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Der Kauz von Paris

Er ist genial und schrill zugleich, schrullig und weltmännisch, und er ist von geradezu verschwenderischem musikalischem Einfallsreichtum: Jacques Offenbach. In Paris, der Hauptstadt Europas im 19. Jahrhundert, gibt der vor 190 Jahren geborene Sohn eines jüdischen Kantors aus Deutz am Rhein den Ton an. Vom Vater als Cello-Lehrling an die Seine geschickt, macht er nach entbehrungsreichen Jahren im Kaiserreich Napoleons III. Karriere als Komponist und Theaterdirektor.

Von Peter Mayer | 20.06.2009
    Wo Spektakel und Spekulation, Amüsement und Anarchie regieren, sind die Operetten und Bouffonnerien des "Mozarts der Champs-Élysées" wie eine Lebensversicherung gegen die Langeweile. Jacques Offenbach, das Genie mit Vogelgesicht und entwaffnender Süffisanz in den Mundwinkeln, begeisterte die Pariser genauso wie das internationale Publikum, das zu den großen Weltausstellungen angereist war. "Orpheus in der Unterwelt", "Die schöne Helena", "Pariser Leben", "Die Großherzogin von Gerolstein" und "Hoffmanns Erzählungen", letztes Werk vor seinem Tod im Jahr 1880 - die Stücke Jacques Offenbachs gelten heute wieder als Meisterwerke der musikalischen Gesellschaftssatire, dargeboten in mitreißenden Rhythmen und begeisternd theatralischem Nonsens. Ergänzend zu dieser Zeitgeist-Revue präsentiert in dieser Langen Nacht der Dichter Heinrich Heine Briefe und Kultur-Kritiken aus Paris, wo er viele Jahre im Exil gelebt hat. Es sind bravouröse Sottisen auf Stars und Stümper, Könner und Scharlatane.




    Auszug aus dem Manuskript:

    Jakob Offenbach, im Juni 1819 geboren, wird als Vierzehnjähriger durch Vater Isaac vom Rhein nach Paris verpflanzt. Der Junge soll dort sein Cellospiel verbessern, Bruder Julius seine Fähigkeiten auf der Violine. Am Pariser Konservatorium natürlich, dessen Direktor Luigi Cherubini ist. Nur hat die Sache einen Haken: Die Hochschule verweigert Ausländern die Aufnahme, was einige Jahre zuvor schon einmal der zwölfjährige Franz Liszt zu spüren bekam. Doch da kennt man Vater Isaac schlecht. Er lässt nicht locker, beschwatzt Maestro Cherubini so eindringlich, dass der Sohn vorspielen darf - und der Bann ist gebrochen.

    Aus Jakob wird alsbald Jacques. Der Junge haust mit dem Bruder in einer Mansarde der Rue des Martyrs, die zum Montmartre hinaufführt. Kinder in der großen Stadt, die im Synagogen-Chor mitsingen und dafür etwas zum Leben bekommen. Wie das so ist, zum Einkaufen für die WG wird der Jüngste geschickt, was dessen Eitelkeit sehr schmerzt - ein angehender Künstler kann doch nicht wie ein Hausknecht niedrige Gehilfen-Dienste verrichten und auf der Straße mit dem Gemüsekorb daherkommen. Doch Jacques weiß sich zu helfen. Er schnappt sich einen leeren Violinkasten und stopft den erstandenen Lauch, die Zwiebeln und die Kartoffeln hinein.

