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Der Kaukasuskonflikt als politische Dauerkrise: Schrecken ohne Ende?

Tschetschenien ist Russlands schmerzender Punkt, die offene Flanke, das Unglück, die schwärende Wunde, die Tragödie, Katastrophe, das komplizierte Problem. Mittlerweile gibt es zahllose Bezeichnungen für den nichtendenwollenden Konflikt im Kaukasus, der vor dem Geiseldrama in Moskau fast in Vergessenheit geraten war. Zumindest im Ausland.

Sabine Adler |
    Tschetschenien ist Russlands schmerzender Punkt, die offene Flanke, das Unglück, die schwärende Wunde, die Tragödie, Katastrophe, das komplizierte Problem. Mittlerweile gibt es zahllose Bezeichnungen für den nichtendenwollenden Konflikt im Kaukasus, der vor dem Geiseldrama in Moskau fast in Vergessenheit geraten war. Zumindest im Ausland.

    Die 150 000 Flüchtlinge in den Zeltlagern in der Nachbarrepublik Inguschetien haben ihn keine Sekunde vergessen. Für sie beginnt der vierte Winter in den verschlissenen Notunterkünften. Tausende bitten derzeit den kasachischen Präsidenten Nasarbajew um Aufnahme, denn in Russland halten sie es angeblich nicht länger aus.

    Ich wurde in Kasachstan geboren, habe dort gelebt, ich würde überall hingehen nur um das hier nicht zu sehen. Lieber fahre ich nach Kasachstan als zurück nach Grosny, wo man uns nur tötet.

    Diese Bitte ist trotz Absage Nasarbajews ein Armutszeugnis für den Kreml, denn Kasachstan ist für Tschetschenen mit schmerzlichen Erinnerungen verbunden. 1944 hatte Stalin das ganze Volk dorthin deportieren lassen. Der Diktator hatte den Tschetschenen Kollaboration mit der Wehrmacht vorgeworfen, als die kurze Zeit den Nordkaukasus besetzt hatte.

    Statt endlich eine Lösung des Tschetschenienkonfliktes zu suchen, schwindelt Moskau die Flüchtlingszahlen in Inguschetien herunter und -im Gegensatz dazu - die Bevölkerungszahlen in Tschetschnien herauf und würde der Welt am liebsten weiter etwas von einem Normalisierungsprozeß in der Krisenregion vormachen.

    Der Versuch, Dänemark vor kurzem die Austragung der internationalen Tschetschenienkonferenz zu untersagen, war ein weiteres Beispiel für die Hilflosigkeit Moskaus, das Problem anzupacken. Dänemark blieb zwar standhaft, dafür knickte die Europäische Union ein und verlegte den EU-Russland-Gipfel kleinmütig von Kopenhagen nach Brüssel.

    Doch auch dort holten den russischen Präsidenten die kritischen Fragen ein. Wie wenig souverän der sonst so beherrschte und kühle Putin mit dem Thema Tschetschenien umging, zeigte seine Antwort auf die Frage eines französischen Journalisten. Der wollte wissen, warum die russische Armee Antipersonenminen einsetze und ob bei der Ausrottung des Terrorismus in Tschetschenien nicht das ganze tschetschenische Volk vernichtet werde. Wladimir Putin konterte:

    Die Extremisten formulieren für sich noch viel radikalere Ziele. Sie sprechen von einem weltumspannenden Gottesstaat. Sie reden davon, dass man Amerikaner und ihre Verbündeten umbringen muss. Und Sie stammen doch aus einem Land, das Verbündeter der USA ist. Damit sind sie in Gefahr. Sie sprechen davon, alle umzubringen, die keine Moslems sind. Wenn Sie Christ sind, befinden Sie sich in Gefahr. Wenn Sie sich jetzt entschließen, dass Sie Moslem werden wollen, wird auch das Sie nicht retten. Denn auch traditionelle Moslems betrachten sie als Feinde. Wenn sie aber ein islamischer Radikaler werden wollen und bereit sind, sich dafür beschneiden zu lassen, dann kann ich Sie nach Moskau einladen. Wir sind ein Land mit vielen Konfessionen, wir haben Spezialisten für diese Dinge und ich empfehlen ihnen eine Operation, die so durchgeführt wird, dass bei ihnen überhaupt nichts mehr wächst.

