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Der Keim des Verderbens

Dr. Kay Scarpetta ist hart im Nehmen. Als leitende Gerichtsmedizinerin des amerikanischen Bundesstaates Virginia ist der Anblick von Mordopfern für sie Alltagsgeschäft: "Niemand sollte sich das hier jemals anschauen müssen", erklärt eine Kollegin, als ein Angehöriger die Flucht ergreift, um nicht die Leiche seines toten Sohnes identifizieren zu müssen. Das ist Kay Scarpettas Welt. Abends, wenn sie im Bett versucht, die Bilder des Tages zu vergessen, sieht sie kopflose Körper vor sich, oder noch weniger: das, was ein unbekannter Mörder von seinen Opfern übriggelassen hat.

Jutta Rosbach |
    Mit diesem starken Tobak beginnt der neue Roman von Patricia Cornwell: "Der Keim des Verderbens". Zum achten Mal muß Kay Scarpetta ausziehen, um das Böse zu bekämpfen. Assistiert, wie stets, von dem getreuen Polizisten Captain Marino und ihrem Geliebten, dem FBI-Kollegen Benton Wesley. Außerdem ist Kays Nichte Lucy wieder mit von der Partie, eine geniale FBI-Computerspezialistin. "Der Keim des Verderbens" ist ein irritierendes Buch. Nicht wegen der abscheulichen Verbrechen, mit denen sich die Gerichtsmedizinerin abgeben muß, sondern weil sie selbst, die noble Kay Scarpetta, emotional ziemlich ausgeblutet wirkt.

    Auf einer Müllhalde wird eine übel zugerichtete Tote gefunden. Kay Scarpetta reagiert wie immer, hundertprozentig professionell: Mit endloser Hingabe untersucht sie die Leiche, "eine Müllhalde mikroskopisch kleiner Abfälle", und stellt fest, daß die Tote noch bekleidet und noch am Leben war, als der Mörder mit der Zerstückelung begann.

    Und als wäre das nicht genug, beginnt ein Unbekannter, ihr E-Mails mit Fotos dieser Leiche zu schicken. Die Botschaften aus der Mordwerkstatt sind gekennzeichnet mit dem Kürzel "Deadoc". Ein Wortspiel aus den Worten "tot" und "Doktor". Scarpettas Nerven liegen blank. Aber nur, wenn sie jemand an ihren Geliebten Benton Wesley erinnert. Endlich ist er geschieden. Aber Scarpetta wird verrückt bei zuviel menschlicher Nähe. Gegen Sex mit Wesley hat sie nichts, darin seien sie schon immer gut gewesen, erklärt sie als Ich-Erzählerin etwas zu unterkühlt und fast stereotyp. Man kennt diesen Satz aus früheren Scarpetta-Romanen. Aber nach einem Heiratsantrag von Wesley hat sie die Flucht vor ihm ergriffen, deckt sich mit Arbeit zu. In Wahrheit kommt sie nicht über den Tod ihres früheren Geliebten Mark hinweg. Der war vor mehr als 10 Jahren als Agent in England von einer IRA-Bombe zerfetzt worden. Und unbegrabene Tote sind zählebig.

    "Doc", schimpft Scarpettas Polizeikollege Marino, "das Problem ist, daß Sie es hassen, sich zu amüsieren." Zuneigung zu anderen Menschen zeigt sich bei Kay Scarpetta vorrangig darin, daß sie sich um sie Sorgen macht. Dafür ist einer wie der ketterauchende und verfressene Marino ein dankbares Objekt. Kein Tag vergeht, ohne daß sich die Ärztin entnervt fragt, wann dieser wandelnde Risikofaktor endlich mit dem Abnehmen anfängt. Sie dagegen: eine Vorzeigefigur was gesundheitliche Korrektheit angeht. Es ist wohl kaum ein Zufall, daß Lucy, ihre Nichte und Ziehtochter, dieser Ausbund an körperlicher und analytischer Fitness, schon fast eine Kunstfigur ist. Sinnlichkeit zeigt sich in diesem Roman nur, wenn Dr. Scarpetta geschickt kleine Feinschmeckergerichte zubereitet.

    "Deine Hände sehen aus wie die einer Pianistin, nur kräftiger. Als wäre das, was du machst, Kunst", sagt Benton Wesley einmal zu Scarpetta. Eine Artistin des Todes. In penibelster Kleinarbeit sucht Scarpetta durch Gewebsanalysen und Computerarbeit kleinste Hinweise auf die Geschichte der Toten. Der moderne Kriminalroman braucht keine Muskelmänner, sondern eher Spezialisten wie den Computerkollegen Vander, der die Totenfotos mit dem Scanner vergrößert, bis er die Papillarlinien der Hände identifizieren kann. Männer wie dieser manchmal zerstreut wirkende Wissenschaftler, notiert Cornwell lakonisch, hatten "Tausende ins Zuchthaus und Dutzende auf den elektrischen Stuhl gebracht".

    Ermittler der traditionellen Machosorte fallen dagegen negativ auf. Investigator Percy Ring lanciert ungesicherte Details an die Presse, setzt auf schnelle Erfolge und sperrt dabei auch gern mal den Falschen ein. In Scarpettas Welt gibt es noch Wingo, den sensiblen HIV-infizierten Assistenten, der sich fortwährend in Tränen auflöst. Grund dazu hat er weiß Gott genug: Die zerstückelte weibliche Leiche war über und über mit unbekannten Pusteln bedeckt. Erst als Wingo und andere Menschen erkranken, stellt sich heraus, daß die Tote mit Pocken infiziert war. Dem unheimlichen Mörder mit dem E-Mail-Namen "Deadoc" geht es nicht um Mord, sondern um Massenmord. Er will eine Pockenseuche neu ausbrechen lassen. Scarpetta, an vorderster Front im Einsatz, droht, selbst an Pocken zu erkranken und wird auf eine Quarantänestation gebracht. Hier, wo die äußere Isolation die innere Einsamkeit spiegelt, wird das Eis auf ihrer Seele langsam brüchig.

    Der Keim des Verderbens, das ist die Botschaft dieses Romans, entsteht in der Psyche. Ziemlich unvermittelt taucht die Lösung auf: Hinter "Deadoc" verbirgt sich eine Kollegin, eine Wissenschaftlerin im Abseits.Und Kay Scarpetta gelingt auf der letzten Seite des Romans eine holzschnittartige Vergangenheitsbewältigung. Trotzdem hat Patricia Cornwell einen komplexen, hervorragend recherchierten Plot geschaffen. Gegen die Waffen einer Kay Scarpetta wirken herkömmliche Fernseh-Kommissare tapsig. Aber kalt ist es in dieser Welt, wo nur Menschen ohne Fehl und Tadel bestehen. Vielleicht wirken sie deshalb so amputiert.