubinich | 22.04.2010
    Es waren Rechtswissenschaftler, Juristen und Historiker, die in Hannover zusammengekommen waren, um ein Kapitel deutscher Geschichte zu erhellen, dass lange Zeit im Dunklen lag: die Taten der Militärjuristen und ihre Nachkriegskarrieren. Zwar hatte Wolfgang Staudte schon in den 50er-Jahren den Film gedreht "Die Mörder sind unter uns", doch gedacht war dabei in erster Linie an die Täter in den Vernichtungslagern. Der Freiburger Historiker Prof. Wolfram Wette:

    "Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, dass damit auch Wehrmachtjuristen gemeint sein könnten, sondern die Geschichte lief so weiter, dass die Wehrmachtjuristen sich genauso ein schönes Bild von sich selbst gezeichnet haben, wie das die ehemaligen Wehrmachtgeneräle insgesamt getan haben. Dann allmählich begannen Forschungen, angestoßen durch keinen geringeren als einen gewissen Hans Karl Filbinger, über die Opfer dieser Justiz."

    Bei dem Symposium zogen die Wissenschaftler eine erste Zwischenbilanz: Was existiert überhaupt an Forschung über dieses Thema in unserer Republik? Und was wurde bislang noch gar nicht untersucht?

    "Zum Beispiel ist uns noch nicht sonderlich klar, wie viele ehemalige Militärrichter es waren, die in der Bundesrepublik Deutschland zu neuer Wirkung gelangt sind; sei es als Professoren an den Universitäten, sei es in hohen Richterstellungen bis hinauf zu den Bundesgerichten. Sei es auf rechtspolitischer Hinsicht, dass sie auf die Gesetzgebung ihre Wirkung entfaltet haben. Wir haben noch keine Mentalitätsstudien über Wehrmachtrichter. Und wir haben auch noch zu wenig Mentalitätsstudien über die Opfer der Wehrmachtjustiz."

    Einer, der schon als junger Richter mit den Geschichten von Opfern und mit Vertretern der Wehrmachtjustiz in Berührung gekommen ist, ist Helmut Kramer. Aus Anlass seines 80. Geburtstages wurde das Symposium in Hannover initiiert. Der ehemalige Richter am Braunschweiger Oberlandesgericht und Mitbegründer des Forums Justizgeschichte erinnert sich an ein Schlüsselerlebnis aus dem Jahr 1965: Damals klagte die Mutter von Erna Wazinski auf Schadensersatz, da ihre Tochter wegen angeblicher Plünderung zum Tode verurteilt worden war.

    "Ich hatte mich mit dem Fall eines im Jahre 1944 hingerichteten 19-jährigen Mädchens auseinanderzusetzen. Und habe mich für die Rehabilitierung dieses Mädchens eingesetzt. Da herrschte große Empörung unter meinen Kollegen. Und dann hat der Braunschweiger Strafsenat und dessen Vorsitzender, das war einer der höchsten Wehrmachtjuristen gewesen, ein Dr. Hans Meier Branecke, übrigens habe ich viel später erfahren, dass er für viele Hunderte Todesurteile verantwortlich war … Und der hat sich dann ganz vehement gegen die Rehabilitierung ausgesprochen. Jahre später, 1980, habe ich diesen Fall und andere Fälle in Braunschweig in einer großen Veranstaltung zur Sprache gebracht. Da erschienen solche Richter selbst und haben sich verteidigt. Und zwar mit großem Hochmut. Selbst damals 1980, da wehrten sich nicht nur diese Richter dagegen, sondern eben auch meine übrigen Kollegen reagierten mit großem Unwillen darauf."

    Zwar wusste man schon in den frühen Nachkriegsjahren von belasteten Richtern. Doch dies wurde als Randphänomen wahrgenommen. Nur die Richter an den Sondergerichten oder am Volksgerichtshof wurden mit dem Naziunrecht in Verbindung gebracht. Ausgeblendet blieben lange Zeit auch die Taten der SS-Richter.