    Dass dieser verbale Ausfall kein Eklat wurde, lag wohl nur an der fehlenden Übersetzung ins Englische. Tage später machte in Brüssel der Vergleich mit Nikitia Chrutschow die Runde, der seinerzeit mit dem Stiefel auf das UNO-Rednerpult klopfte. In erschreckendem Maße erinnerte der Brüssler Auftritt an Putins Drohungen 1999. Damals noch Ministerpräsident hatte er den tschetschenische Separatisten prophezeit, sie selbst auf den Aborten zu verfolgen und dort kalt zu stellen. Iwan Rybkin, ehemaliger Sekretär des russischen Sicherheitsrates, bedauert, dass sich der Präsident derart hat hinreißen lassen von seinen Emotionen.

    Gefühle sind ein schlechter Ratgeber. Natürlich kann man mit Leuten reden, die angenehm in jeder Beziehung sind, aber das löst die Probleme nicht.

    Der Präsident bleibt hart. Ein zweites Chasawjurt wird es nicht geben, erklärte er beim Gespräch am Sonntag mit den ihm wohlgesonnenen Geistlichen, Vertretern des Ältestenrates und der tschetschenischen Diaspora. Und er fügte hinzu, der Kampf gegen den Terror ist ein Kampf für die Erhaltung der Russischen Föderation als Ganzes.

    Ziele, gegen die wohl sogar viele Tschetschenen nichts einzuwenden hätten, wenn denn endlich nach einem Weg gesucht werden würde, den Krieg zu beenden.

    Der Friedensschluss von Chasawjurt im August 1996 hatte von Anfang an tatsächlich einen entscheidenden Makel: Es fehlte die vollständige Entwaffnung der Separatisten. Auch die tschetschenische Verwaltung einschließlich der Sicherheitsorgane funktionierte nicht, allzu leicht konnte die Republik deshalb wieder in den Krieg zurückfallen.

    Wer jetzt die Entlassung Tschetscheniens aus der russischen Föderation als einfachste Lösung favorisiert, vergisst, dass dies allzu viele Nachahmer auf den Plan rufen könnte. Eine Republik nach der anderen würde dann womöglich den gleichen Wunsch äußern, was den Bestand des Riesenreichs in Gefahr brächte.

    All diese Warnungen sind begründet und berechtigt, doch leider sagt Präsident Putin nur, was er nicht möchte, mit wem er nicht reden möchte, statt zu erklären, wie er sich eine Lösung vorstellt. Magomed Abubakarow aus dem tschetschenischen Ältestenrat drückt die ganze derzeitige Hilflosigkeit aus.

    Wir brauchen Frieden. Die Menschen sind müde vom Krieg. Die Menschen wollen leben und sehnen sich nach Arbeit. Aber das geht nicht so einfach. Um das zu erreichen, brauchen wir grundlegende Veränderungen.

    Für den Beginn eines politischen Dialogs hatte die Begegnung nichts beizutragen, sie war Blendwerk, gedacht für den EU-Rußland-Gipfel am nächsten Tag in Brüssel. Entsprechend wenig hielt Grigori Jawlinski, der Vorsitzende der Oppositionspartei "Jabloko", von dieser Kremlrunde.

    Wenn ihnen unsere Soldaten nicht leid tun, geht es heute nur um eins: Beenden sie die Vernichtung der Zivilbevölkerung, fangen wir doch damit an. Beenden wir die Unrechtmäßigkeit, die sogenannten Säuberungen, sonst kommen wir keinen Schritt voran. Von einem Truppenabzug im direkten Sinne kann heute keine Rede sein. Aber es geht um den Beginn von Gesprächen und die sollte man mit denen führen, die Einfluss auf die haben, die solche Terroranschläge vorbereiten und das sind zum Teil die Feldkommandeure. Allerdings mit einer Ausnahme: Man darf keine Gespräche mit Leuten führen, denen man leicht nachweisen kann, dass sie Kriegsverbrecher sind. Die Menschen köpfen, die Menschen rauben, die Geiseln nehmen und ganze Theater besetzen, die eben Terroristen sind. Mit ihnen darf man nicht reden, sie muss man aburteilen.

    Iwan Rybkin, ehemaliger Sicherheitsratssekretär, plädiert dafür, sich mit Aslan Maschadow an den Verhandlungstisch zu setzen und auch dessen Vertreter Achmed Sakajew dazu einzuladen.