    Der Jüngling streicht einen kessen Bogen und hat vom Konservatorium alsbald genug. Es drängt ihn zum Theater. Und was er will, das schafft er auch. Sitzt im Orchestergraben der Opéra-Comique. Rasch kennt er die Partituren auswendig und hat immerfort den Schalk im Cello. Wie sehr hätte er bei langsamen Passagen lieber galoppiert und bei schnellen mit Vergnügen getrottelt. Immer dasselbe proben und spielen müssen, ist dem jungen Musiker fad. Da passiert es schon einmal, dass er von einem Cellopart die erste Note spielt und sein Pultpartner Hippolyte Seligmann die zweite, die dritte wieder Offenbach und so fort im Wechsel. Auch wenn der Scherz vom Orchesterleiter mit einer Geldstrafe geahndet wird und Einiges vom kargen Salär dabei draufgeht, so viel Spaß muss sein. Der Jüngling mit dem Eulenkneifer, dem allmählich sprießenden Backenbart und den früh schon schwindenden Stirnlocken braucht den Kitzel - ein Leben lang. Er ist, das zeigt sich schon bei seinen Streichen im Orchestergraben, eine Spielernatur, dem die Fantasie immerfort zu Höchstleistungen anstachelt.

    Mutig und forsch ist Jacques Offenbach auch. Das zeigt eine Begegnung mit Fromental Halévy. Der Komponist, dessen Großvater aus dem fränkischen Fürth stammt, feiert mit seinem Werk "Die Jüdin" sensationelle Erfolge an der Pariser Großen Oper. Offenbach lauert ihm eines Abends auf, um von dem Komponisten dreist eine Freikarte zu erbetteln. Halévy nimmt ihn mit in eine Loge.

    Offenbach ist wie geblendet vom Rauschgoldmilieu der Oper, von der mondänen Selbstdarstellung des Publikums, vor allem vom Getue der Herren des damals neu gegründeten Jockey-Clubs, die eine eigene Loge haben und im Foyer an schnuckeligen Ballett-Ratten ihre Verführungskünste proben.

    Direktor der Oper ist Louis Désiré Véron, "Docteur Véron", wie er allerorten heißt, Scharlatan und Genuss-Sachverständiger auf höchstem Niveau. Ein Vermögen hat er mit einer Brustsalbe gemacht und Meinung macht er mit der von ihm gegründeten "Revue de Paris". Die Oper ist für ihn eine Goldgrube, Profit steigernde gute Kritiken entstehen durch großzügig erkauften Enthusiasmus der Kritiker. Und das Corps de Ballet ist für Docteur Véron wie ein Harem. Einmal, beim Souper für seine besten Freunde, lässt er vom kraftstrotzenden Hausmeister auf silbernem Tablett niedliche Tänzerinnen hereintragen, verziert mit allerlei frischem Grün.

    Jacques Offenbach bei Wikipedia:
    jacques-offenbach.de





    Jacques Offenbach
    von Hawig, Peter;
    Facetten zu Leben und Werk. Beiträge zur Offenbach-Forschung Bd.2
    1999 Dohr
    2000 ISBN 3-925366-57-1
    2001 ISBN 978-3-925366-57-4 | KNV-Titelnr.: 08708638

    Jacques Offenbach und die Schauplätze seines Musiktheaters
    Herausgeber: Franke, Rainer . Thurnauer Schriften zum Musiktheater Bd.17
    1999 Laaber-Verlag
    ISBN 3-89007-411-1
    ISBN 978-3-89007-411-5 | KNV-Titelnr.: 20353585




    Bd.8 Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit
    Herausgeber: Mülder-Bach, Inka; Belke, Ingrid . Hrsg. v. Ingrid Belke u. a. .
    2005 Suhrkamp
    ISBN 3-518-58348-4
    ISBN 978-3-518-58348-7 | KNV-Titelnr.: 14109310
    In seinem Opus magnum Theorie des Films faßt Kracauer seine über vier Jahrzehnte geführte Auseinandersetzung mit dem Medium in Gestalt einer "materialen Ästhetik" zusammen.

    Neben dem für diese Ausgabe durchgesehenen Text der Theorie des Films macht der Band erstmals den legendären "Marseiller Entwurf" zugänglich: den umfangreichen Aufriss einer Filmtheorie, den Kracauer in einer Situation der äußersten Bedrohung 1940/41 in Marseille notierte. Ergänzend werden Skizzen und Vorfassungen aus der Entstehungszeit der Theorie des Films veröffentlicht, die die umstrittene und oft missverstandene Realismusthese der Studie in ein neues Licht rücken.