    Etwas bekannter ist dagegen schon der Fall des Militärrechtsexperten Dr. Erich Schwinge. Maßgeblich hatte er am Strafgesetzbuch mitgewirkt und bereits in der Vorkriegszeit das besondere Ausnahmerecht im Kriegsfall juristisch ausgearbeitet. Schwinge vertrat eine drakonische Abschreckungsjustiz. Widerstand beziehungsweise Wehrkraftzersetzung sollte schon im Keim erstickt werden, um die Schlagkraft der Wehrmacht zu wahren. Eine Haltung, die seiner Karriere auch nach dem Krieg keinen Abbruch tat - im Gegenteil:

    "Dieser führende Vertreter des Wehrmachtrechts hat nach 1945 als Hochschullehrer in Marburg gewirkt. Er galt als entlastet durch die Entnazifizierung. Er stand dann als Verteidiger Wehrmachtsoffizieren und SS-Offizieren bei, denen durch die Alliierten Kriegsverbrechen vorgeworfen wurden. Aber er hat darüber hinaus einen ganz wesentlichen Beitrag zur Selbstrechtfertigung der Wehrmachtjustiz geliefert mit vielen Aufsätzen","

    … so Detlef Garbe, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Erst die Veröffentlichungen von Fritz Wüllner und Manfred Messerschmidt Ende der 80er-Jahre revidierten das von Erich Schwinge verbreitete Bild über die Wehrmachtjustiz. Die beiden Historiker zerstörten die Legende von der sauberen Wehrmacht und den ebenso sauberen Militärjuristen.

    ""Als das erschien, hat dann Schwinge hochbetagt, im hohen Alter mit einer Reihe von politischen Streitschriften versucht, sein Lebenswerk und das ehemaliger Wehrmachtrichter zu wahren. Er hat in einer Art, die einen tief erschrecken lässt, die Todesstrafenpraxis beispielsweise verteidigt, indem er gesagt hat: Schließlich haben diese 12.000 Todesurteile - er hat eine niedrigere Zahl genannt, als heute von der Forschung angenommen wird und nachgewiesen ist -, diese 12.000 Todesurteile hätten schließlich dazu beigetragen, dass Europa vor der bolschewistischen Gefahr gerettet werden konnte."

    Von Schuldbewusstsein keine Spur, nicht beim Schreibtischtäter Erich Schwinge, nicht bei vielen NS-Militärrichtern. Doch das öffentliche Bewusstsein wandelte sich langsam. Die NS-Militärjustiz erschien nun in einem anderen, in einem sehr zweifelhaften Licht. Doch jene, die bei Hitlers Krieg nicht mehr mitmachen wollten, die sogenannten Wehrkraftzersetzer und Deserteure galten weiter als vorbestraft. Erst 2002 rehabilitierte sie der Deutsche Bundestag und hob die Urteile gegen sie auf. Einer der wenigen, der dies noch erleben durfte, ist der Wehrmachtdeserteur Ludwig Baumann.

    "An uns ist ja die blutigste deutsche juristische Verfolgung der deutschen Geschichte begangen worden. Über 30.000 Todesurteile, mehr als 20.000 Hinrichtungen. Und mehr als 100.000, die KZ-Straflager, Strafbataillonen nicht überlebt haben. Und wir haben nach dem Krieg gehofft, dass unsere Handlungen anerkannt werden. Aber wir sind dann nur als Feiglinge, Kriminelle, Vorbestrafte, Verräter beschimpft, bedroht worden, wenn wir uns genannt haben. Und ich habe es getan."

    Der 88-jährige Ludwig Baumann ist der vermutlich einzige noch lebende Wehrmachtdeserteur. Seine bewegende Rede auf dem Symposium in Hannover zählte zu den beeindruckendsten Momenten. Seinem Engagement und dem einiger beharrlicher Wissenschaftler ist es zu verdanken, dass der Kampf um die Vergangenheit auch in der Gegenwart noch Forscher beschäftigt - wie nicht zuletzt den Freiburger Historiker Professor Wolfram Wette.

    "Wir sind jetzt derzeit soweit, dass die Opferrehabilitierung vorläufig abgeschlossen scheint. Und nun werden wir verstärkt unseren Blick auf diejenigen richten, die sich bisher immer noch weitgehend im Hintergrund halten konnten, aber jetzt doch in unseren Fokus geraten, nämlich die Militärrichter. Denn nicht ein einziger Wehrmachtrichter ist vor ein bundesdeutsches Gericht gestellt worden und bestraft worden. Alle gingen straffrei aus. Selbstfreispruch der Wehrmachtjustiz. Ja, mehr noch: Auch ein historischer Selbstfreispruch sollte erreicht werden. Aber da werden wir aufpassen, dass das nicht geschieht."