    Man verschwieg einfach die Tatsache, dass 1999, als der Überfall auf Dagestan geschah, Maschadow diesen am nächsten Tag verurteilt hat und um ein Treffen in Wladikawkas bat mit allen Leitern der Kaukasusrepubliken. Er wollte den Zusammenschluss der Kräfte, die am Frieden interessiert sind. Das einzige, worum er bat, war eine Garantie für seine Sicherheit, wenn er nach Wladikawkas fährt. Das Treffen kam nicht zustande, seinen Vorschlag hat man totgeschwiegen und danach begann man ihn zu beschuldigen. Am Ende geht es doch auch gar nicht um Maschadow, der kann morgen schon tot sein, ...na, dann eben Gott mit ihm! Man muss so oder so mit ihnen reden und es ist gut, dass es überhaupt noch ein paar Kontakte gibt. Es stünde einem echten Mann, einem Präsidenten, gut zu Gesicht, wenn er sich mit den Tschetschenen endlich an einen Tisch setzte und mit ihnen redete.



    Sowohl Maschadow, als auch Sakajew haben immerhin noch etwas Einfluß auf die gewalttätigen Separatisten in den Bergen, die nicht nur das Geiselnehmerkommando nach Moskau schickten, sondern auch verantwortlich sind für die tagtäglichen Sprengstoffanschläge in tschetschenischen Dörfern und Städten. Dass diese Banden die Waffen niederlegen, dazu können sie nur Männer überreden, auf die sie zumindest noch ein wenig hören.

    Doch wenn Maschadow oder Sakajew dies tun sollen, muss der Kreml sie als Verhandlungspartner in Friedensgesprächen akzeptieren, auch wenn ihm ihre Vergangenheit nicht paßt, sagen Kritiker wie Rybkin. Die nachrückenden Kämpfer seien Argumenten nicht mehr zugänglich, sie hätten außer Krieg, Geiselnahmen, Menschenhandel und brutalster Gewalt nichts anderes kennengelernt. Der Anführer des Moskauer Geiselkommandos Mowsar Barajew sei ein typisches Beispiel für diese Generation.

    Wenn jetzt die russische Armee oder der Geheimdienst alle älteren Anführer vernichteten, hätte man keinerlei Ansprechpartner mehr. Doch Russlands Präsident scheint unbelehrbar.

    Im September vorigen Jahres haben wir Maschadow vorgeschlagen, den Gesprächsprozess wiederaufzunehmen. Er willigte scheinbar ein und schickte seinen Vertreter nach Moskau, aber von weiteren Kontakten wollte er nichts wissen. Anstelle von Gespräche wählte er den Weg des Terrors und stand hinter diesem Abschaum, der am 23. Oktober Hunderte von Geiseln nahm. Und ich erkläre heute ganz offiziell: wer Maschadow wählt, wählt den Krieg.

    Die Teilnahme Maschadows an der Planung des Geiseldramas ist nicht bewiesen. Genausowenig wie die Sakajews. Erst als die dänischen Justizbehörden Beweise dafür haben wollten, um über dessen Auslieferung zu befinden, nahm die russische Staatsanwaltschaft diesen Vorwurf wieder zurück. Nicht nur Dänemark sieht sich urplötzlich in Russlands Tschetschenienproblem hineingezogen, auch die Türkei geriet unter politischen Druck, denn dort leben 25 000 Exil-Tschetschenen.

    Moskau fordert von der Regierung in Ankara, die politische Vereinigung mit dem Namen "Tschetschenisch-Kaukasische Solidarität" zu verbieten, die mit den tschetschenischen Terroristen sympathisiere und antirussische Stimmung verbreite.

    Von dem unbeholfenen Um-sich-Schlagen und den Drohgebärden Moskaus hält Anna Politkowskaja nichts. Die mit internationalen Preisen ausgezeichnete Korrespondentin fährt für ihre Zeitung "Nowaja Gaseta" immer wieder nach Tschetschnien. Bei vielen Lesern ist sie beliebt auf Grund ihrer unerschrockenen Berichterstattung, bei den russischen Militärs gerade dafür verhaßt.

    Anna Politkowskaja glaubt nicht an eine politische Lösung ohne internationale Hilfe. Europa solle sich endlich angesprochen fühlen und seine Verpflichtung erkennen. Aus eigener Kraft kann Russland ihrer Meinung nach mit dem Tschetschenien-Problem nicht fertig werden.

    Doch statt die konstruktiven Kräfte zu bündeln, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, möchte der Kreml am liebsten jedem Kritiker, ganz gleich, ob er wohl- oder übelwollend auftritt, das Wort verbieten. Die völlig auf Putin eingeschworene Duma verabschiedete am 1. November ein Mediengesetz, das die Berichterstattung über das ohnehin hermetisch abgeriegelte Kriegsgebiet praktisch unmöglich macht. Im Gesetzestext heißt es, dass über eingesetzte Mittel, Methoden und Kräfte bei Anti-Terror-Operationen nicht mehr berichtet werden darf. Da der Tschetschenienkrieg nach offizieller Lesart auch eine Antiterror-Operation ist, gilt das Gesetz somit auch für Berichte über den tschetschenischen Konfliktherd.