    In der Gesellschaftsbiografie Jacques Offenbach, die erstmals 1937 in Amsterdam erschien, hat Kracauer nicht nur den bewegenden Aufstieg des Komponisten erzählt; er berichtet gleichzeitig vom Durchbruch der Moderne unter Louis Philippe (1830 - 1848) und porträtiert vor allem die Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs (1852 - 1870), die Weltstadt Paris, die mit ihren Salons, Cafés, Theatern und Boulevards, ihren Zeitungen, technischen Erfindungen und dem Aufstieg des Finanzkapitals der großen Operette erst zum Durchbruch verhilft, während diese durch Spott und Parodie dazu beiträgt, das Regime zu sprengen. Diese Neuausgabe, die auch weitere, die Darstellung ergänzende Dokumente enthält, wurde mit Annotationen und einem kommentierten Personenregister versehen.

    Weitere Buchtipps in der
    Offenbach-Biographik



    Auszug aus dem Manuskript:

    Im Mai 1879 gibt Jacques Offenbach in seiner Wohnung auf dem Boulevard des Capucines, an den er mittlerweile gezogen ist, für ein großes Publikum ein Hauskonzert. Er spielt dabei Bruchstücke seiner bisherigen Arbeit an "Hoffmanns Erzählungen" vor. Der Direktor der Opéra-Comique, Léon Carvalho, beißt an. Jacques Offenbach, den nahen Tod ahnend, gerät in panische Ungeduld. "Beeilen Sie sich, mein Stück herauszubringen", schreibt er dem Operndirektor, "ich habe es eilig und hege nur den einzigen Wunsch, die Premiere zu sehen." Anfang Oktober ist das Werk in der Klavierbegleitung fertig, keine Note fehlt. Im Kreis seiner Familie sitzend blättert er darin, als ihn ein Erstickungsanfall packt, dem er in der Nacht des 5. Oktober erliegt.

    Die Totenfeier zwei Tage später gerät zur wahren Offenbachiade. Kränze um Kränze werden über den Boulevard des Capucines zur Kirche Madeleine getragen. Sie stammen von den Pariser Theatern, aus Wien, aus Brüssel, London und Köln. Der Trauerzug folgt. Doch in der Kirche haben sich wie eine Barriere Scharen englischer Touristen in Erwartung der Leichenfeier für einen berühmten Mann aufgebaut. Da ist kein Durchkommen. Ludovic Halévy und all die anderen Freunde können die lebende Mauer nicht durchdringen und erleben nur von ferne, wie zu Ehren des Toten "La Chanson de Fortunio" erklingt, das Offenbach schon 1861 für einen Einakter gleichen Titels komponiert hat. Mit diesem Lied hat ein zum Spießer mutierter Schürzenjäger einst die Frauen verführt.

    Nach dem Gottesdienst in der Madeleine-Kirche schleppt sich der Leichenzug auf Umwegen zum Montmartre-Friedhof, vorbei an den Theatern, in denen Jacques Offenbach seine Triumphe gefeiert und so manches Fiasko erlitten hat. Es regnet, gar bald lichten sich die Reihen. Hinter der Familie geht stumm eine traurige Frau: Hortense Schneider.

    Viel Zeit bleibt nicht mehr bis zur Premiere von "Hoffmanns Erzählungen". Der Komponist Ernest Guiraud übernimmt auf Wunsch der Familie des Verstorbenen die Instrumentierung des Werkes und verzichtet großmütig darauf, dass ein eigenes Opus vorgezogen wird. Bei der Generalprobe kommen Befürchtungen auf, "Hoffmanns Erzählungen" seien viel zu lang. Kurzerhand wird der gesamte Giulietta-Akt gestrichen. Was aber dann mit der venezianischen Barkarole gleich zu Beginn dieses 4. Aktes? Der Antonia-Akt wird von München nach Venedig verlegt. Dort passte das Gondellied der Schmachtenden wieder.

