Sonntag, 19. Mai 2024


Der Kessel ist geschlossen

19. August 1942. Der Oberbefehlshaber der 6. deutschen Armee, General Paulus, gibt den Befehl zum Angriff auf Stalingrad. Nach drei Monaten heftigster Kämpfe ist die Stadt an der Wolga jedoch noch immer nicht vollständig genommen. Im Gegenteil: eine sowjetische Gegenoffensive führt am 22. November zur Einschließung der 6. Armee, gefangen in einem Kessel zwischen Wolga und Don. Ist den deutschen Soldaten ihre Lage bewusst?

Von Dietrich Möller | 18.11.2002
    Meine teure Magdalena! Wenn ich diesen Brief schreibe, ist es ein Versuch, wohl ein letzter, mit der "Außenwelt" Verbindung zu bekommen. Wir sind umzingelt. Die Tage, die hinter uns liegen, waren grauenvoll. Eine Beschreibung zu geben, ist mir nicht möglich.

    Der Sanitätssoldat Paul Gerhardt Möller am 24. November an seine Frau. Am 29. November schreibt der Rittmeister Heino Graf Vitzthum nach Hause:

    Die letzte Woche war wohl die kritischste, die die meisten von uns in diesem Kriege erlebt haben – aber wir haben sie überstanden, ohne den Russen allzu viel Raum überlassen zu müssen, und das war weiß Gott bei den Gewaltanstrengungen, die er machte und noch macht, wir Ihr aus dem Wehrmachtsbericht wisst, nicht einfach. Das Schwerste scheint überwunden, wenn auch die nächste zeit noch von jedem alles verlangen wird. Wir werden seine nicht übel ausgedachten Pläne vereiteln und hoffentlich in Bälde den Spieß umdrehen können.

    Der Stabsarzt Dr. Jürgen Franzius, ebenfalls am 29. November:

    Der Russe hat seine Chance ausgenutzt und versucht, uns den Hals abzudrehen. Du erinnerst Dich sicher an die im vorigen Winter eingeschlossen gewesene Division Scheerer. Und jetzt versucht der Russe das mit einem 15 mal so großen Haufen zu machen, da hat er sich aber geirrt.

    Verblendung? Selbstbetrug? Oder das Bestreben, die Sorgen der Angehörigen zu mildern? Dr. Jürgen Franzius wird später als vermisst gemeldet. Wie der Obergefreite Karl Bühler, der am 5. Dezember schreibt:

    Seit meinem letzten Brief hat sich hier so viel ereignet, dass ich Euch gar nicht alles zu schildern in der Lage bin. Zu Eurer Orientierung möchte ich Euch daher gleich sagen, dass wir uns in einem großen "Schloss" befinden, zu dessen Eingang wir den Schlüssel verloren haben. Und es heißt für uns eben ausharren und kämpfen, bis der Schlüssel zum Schloss gefunden ist.

    Wir waren in einer peinlichen Lage, eingeschlossen im Kessel von Stalingrad. Mit einer Ju 52 kann ich die Briefe mitgeben, damit Du wenigstens wieder weißt, dass ich noch am Leben bin. Vorerst können wir noch nicht regelmäßig schreiben, weil die Verbindungen noch unterbrochen sind. Sei deshalb ohne Sorge, es geht mir soweit noch gut.

    Auch der Obergefreite Erwin Guhl, der dies am 5. Dezember an seine Frau Friedel schreibt, bleibt vermisst – vermisst wie der Panzergrenadier Werner Ansel. Sein Brief an die Eltern trägt das Datum 6. Dezember:

    Vielleicht habt Ihr ja gehört, dass Stalingrad eingeschlossen ist. Wir liegen ja in Stalingrad, und zwar in einer Fabrik. Da kam keine Post durch. Wir mussten uns mit allem einschränken. Sogar das Essen ist sehr knapp. Wir haben eine Verteidigungslinie bezogen. ... Ich habe einen schönen Bart, ich kenne mich bald selbst nicht mehr. Haben uns schon drei Wochen nicht gewaschen .....

    .... Das ist ja im Augenblick alles so unwichtig, dass man kaum dazu kommt, überhaupt darüber nachzudenken.

    schreibt der Tierarzt Dr. Franz Schmitt am 12. Dezember.

    Wir warten geduldig auf die Dinge, die da kommen, und wehren uns unserer Haut, so gut wir können. Hitler hat uns ja Hilfe versprochen, und die wird eines Tages auch kommen. Vielleicht soll das Ganze zu einer großen Vernichtungsschlacht werden, ich weiß nur nicht, wie man das bei den schwierigen Witterungsverhältnissen machen will, denn offensichtlich wird es doch noch viel kälter werden, als es schon ist.

    Ähnlich vage Hoffnungen finden sich auch in einem Brief von Albert Erban an seine Mutter am 15. Dezember:

    Nun sitzen wir zwischen Don und Wolga, westlich Stalingrad-Süd, und verteidigen uns gegen die von Tag zu Tag schwächer werdenden Angriffe der Russen. Sie hatten große Verluste. Trotzdem sitzen wir noch vollkommen von außen abgeschnitten im Kessel. Alles, was wir brauchen, wird mit dem Flugzeug gebracht. Auch Post, aber leider keine Päckchen. Ich selbst schätze, dass wir Ende Januar aus dem Schlamassel heraus sind. Starke deutsche Kräfte sind zu unserer Befreiung schon im Kampf mit dem Russen von außen her. Da aber der Russe vollkommen vernichtet werden soll, wird die ganze Aktion etwas länger dauern.

    Am 17. Dezember sieht Franz Schmitt, der Tierarzt, seine fünf Tage zuvor geäußerte Hoffnung bestätigt:

    Seit heute hören wir vom Südwesten her starkes Artilleriefeuer. Es scheint so, als ob die Truppen, die uns hier heraushauen sollen, im Ansturm sind. Na, das wird eine Freude werden, wenn es vor Weihnachten noch gelingt. Wann kann ich Dir wohl endlich schreiben, dass hier alles gut geworden ist und Du damit rechnen kannst, mich bald wieder bei Dir zu sehen?

    Dr. Franz Schmitt ist am 28. Januar 1943 in Stalingrad gefallen.

    In kurzer Zeit werden wir schon wieder herausgepaukt. An die eingeschlossenen Truppen hat der Führer einen Tagesbefehl herausgegeben, der mit den Worten schließt: Haltet aus, der Führer haut Euch raus.

    Es gibt diesen Tagesbefehl nicht, von dem der Kanonier Max Breuer am 17. Dezember nach Hause schreibt. Breuer stirbt in der Gefangenschaft. Hitler verbietet auch jeden Ausbruchsversuch der 6. Armee. Am ersten Weihnachtsfeiertag schreibt der Obergefreite Erwin Guhl:

    Lange kann und darf es nicht mehr dauern. Jeder hat die Hoffnung, dass wir es bald schaffen. Wollen doch auch die Heimat wiedersehen und unsere Lieben.

    Erwin Guhl sieht die Heimat nicht wieder. Auch er bleibt vermisst.