    Als dann abschließend der Föderationsrat das Gesetz vorgestern beriet, warnten junge Demonstranten die Abgesandten der russischen Regionen davor, den Fehler der Dumaabgeordneten zu wiederholen. Sie baten die Senatoren, das ihrer Meinung nach verhängnisvolle Gesetz abzuschmettern.

    Wir haben heute hier vor dem Föderationsrat alle Zeitungen mit Trauerflor ausgerollt. Denn heute ist einer der letzten Tage, an dem unsere Medien unabhängig und frei sind. Wir verlangen Pressefreiheit.

    Aber die Warnungen der Demonstranten verflogen im eiskalten Novemberwind, der Föderationsrat winkte das neue Mediengesetz fast einstimmig durch und wurde seinem Ruf als Abnick-Instanz einmal mehr gerecht. Für Sergej Juschenkow ist das neue Gesetz nichts anderes als die Einführung der Zensur und die Rückkehr zu Zeiten, in denen die Presse lediglich Instrument der Partei war, willfähriges Organ der Machthabenden.

    Wir verbieten damit die Kritik ganz allgemein. Das Ergebnis ist, dass wir die Journalisten einteilen, in solche, die ein Gewissen haben und die notwendigen Informationen sammeln und verbreiten und die dann letztlich mit Terroristen gleichgesetzt werden. Und solche Journalisten, die nicht ihrem Gewissen verpflichtet sind, sondern sich vielmehr nur als Sprachrohr der Regierung verstehen. Denen geben wir auch noch grünes Licht.

    Wie ernst es der Regierung mit dem neuen Gesetz ist, bekam die Zeitung "Versija" zu spüren. Genau an dem Tag, als ihre Ausgabe über die Umstände des Moskauer Geiseldramas in Druck gehen sollte, wurde die Redaktion von Mitarbeitern des Inlandsgeheimdienstes FSB durchsucht. "Versija" hat bereits Erfahrungen mit derartigen Besuchern gesammelt, nämlich als sie vor zwei Jahren unbequeme Einzelheiten über die Bergung des gesunkenen U-Bootes "Kursk" veröffentlichten. Für Chefredakteur Rustam Arifdschadow ist die Botschaft eindeutig.

    Das hat nicht nur etwas mit unserer Zeitung zu tun, das ist eine klare Demonstration, die sagen soll: Seht her, die Zeiten haben sich geändert, verhaltet euch ruhig.

    Gedroht wird nun auch den ausländischen Korrespondenten in Russland. Der russische Botschafter in Deutschland hat sich in dieser Woche bei ARD-Chef Pleitgen in scharfer Form über die Berichterstattung deutscher Medien während des Moskauer Geiseldramas beschwert. Davon, wie die weitere Berichterstattung ausfällt, werde abhängen, ob die Zusammenarbeit mit der ARD und deren Korrespondenten vor Ort in gewohntem Maße fortgesetzt werden kann, heißt es mit drohendem Unterton in dem Schreiben.

    Ob der AKW-GAU in Tschernobyl, die U-Boot-Katastrophe oder das Geiseldrama - immer wenn Russland schwere Prüfungen zu überstehen hat, fallen die Verantwortlichen in die gleichen Verhaltensmuster zurück: Vertuschen, Lügen, Schweigen, Maulkörbe verpassen.

    Die Duma verbietet sich in vorauseilendem Gehorsam gleich selbst die Fragen. Die Volksvertreter schmetterten beide Anträge, eine Parlamentarische Untersuchungskommission zu schaffen, ab. Den ersten Antrag hatte für die liberale Partei SPS deren stellvertretender Fraktionsvorsitzender Boris Nadeschdin gestellt:

    Der Sturm selbst ist glänzend durchgeführt worden, professionell und heldenhaft. Die Fragen betreffen etwas anderes, nämlich erstens: Wie konnte es möglich sein, dass Dutzende bis an die Zähne bewaffnete Terroristen mit hunderten Kilogramm von Sprengstoff in das Zentrum der Hauptstadt unserer Heimat gelangen konnten? Und Frage Nummer zwei: Waren die Maßnahmen zur Rettung der Menschen nach dem Sturm adäquat. Dazu gehört die erste medizinische Hilfe, der Transport. Dabei geht es nicht darum, die Untersuchungen der Sicherheitsorgane zu ersetzen, natürlich sollen sich die Staatsanwaltschaft und die Polizei mit den Ermittlungen befassen. Es geht darum, dass diejenigen hochrangigen Funktionäre, die die Informationen sammeln, offen und öffentlich erklären, was genau vor sich gegangen ist, denn die Menschen sollen die Wahrheit erfahren.