    Beziehungsvoll in einer Kneipe unter dem Opernhaus spielt der erste Akt. Der Dichter Hoffmann hockt im Wortsinn "im Keller", während droben Mozarts "Don Giovanni" erklingt. Star des Abends ist Hoffmanns Ex-Geliebte Stella, die er noch immer liebt. Und wenn zum Liebeselend auch noch eine Schaffenskrise kommt, da kriechen gar bald die Geister des Bieres, des Weines und des Rum aus den Fässern. "Glou! Glou! Glou" glucksen sie teuflisch im Chor. Da hat es auch die "Muse" schwer mit dem Dichter, die in die Gestalt von Hoffmanns Freund Niklaus schlüpft, um ihm nahe zu sein. Doch wie soll sie Hoffmann zu poetischer Glanzleistung begleiten, wenn er so tief im Sumpf der Emotionen steckt? Er singt das Lied von Klein-Zack, die Groteske von dem Zwerg, dessen Beine klackern, der Wacholder und Arrack säuft (wegen des Reimes) und sich flic-flac überschlägt. Mitten im Couplet auf den missgebildeten Narren erscheint dem Poeten ein märchenhaftes Wesen, unerreichbar schön - "Kleinzach?" fragt er selbstverloren. "Je parle d'elle", "Ich rede von ihr." Da treffen in einer winzigen Szene der maliziöse Gesellschaftskritiker und der sentimentale Paradiessucher Jacques Offenbach aufeinander, liegen sich gleichsam Stampfpolka und Wiegenlied in den Armen, Posse und Elegie.

    Der Dichter Hoffmann schwärmt von der wunderschönen Olympia, die in Wahrheit einen Automatenkörper hat, schwärmt von der siechen Sängerin Antonia und der Kurtisane Giulietta. Drei Frauen, drei für den Dichter unglückliche Geschichten, Akt zwei, drei und vier. Und im fünften wird die Rahmenhandlung vom Anfang wieder aufgenommen. Mozarts "Don Giovanni" geht oben im Theater zu Ende, Stella tritt in die Kaschemme im Keller, ein galanter Spießer namens Lindorf erobert die gefeierte Sängerin. Dann wird die Stimmung sakral, für Augenblicke der Wirklichkeit entrückt. Die Muse spricht, "la fidèle amie", die treue Freundin, versteckt in der unscheinbaren Gestalt des Niklaus. Die Muse erklärt Hoffmann ihre Liebe. Wie in Ekstase erwidert der Dichter diese Leidenschaft. Für eine solche Flutwelle der Gefühle hat Offenbach noch einmal alle Einpeitscher der Tonkunst aufgeboten. Ein affektiver Höhepunkt - und schon ist alles vorbei. Die Muse zieht sich zurück. Es fällt der Vorhang, Hoffmann ins Delirium, und der Chor gibt sich schmetternd den Befehl, bis zum Morgen weiter zu saufen.

    Die Premiere ist ein großes gesellschaftliches Ereignis. Offenbachs Witwe Herminie bleibt daheim. Aber Boten berichten ihr vom jeweiligen Stand der Emotionen: Starkes Echo bei der Legende von Klein-Zack meldet der erste Emissär. Triumphal wird Mademoiselle Isaac als Olympia gefeiert. Als sie als überdrehte Puppe davontrippelt, erzwingt das Publikum begeistert eine Wiederholung. Da liegt der gefeierte Jacques Offenbach, Sohn eines jüdischen Kantors aus Deutz, Komponist von über 130 Bühnenwerken, der bejubelte "Mozart der Champs-Elysées" bereits vier Monate unter der Erde.