    Die Oppositionspartei "Jabloko" fand weder den Sturm noch das, was ihm folgte, glänzend. Deshalb wollte sie wissen, ob die Erstürmung des Theaters wirklich nötig war, ob alle Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden. Die Mehrheit der Abgeordneten jedoch interessierte diese Fragen nicht. Sie hat überhaupt keine Fragen. Obwohl bis heute nicht klar ist, wie viel Geiseln an den Folgen des Gaseinsatzes gestorben sind und ob ihr Tod durch eine sachgerechtere medizinische Erstversorgung hätte vermieden werden können. Es kümmert sie auch nicht die Befürchtung, dass womöglich mehr als die bislang 128 erfassten Personen ums Leben gekommen sind.

    Noch ernstere Auswirkungen als das neue Medienrecht hat möglicherweise das Gesetz über den Umgang mit den Leichen von Terroristen, das Duma und Föderationsrat ebenfalls bestätigt haben. Dieses Gesetz trifft bewusst gerade muslimische Familien ins Mark. Denn es will ähnlich wie zu Stalins Zeiten verbieten, dass die Leichen getöteter Terroristen an die Angehörigen zurückgegeben werden, damit diese sie bestatten können. Der Vertreter des Präsidenten in der Duma, Alexander Katenkow hält diese Neuregelung dennoch für absolut gerechtfertigt.

    Keiner beklagt, dass es unmenschlich ist, wenn die von Gericht zum Tode Verurteilten und Erschossenen nicht würdig bestattet werden. Warum sollte ein Terrorist, der im Verlauf eines Terroraktes getötet wurde und wahrscheinlich noch schlimmeres verbrochen hat als der zum Tode verurteilte, warum sollte der Privilegien genießen? Warum ist das eine unmenschlich und das andere nicht?

    Mit diesem Gesetz sollen tschetschenischen Familien gleich mehrfach bestraft werden: erstens für die Taten ihrer gewalttätig gewordenen Angehörigen und zweitens, indem man die Familie hindert, ihre wichtigste traditionelle Pflicht zu erfüllen, nämlich die Toten heimzuholen.

    Dass damit nur neuer Hass geschürt und die Spirale der Gewalt weiter angeheizt wird, nimmt die Mehrheit der Abgeordneten in Kauf und gibt damit zudem der ohnehin um sich greifenden antitschetschenischen Stimmung nach. Erste Gerüchte sind im Umlauf, wonach Firmen ihre tschetschenischen Mitarbeiter entlassen, 30 Prozent der Moskauer sollen Umfragen zufolge dafür sein, alle Tschetschenen aus der Hauptstadt auszuweisen.

    Alsambeck Aslachanow, Dumaabgeordneter für Tschetschenien, wird Angst und Bange bei Sprüchen, die er keineswegs nur auf der Straße hört, sondern auch von seinen eigenen Abgeordnetenkollegen im Parlament.

    Die Tschetschenen müssen sich darüber im Klaren sein, dass die Geduld der Moskauer nicht grenzenlos ist’, sagte Kulik von der Vaterlandspartei. Wenn sogar ein Abgeordneter schon so spricht, dann kann uns schon morgen alles um die Ohren fliegen. Wir sind ein multinationaler Staat. Wofür haben wir Russen unter unserem Dach so viele Nationalitäten versammelt, wenn wir noch nicht einmal das normale Leben gewährleisten können, das einfach Recht, auf dieser Erde zu leben, die uns von Gott geschenkt wurde und die uns jetzt weggenommen werden soll. Plötzlich fangen wir an, uns gegenseitig zu drohen.

    Von einer klugen Politik ist Moskau heute weit entfernt. Sowohl innen- als auch außenpolitisch wird die Keule geschwungen, obwohl Augenmaß und Weisheit dringender denn je nötig wären. Wenn Europa es ernst meint mit Russland, sollte es sich einmischen in den Tschetschenienkonflikt - mit Hilfsangeboten und mit Kritik. Konstruktiv, aber unmissverständlich und deutlich.